NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

03 September 2024

Bode: Von Rübeland nach Treseburg

Das hier war meine allererste Bode-Tour, die eher aus der Notwendigkeit heraus entstand: Ich hatte einen festen Termin für eine besondere Erfahrung gebucht, und ich brauchte mein Fahrrad, um rechtzeitig dort anzukommen. Die Busverbindungen waren, im Gegensatz zum Bodewasser, nicht so berauschend. Nach weniger als fünf Kilometern fühlte ich mich, als hätte ich schon meine komplette Kraft verbraucht, und ich war noch nicht mal ansatzweise da. Die Uhr tickte, der Termin nahte. Hm. Nicht optimal.

Mein Ziel befand sich noch auf dem Gebiet der Gemeinde Rübeland, aber hoch über der Ortschaft an der Hauptstraße. Die verschwindet auf einmal in einem Tunnel - und gibt dann die Aussicht frei auf den besten oder schlimmsten Platz im Harz, je nach Nervenstärke.

"Die Rappbodetalsperre ist ein Großbau des Sozialismus", behauptet eine graue (Stal)Inschrift am Tunnel. Von wegen! Die Rappbodetalsperre ist längst ein Großbau des Kapitalismus, genau genommen der Harzdrenalin GmbH. Und das macht die Staumauer möglicherweise zur spannendsten in Europa.

Aber der Reihe nach. Was für Seen gibt es hier?
Der obere, große See ist der Rappbodestausee und verzweigt sich wie ein Fjord nach hinten hin weit ins Gebirge hinein. Allem Adrenalin an der Staumauer zum Trotz finden sich da hinten wahrscheinlich auch total ruhige Wanderwege.
Der untere Stausee (im Bild) wird auch Talsperre Wendefurth genannt und staut die Gesamtbode, in der alle bisherigen Boden (inklusive Rappbode) drin sind. Zwei derart große Stauseen direkt hintereinander hat nicht mal die Saale!
Außerdem versteckt sich noch hinter einem Deich aus grotesk grellgrünem Gras ein Pumpspeicherwerk. Seine Röhren führen ebenfalls runter in die Talsperre Wendefurth, in die letzten Endes einfach alles Wasser rein muss.

Man kann auch durchaus um den oberen Stausee wandern. Nur wenige Meter vom Harzdrenalin entfernt wird es vollkommen ruhig und un-adrenalinig. Anscheinend sind nur wenige Besucher in der Lage oder willens, sich mehr als 200 Meter vom Parkplatz zu entfernen. Der Rappbodestausee ist zwar noch ein Stück entfernt, aber die Felswände am anderen Ufer waren zu erkennen. Er hat so viele Ausläufer, dass es aussah, als gäbe es regelmäßig Kreuzungen aus vier Wasserstraßen. Um den kompletten See zu wandern, muss Ewigkeiten dauern.

Wie auch immer: Ich lief zum Parkplatz rüber, zeigte die Reservierung vor und checkte ein. Die Harzdrenalin GmbH bietet hier folgende Möglichkeiten, sein Geld auszugeben. Im Folgenden werden sie sortiert nach Adrenalinlevel von Uiuiui! bis AAAAARHH!

1. Die neue Aussichtsplattform auf dem Ultrashot-Turm (dazu später mehr) mit durchsichtigem Gitterboden. Hier ist auch das Reverse Graffiti (durch Schmutz wegkratzen) auf der Staumauer am besten zu erkennen. Es zeigt riesige Schmetterlinge. Ganz links im Bild vereinigen sich Rappbode und Bode im unteren Stausee.

2. Ein Simulator-Film über die Talsperre, bei dem einen Professor Fallwasser aus Versehen auf Wassertropfengröße schrumpft und dann in einer Drohne durch die Tierwelt der Talsperre fliegen lässt. Nur hier sieht man auch von innen eine Röhre und eine Turbine. Ein 5D-Kino ist das aber nicht, auch wenn das draußen dransteht: Es gibt keine 3D-Brillen, und zischende Luft nur am Anfang im Vorraum, wo man "geschrumpft" wird. Die Simulation entsteht nur durch Bildschirme auf drei Seiten und einen Boden, der sich sehr eifrig bewegt. Die Kurven kann er sehr gut simulieren, den kompletten Überschlag habe ich ihm nicht abgekauft.

3. Der Titan RT (was auch immer das RT bedeuten soll) ist eine Hängebrücke aus Stahl, die von sehr, sehr viel (aber definitiv nicht zu wenig) Stahlseil gehalten wird. Die Brücke verläuft über dem unteren Stausee und neben der Mauer des Rappbodestausees, eine überaus eindrucksvolle Kombi. Der Titan schwankt leicht und durch den Gitterboden konnte ich direkt nach unten gucken. Das gab mir schon ein mulmiges Gefühl, aber im Vergleich zum Folgenden ist die Brücke noch vollkommen harmlos.


