12 April 2017

Von Rust nach Kehl

Unsere Bikeline-Karten sind in dieser Gegend nicht ganz aktuell. Die wollten uns auf eine Bundesstraße führen, aber inzwischen gibt es neue, gute Radwege - erst neben der Straße, dann durch Felder. Zum Glück haben wir das von unserem Gastgebern und den Schildern erfahren.

Eine wenig vertrauenerweckende Holzbrücke führt über den kleinen Fluss Elz und zurück zum Rhein. Daneben lag ein ebensowenig vertrauenerweckendes Boot, mit dem wir keine Paddeltour unternommen haben. Diese flachen Holzkähne gibt es in dieser Region sehr häufig.

Unser mit vier Jahren jüngster Mitreisender sitzt hinten im Anhänger. Gelegentlich möchte er aber auch mal auf seinem Kinderrad fahren. Deswegen lassen wir ihn auf ruhigen, harmlosen Strecken raus. Dann dauert es meist etwas länger, denn er genießt die Reise besonders intensiv und gibt Kommentare wie "Mama, ich hab gerade eine Ameise getroffen!" oder "Ich muss mal kurz die Pusteblume da auspusten." von sich. Außerdem wirkt er traurig, wenn die anderen deutlich schneller an ihm vorbeizischen.
Am Flussufer steht ein Myriadenstein, der die Entfernung nach Rotterdam und zum Bodensee in Myriaden (10-Kilometer-Einheiten) angibt. Die Dinger wurden bei der ersten Rheinvermessung im 19. Jahrhundert aufgestellt. Heute sind nur wenige erhalten.

Der Fluss wird wieder etwas weniger geradlinig und hat ein paar kleine Inselchen. Diese Landschaften nennen sich Schollen. Der Rhein passiert unter anderem die Thomasschollen oder das Reserve Naturelle de l'Ile-du-Rohrschollen. Auf der deutschen Seite liegt ein Städtchen namens Altenheim. Von all dem haben wir allerdings nicht viel gesehen.
Weil ein Kieswerk den Radweg am deutschen Ufer blockierte, sind wir nämlich auf die französische Seite gewechselt. Dazu mussten wir über diverse nervige Wehre, Straßen und Kreisverkehre...

...bis zu einer Ortschaft namens Krafft.

Aber wir wurden belohnt - mit einem schnurgeraden Radweg am Rhone-Rhein-Kanal. Er führt durch eine Art Park mit Alleen, Mini-Schleusen und einer idyllischen Wiese für die Mittagspause am Campingkocher.

Links und rechts tauchen langsam Gebäude auf. Und so gelangt man nach 40 Kilometern rasend schnell ins Zentrum von Strasbourg, Seite an Seite mit blitzschnellen  Sportpaddlern, langsamen Schiffen voller Kies, vielen Bäumen und einer Schnellstraße.

Viele der folgenden Bilder sind etwas älter und stammen von einem früheren Besuch.
Strasbourg (eingedeutscht Straßburg) ist sehr alt und sehr fahrradfreundlich.
Durch die Stadt fließt die Ill, ein verrückter Fluss, der sich in weiten Bögen durch das Elsass schlängelt und erst ein ganzes Stück weiter nördlich in den Rhein mündet. So ähnlich muss der Rhein früher auch gewesen sein, bevor er begradigt wurde.

Es gibt sehr viele Radwege, oft sind sogar zwei Fahrspuren in beide Richtungen farblich gekennzeichnet. Manchmal verläuft der Weg in der Mitte der Straße - man kommt sich fast vor wie der wichtigste Verkehrsteilnehmer.

