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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

01 Juni 2023

Berliner Mauer: Von Hennigsdorf nach Berlin-Mitte

Die Berliner Mixmauer

Länge: 40 km
Grenzquerungen: 24!!!
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: ein klein bisschen mehr Ost als West
Erkenntnis: Wer durch Berlin radelt, springt mit einem Affenzahn durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Chronologisch ist dabei ebenso ein Fremdwort wie sauber.

Wir schreiben das Jahr 1982. Seit Jahrzehnten sind beide Deutschlands unzufrieden mit dem Transit von Hamburg nach Westberlin, denn es gibt nur eine Bundesstraße. Fleißig bauen sie an einer Autobahn. Die im Prinzip auch schon fertig ist. Sogar ein ganz neuer Grenzübergang in Stolpe steht bereit. Aber auf den letzten Metern klagen und protestieren die Westberliner, weil für die neue Trasse ein Stück Tegeler Forst wegmüsste. Die Autofahrer werden auf den Umweg zum Grenzübergang Staaken geschickt, und die Grenzer in Stolpe können eine ruhige Kugel schieben. Nur Westberliner, die in Richtung Rostock eine Fähre nach Skandinavien ansteuern, kommen hin und wieder durch.
Irgendwann war der Streit dann gelöst und der Grenzübergang öffnete. Wenige Monate später hörte der Staat, den die Autobahn durchqueren sollte, auf zu existieren. Mit anderen Worten: Deutsche Bauvorhaben dauern manchmal länger als der Untergang eines Atommachtblocks, der die halbe Welt kontrolliert.
Doch die Autobahn überlebte ihren Staat und ist heute die zentrale Verbindung nach Rostock a.k.a den Hafen von Berlin. Für mich war sie in meiner Kindheit so etwas wie das Tor zur Hauptstadt, an dem ich staunend beobachtete, wie sich immer mehr Häuser aus dem endlosen Wald schälten. Wahnsinn, wie groß die Stadt ist! Aber wo genau geht sie denn los? Hat sie gar keine klare Grenze?

Auf dieser Tour habe ich festgestellt: Nein, hat sie wirklich nicht. Jedenfalls nicht im Norden. Mein kindlicher Eindruck war völlig richtig, hier oben ist die Stadtgrenze ein gut durchpürierter Mix aus Wäldern, Straßen, S-Bahn-Gleisen und Vororten. Hohen Neuendorf zum Beispiel hat alles davon. Es gehört noch zu Brandenburg, was sich nicht wirklich erkennen lässt - Berlin beginnt ausgerechnet da, wo der Wald losgeht.
Ein besonderer Stadtteil ist die Invalidensiedlung. Schattige Ziegelhäuser reihen sich im Grünen aneinander, bissl düster, aber trotzdem irgendwie freundlich, wozu die Blumenkästen nicht unerheblich beitragen. Das Ganze wurde für verwundete Offiziere des ersten Weltkriegs und ihre Familien gebaut.
Die Hohen Neuendorfer DDR-Bürger lebten, genau wie ihre Genossen an der Innerdeutschen Grenze (und anders als die an der Berliner Innenstadt-Grenze), in einer Sperrzone und hatten den Ärger, dass ihre Besucher einen Passierschein brauchten - und den kriegten meist bloß Verwandte 1. und 2. Grades. Bei allen anderen stellten die Hohen Neuendorfer eine Kaffeetafel an die Straße und verlagerten den Kaffeeklatsch an den Sperrzonenrand. Nur Kinder unter 14 durften sich scheinfrei bewegen.