4. Die Megazipline ist so eine Art Seilbahn, bei der man an einem Stahlseil hängt, wie man sie aus Kletterparks kennt - aber viel länger, höher und mit mehr Sicherheitsvorkehrungen. Sie startet noch höher als höchste Staumauer von einem Stahlturm. Beim Besteigen des Turms musste ich ein komplexes Ritual an Ausrüstung und Sicherheitsanweisungen durchlaufen und meine eigene Rolle und alles mit hochschleppen. So kann man die Wartezeit natürlich auch rumkriegen.
Das Ding ist zwar richtig hoch und schnell, aber zumindest fällt man da nicht wirklich, sondern saust vorwärts, und spürt die ganze Zeit, wie man am sicheren Seil hängt. Deshalb erlauben sich die Mitarbeiter auch viele Späße (was okay ist) und verspotten Angsthasen, die umkehren wollen (was eher fragwürdig ist). Mich haben sie beim Einklinken darauf hingewiesen, ich solle meine Schuhe neu besohlen lassen. Wie können sie nur stundenlang auf der sehr, sehr schrägen Startplattform am Abgrund arbeiten? Dabei muss man ja selbst schräg werden.
Dann machte es klick, und ich flog rasend schnell über den Harz. Der Fahrtwind war so stark, dass ich meinen eigenen Schrei nicht hören konnte. Und dann war es auch schon vorb... ha, von wegen, ich zischte immer noch über dem unteren Stausee dahin, und das Ende war kaum zu erkennen. Endlich mal eine Adrenalin-Attraktion, bei der ich den Blick und das Gefühl ausgiebig genießen konnte.
Meinem Nebenmann vom anderen Stahlseil dauerte es trotzdem nicht lang genug. "Gleich noch mal!", rief der Vierzigjährige aus.

5. Der Ultrashot ist ein Menschenkatapult im Inneren des Aussichtsturms, das die Betreiber selbst erfunden haben. Man wird an einer Rückenplatte festgeschnallt, die an Seilen hängt, die an senkrechten Schienen befestigt sind. Ich hatte mir das wie umgekehrtes Bungeejumping vorgestellt, also dass die Seile so elastisch sind, dass man oben noch über den Turm hinausfliegt. Ganz so war es dann nicht, es ist quasi einfach ein sehr schneller Aufzug oder wie einer dieser Freefalltower aus Freizeitparks, aber halt für nur zwei Personen. Oben bleibt man entweder stehen, um die Aussicht zu bewundern, oder es geht sofort wieder runter, dann fühlte es sich wirklich nach freiem Fall an. Beide Varianten haben ihren Reiz, und beide bekommt man mehrmals geboten.

6. Das Wallrunning ist noch einen Zacken schärfer, und deshalb war die Mitarbeiterin den Angsthasen (zu denen ich diesmal eindeutig zählte) gegenüber auch viel einfühlsamer. Selbst, wenn ich den Gurt vor lauter Nervosität falschrum anzog und ihr auf die Hand trat. Ich war vermutlich auch nicht der einfachste Kunde.
An der Staumauer der Rappbode ist Wallrunning anscheinend nicht möglich, deshalb fand es unten an der kleineren Staumauer von Wendefurth statt. Die ist immerhin noch 43 Meter hoch, und diese 43 Meter "läuft" man runter. Das Fiese daran sind die ersten zwei Minuten. Da stieß die Dame mit unheilverkündendem Quietschen eine Tür im Zaun auf. Ich musste mich da hinstellen, gaanz langsam über die Mauer beugen und Senkrecht und Waagerecht aktiv vertauschen. Als ich es endlich durch diese Pforte des Grauens geschafft hatte, konnte ich das Seil im Rücken spüren und ab da wurde es richtig cool. Mein Körper begriff, dass er nicht fiel, und akzeptierte das neue Waagerecht überraschend schnell.
Ein richtiges "Running" ist das eigentlich nicht. Vorwärts kommt man, indem man das Seil durch die Hände gleiten lässt, und was man dabei mit den Füßen macht, ist lediglich eine Stilfrage. Im besten Fall ist das ein Wallaustronautenwalking oder Wallrutsching (letzteres bei mir), im schlimmsten Fall ein Wallstrampling und Walltrippling (bei einem meiner Vorgänger), bei dem man nur selten Kontakt zur Mauer herstellen kann. Darüber hinaus veranstalten die Mitarbeiter durch Rufen eine Art Antimationsprogramm, zu dem auf Wunsch ein kurzes Wallfalling und im unteren Bereich Walljumping gehören. Ein bisschen albern, aber es ist echt ein einzigartiges Gefühl, auf dieser grauen Riesenmauer rumzuhampeln.
Nachtrag: Inzwischen wurde das Wallrunning auf eine Wand des neuen Ultrashot-Turms verlegt, und zwar auf die Seite, die der Aussicht abgewandt ist. Das finde ich schade, ich kann mir nicht vorstellen, dass diese olle Metallplatte mit dem Raumgefühl einer echten Staumauer mithalten kann. Entsprechend herrschte bei dieser Attraktion auch ziemliche Leere.