Auf meiner ersten Fahrt durch Strasbourg lernte ich folgenden Witz: Das Elsass ist wie eine Toilette - immer besetzt. Das hat natürlich einen ernsten Hintergrund, denn das Elsass alias Alsace hat zusammen mit Lothringen superoft die Noationalität gewechselt. Der Rhein ist zwar eine naheliegende natürliche Grenze, aber die Vogesen weiter im Westen eben auch.
Die Staaten Deutschland und Frankreich sind ja beide aus dem Frankenreich von Karl dem Großen entstanden. Als Karls Nachkommen das Reich aufteilten, war die Einigung eigentlich, dass Elsass-Lothringen zum Ostfränkischen Reich, dem späteren Deutschland kommt. Das eigentliche Elend ging dann mehr oder weniger 1552 mit dem Vertrag von Chambord los. Damals erhob sich in Deutschland ein Haufen protestantischer Fürsten gegen den katholischen Kaiser. Obwohl der französische König da so rein religionsmäßig eigentlich null auf Seite der Aufständischen war, wollten die Fürsten ihn auf ihre Seite ziehen, indem sie ihm die wichtigsten Städte im Elsass versprachen - was eigentlich nur der Kaiser gedurft hätte. Als der Fürstenaufstand mit einem Kompromiss endete, hatte der deutsche Kaiser darum so gar keine Lust, einen Vertrag zu erfüllen, den er nie unterschrieben hatte. Aber Frankreich bestand darauf und eroberte nach und nach, was ihm laut Vertrag zustand. Von da an waren beide Nationen überzeugt, das Land gehöre zu ihnen, und die Bewohner wollten bestimmt auch alle zurück in ihr wahres Heimatland - was natürlich nicht hieß, dass sie darüber abstimmen durften oder so. ("Kein Plebiszit! Man wählt seine Mutter nicht!" war zum Beispiel eine französische Losung.) Doch in Wahrheit ist das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Land überhaupt nichts Ewiges, sondern kann sich in wenigen Generationen stark verschieben. Und so sah die bittere Realität eher so aus: Immer, wenn sich die Elsässer gerade eingewöhnt und sich halbwegs als Teil des aktuellen Staates fühlten, kam die nächste blutige Rückeroberung - und die neuen Machthaber stellten ernüchtert fest, wie sehr sich ihre angeblichen Landsleute von ihrer angeblichen Heimat entfernt hatten.
Und was die Sprache angeht: Heute wird zum Teil ein Mischmasch aus Französisch und Deutsch gesprochen, den weder Deutsche noch Franzosen verstehen.
An diese Geschichte erinnert die Statue der Mutter Elsass, die ihre Kinder Deutschland und Frankreich im Arm hat und vermutlich sagt: "Kinners, streitet euch nicht!"

Aus der deutschen Besatzung im Bismarck-Kaiserreich stammt das wilhelminische Stadtviertel voller deutscher Architektur, und zwar besser erhalten als in Berlin. Sogar ein Nachbau des deutschen Reichstages ist dabei. In Reiseführern wird das Viertel aber oft verschwiegen, weil es ein wenig am Nationalstolz der Franzosen kratzt.

Im Rheinpalast werden Angelegenheiten zur Schifffahrt geregelt.

Deutlich bekannter ist dieses hippe, bei jungen Leuten beliebte Hafenviertel...

...und natürlich die mittelalterliche Fachwerk-Altstadt. Dort gibt es zum Beispiel den Verbrannten Platz, der durch einen Brand überhaupt erst entstanden ist. In der Mitte liegt eine riesige Nachbildung einer Kartoffel aus Blech - moderne Kunst. Hier war nämlich früher mal der Kartoffelmarkt.

Die ältesten Häuser Straßburgs sind sehr dunkle, knorrige Gebilde aus Holz, vorn im Bild ist das älteste zu sehen.
Und mitten in der Altstadt auf der Ill-Insel steht das gotische Münster, das aus irgendeinem Grund nur einen Turm hat - dadurch sieht es ziemlich asymmetrisch aus. Der Südturm wurde geplant, aber nie umgesetzt. Dafür war der Nordturm aber auch über 200 Jahre lang das höchste Bauwerk der Menschheit.