Ausgerechnet diese verquirlte Grenze war vor gar nicht so langer Zeit die tödlichste der Welt. Alle ein bis zwei Kilometer stört eine rostrote Stele die Idylle und erklärt, wer an dieser Stelle nun wieder gestorben ist und wieso er überhaupt aus der DDR rauswollte, viel einheitlicher und vollständiger als an der Innerdeutschen Grenze. Die erfolgreichen Fluchten lassen sie allerdings weg.
Zusammen sind es mindestens 136 Tote. Allein rund um Hohen Neuendorf kamen vier davon ums Leben:
  • Willi Born, ein normaler Soldat (also kein Grenzsoldat) mit persönlichen Problemen, der nicht in seiner Kaserne auftauchte, zur Fahndung ausgeschrieben und erwischt wurde, woraufhin er sich erschoss
  • Joachim Mehr, der schon verletzt und hoffnungslos im Stacheldraht verfangen war und sich deswegen ergeben wollte. Das weiß man, weil er es kriechend mit seinem Gefährten Jürgen besprach und Leute auf der Westseite im Nebel sahen, wie Joachim den Soldaten ein Zeichen gab. Joachim starb, Jürgen überlebte. Er war übrigens vorher schon mal in den Westen geflohen und zurückgekehrt. (Und er war nicht mal der einzige Flüchtling, auf den das zutraf. Anscheinend flüchteten auch - aber nicht nur - viele Leute, die in beiden Systemen nicht gut zurechtkamen.)
  • Rolf-Dieter Kabelitz, der sich seinen konformen SED-Eltern nicht nur durch lange Haare widersetzte. Er hatte seine Flucht eigentlich schon aufgegeben und war umgekehrt, die Soldaten konnten seine Spur im Schnee jedoch leicht verfolgen. Sie schossen, obwohl er schon von Hunden menschlicher und tierischer Art eingekreist war. Rolf-Dieter litt 23 Tage lang im Todesqualen im Krankenhaus, von der Stasi bewacht und verhört, ohne seine Angehörigen zu sehen.
  • Und schließlich Marietta Jirkowsky, eine der wenigen Frauen, die sich über die Mauer wagten. Sie wurde ziemlich genau gleichzeitig mit der Berliner Mauer geboren und wird als freiheitsliebend bis ausgeflippt beschrieben, womit sie ungefähr so gut ins DDR-Regime passte wie Angela Merkel auf eine Techno-Party. Ihr Verlobter und ein Freund klauten sich Leitern und lehnten sie an die Mauer. Sie reichten aber nicht ganz bis nach oben, und für Marietta war der Rest zu hoch zum Klettern. Kein Wunder, dass größtenteils Männer flohen: Die hatten halt tatsächlich einen körperlichen Vorteil. Ihr Verlobter beugte sich vom Westen herüber, um sie raufzuziehen. In diesem Moment ging ein Scheinwerfer an, und 27 Schüsse fielen. So was kann einen schon mal erschrecken. Da kann man es ihm im Prinzip nicht vorwerfen, dass er sie losließ. Und trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, wie es sein muss, mit dieser Erinnerung zu leben.

Na gut, ich schreibe das jetzt aber nicht bei allen so genau auf, sonst werde ich verrückt, und eventuell auch jeder, der sich das alles durchliest.

Gleich zu Beginn entdeckte ich wiederhergestellte Grenzanlagen - zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass das eine der größten und genausten Anlagen an der Berliner Mauer ist. Sie gruppiert sich um den Turm Deutsche Waldjugend. In der Tat halfen Jugendliche mit, den Grenzturm zu bewahren und rundherum Biotope anzulegen. Angefangen haben mit dem Ganzen aber eine Brandenburger Lehrerin und ein Berliner Lehrer.
Auf diesem Grenzturm hockten im Oktober 1989 zwei Grenzsoldaten und hörten das verbotene Westradio. Darin kam irgendwas von wegen, die Mauer sei offen, aber das war ja Quatsch, schließlich sorgten sie selbst doch gerade dafür, dass sie geschlossen blieb. Ein paar Tage zuvor hatte es zwar Demos gegeben und sie hatten sich mit ihren Kollegen abgesprochen, dass sie nicht schießen würden, wenn die Demonstranten die Grenze durchbrechen würden (was Hochverrät wäre). Aber erst während der nächsten Tage begriffen sie, dass sich wirklich etwas passiert war. Ein Soldat erlaubte einem Bürger, sein Haus vom Grenzturm aus zu fotografieren. Zur Strafe wurde er nach Hennigsdorf versetzt, obwohl er da eigentlich nichts mehr zu tun hatte: Sein vorgesetzter Offizier hatte immer noch nicht richtig mitgeschnitten, was los war. Während der nächsten Wochen hatten die Soldaten immer noch latente Angst, ob ihnen nicht doch noch Strafe droht, weil sie jetzt alle durchließen. Eine chaotische Zeit.