7. Der Gigaswing ist so was Ähnliches wie ein Bungeesprung von der Titan-Hängebrücke, bloß dass man dann am Seil unten hin- und herpendelt, und zwar nicht kopfüber. Das habe ich (jedenfalls hier) nicht gemacht, aber für furchtsame Menschen dürfte schon das Zusehen aus sicherer Entfernung das Risiko eines Herzstillstands messbar steigern.

Das Harzdrenalin ist klasse für alle Bekloppten, die so was mögen (wie ich festgestellt habe, bin ich da bei Weitem nicht der einzige, sehr beruhigend). Wenn Leute aber sagen, solche Anlagen würden die Berge verschandeln, lässt sich das schlecht von der Hand weisen. Immerhin haben sie inzwischen die Kieswege besser in die Landschaft eingepasst, dafür bauen sie schon wieder irgendwas Neues.


Der schmale, verwinkelte Wanderweg von einer Staumauer zur anderen ist für Radler nicht geeignet. Für den Rückweg musste ich die Hauptstraße wieder steil runter, was einerseits toll war, aber andererseits nicht, denn es hieß, ich würde den ganzen Mist irgendwann nochmal hochächzen. Mir blieb keine andere Wahl, als neben endlosen Autokolonnen noch mal ganz bis zum Boden und zur Bode runterzufahren.

Zum Glück hatte ich die Route online sorgfältig erkundet und wechselte rechtzeitig das Ufer, bevor die Straße auf der anderen Seite das Tal verließ. Deshalb durfte ich eine ganze Weile direkt an der Bode radeln, die wieder etwas wilder und steiniger schäumte. Ich sauste durch herrlich grünen Waldschatten und unter einer rostigen Bahnbrücke und irgendwelchen alten Röhren durch, die so gar nicht in die Landschaft passten.

Am Ende dieses grünen Zwischentals gab es sogar wieder eine Ortschaft, richtig mit Häusern und so.  Das malerisch abgewrackte Schloss am anderen Ufer wird offenbar als Hotel genutzt.
Inzwischen hatte mein Körper eine Betriebstemperatur von etwa 50 Grad Celsius erreicht, was der Gesundheit vielleicht nicht direkt förderlich ist. Ohne auf irritierte Blicke zu achten, zog ich mein Shirt aus, lief über einen steinernen Steg und schmiss mich in die Bode. Naja, genauer gesagt legte ich mich vorsichtig rein. Bei so vielen spitzen Steinen wäre Reinschmeißen der Gesundheit vermutlich auch nicht förderlich. Neben einem Hund war ich der einzige, der im flachen Fluss baden ging.

So hatte ich genug Kraft getankt, um den nächsten Anstieg... zu bewältigen? Joa, das schon. Ihn zu bewältigen, ohne abzusteigen? Definitiv nicht. Ihn würdevoll zu bewältigen? Der war gut.

Das hübsche Treseburg wird nach vorne hin immer schnöder, und das eigentliche Zentrum bildet eine graue Kreuzung mit Bushaltestelle. Denn hier startet man traditionell zur Wanderung durch das Herzstück des Bodetals.

Ich allerdings nicht, denn auch hier ist mit dem Rad kein Durchkommen. Ich hatte es ja schon prophezeiht: Während sich die Wanderer unten im Bodekessel nasspritzen ließen, keuchte und schwitzte ich eine atemberaubende (wortwörtlich, nicht wegen der Aussicht) Straße rauf. Eine Rennradlerin überholte mich mit einem deutlich teureren Rad. Naja, ich wollte ja eh gerade anhalten - selbstverständlich nur um eine Trinkpause zu machen, nicht um zu schieben, ähm, jedenfalls nicht bis sie außer Sichtweite ist. Ein Haufen Motorräder donnerte vorbei, betäubte meine Ohren und meine Nase.

Zum Glück wurde die Straße irgendwann beinahe waagerecht. Auch die Landschaft gab sich wieder richtig Mühe und präsentierte am Straßenrand als natürliche Leitplanke eine Felswand, von der Schlingpflanzen wie ein Wasserfall runterfielen. Ein Gang führte hinein. Neugierig stellte ich das Rad ab.


Nach fünf Minuten Tunnelbücken und Treppensteigen erreichte ich einen Aussichtspunkt. Das Bodetal schlängelte sich in einer engen Schlinge um den Berg, auf dem ich stand - egal, wohin ich sah, die Bode war da unten am Boden, versteckt von dichten Wäldern. Der Ausblick erinnerte mich sehr an den Fluss Tarn. Wer hätte gedacht, dass Sachsen-Anhalt so sehr nach Südfrankreich aussehen kann?

Aber nein, von hier oben ist doch viel zu wenig zu erkennen. Ich sollte es den Harzwanderern gleichtun und dort irgendwann mal reinwandern.

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