Als Frankreich das Elsass übernahm, gab es hier viel mehr Protestanten als im restlichen Frankreich (wenn auch immer noch in der Minderheit). Genug jedenfalls, dass Frankreich sich gezwungen sah, sie - anders als im restlichen Land - relativ ungestört Protestanten sein zu lassen. Aber das Münster mussten sie schon an die Katholiken abgeben.
In der französischen Revolution sollte das Münster abgerissen werden, weil es ein Symbol der abgehobenen Kleriker war. Die Strasbourger wollten ihre Kirche aber behalten und lösten das Problem diplomatisch, indem sie dem Turm eine riesige Revolutionsmütze aus Blech aufsetzten.
Als das Deutsche Kaiserreich wieder übernahm, waren die Protestanten tendenziell eher prodeutsch und Katholiken profranzösisch eingestellt. Das änderte sich, als Frankreich auf einmal beschloss, Kirche und Staat streng zu trennen - und die katholische Kirche überrascht feststellen musste, dass ihr das deutsche Recht nun viel mehr Vorteile bot, vom Eintreiben der Kirchensteuer bis zu Religionsunterricht in Schulen. Und zwar bis heute. Denn eine der rechtlichen Besonderheiten, die aus der deutschen Besatzung geblieben sind, ist, dass die Kirchen nur in diesem Teil Frankreichs einen ähnlichen Status haben wie in Deutschland. Außerdem gibt es extra Feiertage, und sogar der Mindestlohn ist wegen Bismarcks Sozialversicherungsgesetzen um ein paar Cent anders.
Rund um das Portal sind extrem viele biblische Figuren und Heilige versteckt. Man könnte Tage verbringen, all die winzigen steinernen Darstellungen zu identifizieren. Der Sandstein kommt aus den Vogesen.

Von innen ist die Kirche sehr beeindruckend! Es gibt ja Kirchen, die über und über mit lauter Ornamenten beladen sind, und eher schmucklose Kirchen, die durch ihre schlichte Größe und Erhabenheit beeindrucken. (Mit anderen Worten: katholische und evangelische Kirchen... zumindest ist das oft so.) Das Straßburger Münster ist von innen irgendwie beides gleichzeitig (und von außen der überladen verzierte Typ).
Zwar ist es drinnen eher dunkel, aber wenn die Sonne durch das große Rosettenfenster scheint, sieht das auch ganz toll aus. Hier drin stand der erste urkundlich belegte Weihnachtsbaum.

Da können die anderen Gotteshäuser leider nicht mithalten. Weder die Synagoge...

...noch diese orthodoxe Kirche aus Beton.

In diesem Park namens Orangerie werden Störche gezüchtet, die Wappentiere von Straßburg.

Die hiesigen Franzosen sind sehr nett, fragten sofort, ob wir Hilfe brauchten, als wir einmal kurz anhielten und auf die Karte schauten, und wenn einem im Eiscafe partout nicht einfällt, was "ohne Sahne" heißt, und man verzweifelt fragt: "Sprechen Sie deutsch?" - so antworten sie gnädig: "Ein bisschen." Da haben wir in Südfrankreich ganz andere Erfahrungen gemacht. Die Tatsache, dass die Elsässer die Deutschen gleich nebenan haben und häufig in Kontakt sind, wiegt ganz offensichtlich schwerer als die Geschichte der Region.
In Straßburger Restaurants gibt es Berge von Flammkuchen und Krüge voller Cola.

Verschiedene Medien haben ihren Sitz in Straßburg, auch Arte wurde hier gegründet.

Und nicht zuletzt hat Strasbourg ein Europaviertel, in dem drei Institutionen der EU platziert wurden. Da sich Straßburg quasi halb zwischen zwei Nationen befindet, passt das ja ganz gut. Erstens wäre da der Europarat, der aber nur so halb zur EU gehört. Dort sitzen Außenminister, Botschafter und Vertreter der Parlamente der Staaten.

Zweitens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Gebäude enthalten alle irgendwelche abgefahrenen architektonischen Metaphern. Der Gerichtshof hat zum Beispiel schräge Dächer, die Waagschalen darstellen sollen (also Rechtsprechung) und einen Wachtturm auf dem Dach (der symbolisiert, nein, nicht die Zeugen Jehovas, sondern, dass der Gerichtshof über die Menschenrechte wacht).

Drittens wäre da noch das Europaparlament, dessen Dach aussieht, als habe man es nicht zu Ende gebaut - denn auch Europa ist noch lange nicht fertig.
In Straßburg treffen sich alle Abgeordneten. Die Treffen der einzelnen Fraktionen dagegen finden in Brüssel statt. Das bedeutet jede Menge Fliegerei.

Falls man von einem der Abgeordneten eingeladen wird, kann man eine Führung durch das Parlament erhalten. Am Eingang lässt man eine Flughafenkontrolle über sich ergehen und gelangt in den Innenhof des Towers. Dort kann man einen Blick in die Bürofenster der Abgeordneten werfen.
Und noch eine Metapher, falls das irgendwer nicht erkannt haben sollte: Die schwarze Perle in der Mitte sind die Menschenrechte, die es zu schützen gilt. Auf sie fällt ein schwarzer Schatten, der in den Bodenfliesen dargestellt wurde und vom Straßburger Münster stammen soll, weil das Christentum die Menschenrechte beeinflusst (aber auch oft gebrochen) hat.