Der Turm war geschlossen, und so richtig klar wurde mir durch die Schilder auch nicht, ob er manchmal geöffnet ist - nur dass jedes Jahr ein Sommerfest am Naturturm stattfindet. Dafür stehen rundherum ein paar alte Grenzanlagen. Grundsätzlich war die Berliner Mauer ähnlich aufgebaut wie die restliche Grenze, nur war durch den Platzmangel in der Stadt alles ein bisschen enger zusammengeschoben. Vor der letzten Mauer lagen noch drei Reihen Stacheldraht. Aber der größte Unterschied ist: Es gab keine Minen. Ausnahmslos alle Toten, von denen ich gelesen habe, wurden entweder erschossen oder sind ertrunken.
Zwischen Sperrgraben und Mauer, also direkt neben dem heutigen Radweg, liefen Hunde durch Hundelaufanlagen. Die Berliner Wachhunde waren aber nicht gerade Killerbestien, sondern harmlose Attrappen zur Abschreckung, die sich von den Soldaten gern streicheln ließen und um eine Stulle bettelten. An einem heißen Sommertag verschüttete ein Hund aus Versehen seinen Wassernapf und litt Qualen, bis es Nachschub gab - ein Opfer der Mauer, das ich bislang auch nicht auf dem Schirm hatte.
Ein KfZ-Sperrgraben mit Beton drin war an der Berliner Mauer eine Seltenheit, aus Platzgründen nahm man meistens Panzersperren oder zu Beginn einfach einen Stapel Betonplatten.

Ein anderes Ausstellungstück könnte vermutlich auch jedes Auto aufhalten, war aber für Fußgänger gedacht. Wer über die Hinterlandmauer kletterte und runtersprang, für den wurde es richtig übel: Der Stalinrasen durchbohrte seine Schuhe und alles darunter, außer er hatte Schuhe mit Stahlsohlen. Aber auch dann hatte man keine Chance, denn man konnte auf den 14 Zentimeter langen Dornen unmöglich balancieren und stürzte früher oder später, sodass alles andere außer den Stahlsohlen durchbohrt wurde. In der Berliner Innenstadt waren die spitzen Gitter vom Westen aus gut zu sehen, und Menschenrechtler kritisierten sie scharf. Woraufhin die DDR sie brav entfernte. Zumindest an den Stellen, wo man sie sehen konnte. Die Gitter des Grauens hießen offiziell Flächensperre und inoffiziell manchmal Spargelbeet. Was einerseits verharmlosend klingt, andererseits aber stimmt: Das Zeug ist selbst mit Sauce Hollandaise ungenießbar. Also genau wie echter Spargel.
Im Hintergrund ist eine Agentenschleuse zu sehen. Dieses Original stand ursprünglich im Lauenburger Land, also an der Innerdeutschen Grenze. Die Tür sieht etwas bequemer aus als die Katzenklappe für Agenten, die ich bei Bad Sooden-Allendorf im Zaun entdeckt habe. Wahrscheinlich gelangten hier nicht nur Agenten zum Spionieren in den Westen, sondern auch Grenzsoldaten zum Patrouillieren auf die letzten 3 bis 20 Meter DDR-Territorium. Sogar für die bravsten Soldaten war das kein angenehmer Job: Auf der einen Seite riefen die französischen Soldaten, man solle doch rüberlaufen, und im Rücken hört man ein leises Klicken, mit dem der Kollege schon mal seine Waffe entsichert - auf einmal kann jedes Stolpern tödlich enden. War sicher lieb gemeint von den Franzosen, aber keine gute Idee.

Ich bin noch eine Stückchen durch diesen Wald gekurvt, einmal um den Hubertussee und vorbei am Künstlerhof Frohnau (ein Gebäude, das als Lazarett, Flüchtlingsheim und Nervenklinik diente, wobei die Patienten andauernd ausbrachen). Weder von See noch vom Haus noch von flüchtigen Verrückten war etwas zu sehen.
Dann kam ich wieder auf einer Straße in Reinickendorf heraus. Hier verdecken nicht mehr grüne Wälder, sondern weiße Vorort-Villen die grausige Geschichte des Ortes: Ein betrunkener sowjetischer Soldat erschoss einen Polizisten, weil er westdeutsche Besucher vor seinen Belästigungen schützen wollte. Und Michael Büttner beschloss ausgerechnet ein paar Tage, bevor Kohl Honecker in allen Ehren in Bonn empfangen wollte, zu fliehen. Oje, das kriegen die Klassenfeinde bestimmt wieder in den falschen Hals! Panisch vertuschte die DDR den ganzen Vorfall, erzählte der Mutter, ihr Sohn sei erfolgreich geflohen, und startete zur Tarnung sogar ein Ermittlungsverfahren gegen den Mann, den sie längst eingeäschert hatte.
Zwischen Glienicke (DDR) und Frohnau (Westberlin) macht die Grenze dann einen kuriosen Knick: Den Entenschnabel. Ein schmaler Streifen voller Gärten ragt in den Westen rein. Hier passten die Grenztruppen besonders penibel auf; kein Kleingärtner durfte eine Leiter auf seinem Grundstück haben. Die Mächte verhandelten zwischendurch darüber, ob man die Grenze nicht durch einen Gebietstausch begradigen wollte. Aber der Westen gab sich stattdessen mit dem neuen Grenzübergang in Stolpe zufrieden und wollte den Entenschnabel nicht mehr.

Eine paar Straßen weiter flohen im Jahre 1963 ganze 13 Menschen in den Westen. Aber wie? Die verwirrten Grenzsoldaten ließen die Straße fortan noch besser beleuchten und richteten ihr Licht auch auf die Westseite. Erst 48 Jahre später entdeckte man einen Tunnel, durch den die ganze Familie inklusive Oma gekrochen war.

Nach diesem ersten Hauch von Stadtluft wird es wieder richtig natürlich: Weite Moorwiesen erstrecken sich bis zum Horizont, wo die Berliner Hochhäuser emporragen. Dieser Kontrast wäre ein tolles Fotomotiv, denke ich, falls ich besser fotografieren könnte. Ich versuche es trotzdem und werde prompt aufgescheucht, weil ein extrabreites Fahrzeug unbedingt vorbei will, um das Gras am Rande des Radwegs zu mähen. Naja, dafür ist das Bild ganz passabel geworden.
Diese Landschaft nennt sich Tegeler Fließtal, der dazugehörige Fluss dementsprechend Tegeler Fließ. (Man stelle sich vor, alle Flüsse wären so komisch benannt worden. Dann hieße der Rhein Kölner Fließ.) Doch in Berlin ist sogar die Natur nicht so natürlich, wie sie scheint: Als die Menschen eine Bahntrasse bauten, begradigten sie den Fluss. Als sie Torf abbauten, entstand der Köppchensee. Als die Mauer gebaut wurde, schüttete man ihn zu. Und als die Mauer fiel, renaturierten die unentschlossenen Menschen den eigentlich gar nicht so natürlichen See.
Die Grenzlinie verläuft mittendurch, in der Nähe vom Fluss.