Nachdem man seine Jacken abgegeben hat, wird man vom Tower in den anderen Teil des Gebäudes geführt - dort befindet sich das Plenum.
Auch diese Pflanzen und der "Fluss" aus Schieferplatten symbolisieren irgendwas. Dass Europa ein Fluss ist, aus dem lange Kletterpflanzen wachsen, oder so.

In einem Nebenraum erhält man einen Einführungsvortrag, dann durchquert man den Pressebereich voller Kameras und kommt an einer Reihe von Schildern vorbei, die einem das Lärmen, Applaudieren und Fotografieren verbieten. Das Fotoverbot wurde aber oft übertreten (wie die zwei folgenden Beweisstücke zeigen).
Unterhalb der Zuschauertribüne kann man die Fenster erkennen, hinter denen die Simultanübersetzer sitzen und dafür sorgen, dass man sich durch die Kopfhörer in jeder beliebigen Sprache anhören kann, was der Redner da unten gerade redet.

Die Abgeordneten reden ein bis zwei Minuten und überziehen ihre Zeit meistens ein bisschen. Die Reihenfolge ist entsprechend der verbrauchten Redezeit der Abgeordneten genau festgelegt. Dadurch können sie leider nicht so gut interagieren.
Und so kann man zum Beispiel einer spannenden Debatte um den EU-Haushalt lauschen, die zusammengefasst etwa so aussieht:
Die Linken finden, der neue EU-Haushalt greift zu kurz, die Maßnahmen seien nicht langfristig genug, es gibt in Europa immer Probleme mit Jugendarbeitslosigkeit und Migration und entsprechend muss die EU auch mehr Geld in die Hand nehmen.
Die Mittleren finden, der Haushalt ist so okay und völlig in Ordnung.
Die Rechten finden, der Haushalt ist zu groß und aufgeblasen, dabei seien viele Maßnahmen unnötig oder widersprüchlich, Landwirte bräuchten gar keine Subvention, außerdem ist das ganze Geld Steuergeld, für das die Menschen hart arbeiten mussten und das man jetzt nicht einfach so verbraten darf, und überhaupt wird Europa, wenn es so weitergeht, sterben und durch islamische Staaten ersetzt werden, es lebe Frankreich!

 Durch ein mäßig idyllisches Rheinhafenviertel voller Kanäle...

...gelangten wir schließlich zum Garten der zwei Ufer, in dem deutsche und französische Kinder zusammen spielen. Die weiße Brücke der Freundschaft schwingt sich über den Rhein nach Deutschland. In der Mitte kann man auf Bänken rasten - genau auf der hart umkämpften Grenze, die einst so krass gesichert war, dass Deutschland in gleich zwei Weltkriegen lieber den Umweg über Belgien nahm. Diese Linie bildet nun das Herz der Europäischen Union und steht Menschen beider Seiten offen, und das ist eigentlich die beste Lösung für solch eine Konfliktlinie.

Bei all der friedlichen Idylle vergisst man fast all die Plakate zur anstehenden französischen Wahl, auf denen für den Frexit geworben wird. Selbst wenn eine Konfliktlinie noch so friedlich geworden ist - Rückfälle sind möglich, das hat Irland bewiesen.

Am anderen Ufer liegt Kehl, eine deutsche Stadt aus kleinen weißen Villen und großen rechteckigen Hotels. In einem davon haben wir übernachtet. Weist man einen Kehler darauf hin, dass Kehl im Vergleich zu Straßburg ja nun nicht soo bedeutend ist, erklärt er, dass a) der Hafen von Kehl früher ganz bedeutend war und Zölle bei allen vorbeikommenden Handelsschiffen kassiert hat und b) jetzt die erste internationale Straßenbahn von Kehl nach Straßburg über eine Rheinbrücke gebaut wird. Immerhin etwas.

Eingelullt in den lieblichen Lärm einer Baustelle verbrachten wir eine Nacht im Europahotel.
Im grenznahen Kehler Lidl kaufen nur Franzosen ein, entsprechend wird auch nur auf Französisch durchgesagt, wenn eine neue Kasse öffnet.

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