Der Weg verläuft ein Stück weiter nördlich im Sand durch eine Art Heidelandschaft, damit die Natur im Moor in Ruhe vor sich hinmooren kann. Für den Berliner Mauerweg ist das ein relativ großer Abstand, an der Innerdeutschen Grenze hingegen würde man sagen: Och, ist ja quasi fast direkt neben der Grenzlinie.
Der Berliner Mauer-Radweg ist meistens asphaltiert und richtig gut zu radeln - vor allem, wenn man gerade erst den viel längeren Radweg an der innerdeutschen Grenze absolviert hat. Wer also ein bisschen Grenzgeschichte erfahren will, ohne sich auf ein langes, holpriges Abenteuer mit steilen Gipfeln einzulassen, dem kann ich eine Berliner Mauertour wirklich empfehlen (in der Innenstadt aber nur mit Einschränkungen). Er gehört offiziell zwar nicht zum europäischen Grenzradweg EuroVelo13, aber ohne ihn gäbe es seinen viel längeren Bruder vermutlich überhaupt nicht: Der Berliner Mauerweg war die erste Grenzroute, die nach der Wende von Michael Cramer gestartet wurde. Der Typ radelte sogar schon drumherum, als die Mauer noch stand - damals halt nur auf der Westseite auf dem sogenannten Zollweg. Kaum war die Mauer gefallen, holte er dieselbe Tour auf der Ostseite nach. Damals hatte er zum ersten Mal die Idee des Mauerwegs. Es dauerte aber noch 10 Jahre, bis der Politiker Mauerstreifzüge organisierte und den Berliner Senat damit von seiner Idee überzeugte - erst dann begannen die Politiker, die letzten Mauerreste zu schützen.

Diese idyllische Strecke ist umgeben von Pferdekoppeln, denn sie grenzt an Lübars, das letzte Dorf Berlins. Die Lübarser leben nicht mehr von klassischer Landwirtschaft, vielmehr dient das denkmalgeschützte Dorf quasi als großer Reiterhof für die zahlreichen Berliner Pferdemädchen. Mit Lübars hat sich sogar mal ein Teil von Berlin für den Wettbewerb Schönstes Dorf Deutschlands beworben. (Gewonnen haben sie allerdings nicht.) Trotzdem wollte ich mir das Berliner Dorf mal ansehen, leider verpasste ich die richtige Ausfahrt. Ein besonders engagierter Lübarser Bauer war Helmut Qualitz. 219 Tage nach dem Mauerfall war er sauer, weil sein Dorf immer noch keinen Grenzübergang hatte. Also schuf er einen, indem er einfach mit seinem Trecker volle Kanne durch die Mauer bretterte. Dieses Loch ging als Checkpoint Qualitz in die Geschichte ein.

Nun knickt der Weg nach Süden ab. Jetzt verlasse ich Brandenburg und fahre zwischen Ost- und Westberlin durch. Hier beginnt quasi die 40 Kilometer lange "richtige" Berliner Mauer, also im engeren Sinne. Kurz darauf stößt die Niederbarnimer Eisenbahn a.k.a. Heidekrautbahn zum Radweg. Dieses kleine kuriose Bahnunternehmen war 1934 einer der ersten Vorreiter, die von Dampf zu Diesel wechselten. Außerdem gab die Bahn Kleingärtnern 60 Prozent Rabatt und schaffte es mit einem Trick, der Verstaatlichung in der DDR zu entkommen: Verteile deine Eigentumsanteile einfach dermaßen kompliziert auf alle möglichen Gemeinden, Landkreise, Städte und Verkehrsbetriebe, dass die Kommunisten irgendwann entnervt aufgeben. Diese Bahntrasse hier wurde beim Mauerbau ohnehin gesperrt, soll aber 2024 nach langer Zeit wieder in Betrieb gehen. Dann müssen die Uckermärker nicht mehr in Oranienburg umsteigen oder den weiten Umweg zum Ostkreuz fahren.

So langsam wird es tatsächlich immer urbaner. Neben der Mauer tauchen die ersten Friedhöfe auf, die von der Mauer auf mysteriöse Weise angezogen werden.
Im Westen wurde nach dem Krieg das Märkische Viertel hochgezogen (rechts im Hintergrund). Viele Berliner bezeichneten den großen Wohnblock als Langer Jammer und schimpften über das monotone, hässliche Neubaugebiet. Doch es gab auch Leute, die nicht meckerten: Die Bewohner. Sie nannten es liebevoll ihr "Jebirje" (Gebirge), schwärmten von Dingen wie fließendem Wasser und waren einfach froh, dass sie nicht mehr in Slums und illegalen Laubenkolonien hausen mussten. Nachträglich kamen dann auch noch Infrakstruktur, Sozialarbeiter und Abenteuerspielplätze dazu, sodass hier bis heute mehr Leute ein- als ausziehen. Mit weißen Bettlaken und Plakaten ("Kommt doch rüber!") protestierten die Bewohner auf ihre Art gegen die Mauer.
Am Wegesrand hat der schottische Künstler George Wyllie ein Mauerstück und einen Metallvogel aufgestellt. Das Besondere am Berlin Bird ist: Dieses Grenzkunstwerk wurde schon vor der Wende aufgestellt, im Jahr 1988, als Berlin europäische Kulturhauptstadt wurde. Allerdings nur vorübergehend, und unter strenger Aufsicht der DDR-Volkspolizei (für den Fall, dass der Vogel über die Mauer zu flattern versucht).

Immer tiefer gleite ich nach Berlin rein, immer an den Gleisen entlang, vorbei an Industrieruinen und einem staubigen Mountainbike-Park. Ich bin zwar immer noch im Grünen, aber etwas hat sich verändert. Die Strecke wird allmählich, nun ja, ein klein wenig berlinerisch-abgeranzt. Nicht böse gemeint, aber so isses halt.

Auf den Querstraßen sehe ich zum ersten Mal Kopfsteinpflaster-Streifen, die den genauen Standort der Mauer markieren.
In einem Waldstreifen (schon wieder direkt neben einem Friedhof) verbirgt sich ein echtes Geheimnis: Die Urmauer. Das hier ist vermutlich das älteste Stück der Berliner Mauer. 1961 wurde die Mauer über Nacht hastig hochgezogen, um die eigenen Bürger den Klassenfeind zu überraschen. So schnell kann man natürlich keine einheitliche Betonmauer bauen, und deswegen bestand die erste Version aus einem wilden Mix aus Blocksteinen, Betonplatten und Stacheldraht, was halt so rumlag in den Ruinen des Krieges. Und in Schönholz war es halt eine einfache Ziegelmauer aus den Überresten eines Mietshauses. Als sich herausstellte, dass diese improvisierte Mauer nicht alle von der Flucht abhielt, wurde die Urmauer abgerissen und durch diese einheitlichen Betonteile mit der Wurst obendrauf ersetzt. Nur in Schönholz kamen die Soldaten an ihre Ziegelmauer nicht so gut ran, und bauten die Ersatzmauer daneben. Erst 2018 wurde die Urmauer wiederentdeckt. Ehrlich gesagt bin ich auch nicht sicher, ob das auf dem Foto wirklich die Urmauer ist, aber irgendwo da in diesem Wäldchen müsste sie angeblich sein.

Immer wieder sollte ich auf die andere Seite der Gleise wechseln und sah dabei alle möglichen Arten von Berliner Brücken und Grafitti. Der Radweg macht seltsame Zickzack-Manöver, bleibt aber in gutem Zustand. Außerdem überquerte ich die Panke, Berlins drittlängsten und schlimmsten Fluss. Die Gerbereien kippten da früher das Zeug rein, mit dem sie ihr Leder verarbeiteten - unter anderem 500 Eimer Hundekot pro Tag. Aus irgendeinem Grund wollte niemand darin baden. Das änderte sich erst, als Königin Charlotte ihr Schloss per Schiff erreichen wollte und der Fluss komplett umgebaut, geteilt und begradigt werden musste. Nach der Panke wurde natürlich auch ein gewisser Berliner Stadtteil (und sein berühmter Sonderzug) benannt. Darin wohnten bis 1973 die Spitzenpolitiker der DDR, sodass Pankow quasi auch zum Synonym für das Regime im Osten wurde.

Die wichtigste Brücke ist aber die Bösebrücke in der Bornholmer Straße. (Die Brücke ist nicht wirklich böse, sie wurde nur nach dem Nazi-Widerstandskämpfer Wilhelm Böse benannt, der ja nun gerade gegen das Böse kämpfte.) Hier wurde Weltgeschichte geschrieben.
Zunächst einmal handelt es sich um die erste genietete Stahlbrücke der Stadt, das ist ja auch schon eine Besonderheit.
1953 kam eine Straßenbahn der BVG-Ost angefahren, aber die Verkehrsmeister im Westen ließen sie nicht rüber, denn am Steuer saß eine Frau! Unerhört! Im Westen durften zu der Zeit nur Männer Straßenbahn fahren. Die DDR fand die Zurückweisung wiederum dermaßen unerhört, dass sie gar keine Bahnen mehr rüberschickte und das Straßenbahnnetz schon vor dem Mauerbau teilte. Wahrscheinlich der einzige deutsche Grenzkonflikt des Kalten Kriege, in dem die Ostseite tatsächlich sympathischer rüberkommt.
1962 hatte es ein Ostberliner Polizist schon über die Mauer geschafft, als ihn eine Kugel traf. Und schon ist die Sympathie wieder weg.
1975 versuchte der Koch der Schweizer Botschaft, seine Ostberliner Freundin im Kofferraum rüberzuschmuggeln. Aber Oberstleutnant Harald Jäger hatte einen Tipp bekommen, ließ das Auto durchsuchen und beide verhaften. Er hätte sich wahrscheinlich nie träumen lassen, dass dies nur eines der beiden Ereignisse seiner Karriere ist, das verfilmt würde. Und zwar das unbekanntere. Mit Abstand.
Ich meine, ja, alles ziemlich übel, aber ist das wirklich schon Weltgeschichte? Ach nee, Moment, auf der Bösebrücke ist ja noch eine Kleinigkeit passiert.

Am 9. November 1989 bekam Günther Schabowski, der Stellvertreter von des Diktators Egon Krenz, einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem irgendwas von wegen stand, man dürfe ab jetzt einfach so nur mit Perso über die Grenze. Also irgendwann mal, eventuell, falls diese lästigen Demos nicht endlich aufhören. Schabowski hatte absolut keinen Plan und stotterte der Presse irgendetwas entgegen von wegen, das gelte ab sofort. Die Menschen waren maximal verwirrt und kamen in Scharen (darunter auch eine gewisse Angela Merkel) von beiden Seiten zum Grenzübergang, um einfach mal zu gucken, was denn jetzt Sache war. Die Sache war: Auch die Grenzer wussten nicht, was Sache war. Aber offensichtlich glaubten sie nicht mehr genug an ihren Staat, um für ihn Unschuldige zu töten. Sie riefen beim Chef an.
Zuerst hieß es: "Nee, nee, alles bleibt, wie es ist, man darf nur mit Visum raus. Aber nur mal so aus Interesse, wie viele sind denn da?"
Danach hieß es: "Äähh..."
Dann: "Ventillösung - ihr lasst die lautesten Protestler raus, stempelt ihre Pässe ungültig und bürgert sie heimlich aus, muhaha." Nur wollten die Ausgebürgerten ein paar Stunden später wieder rein und die anderen noch dringender raus.
Als der Druck der Masse immer stärker wurde, sagte Grenzkommandant Harald Jäger: "Wir fluten jetzt!"
Und öffnete die Schranke.
Das Resultat konnte ich bewundern, indem ich die Treppe hinaufstieg und mir extragroße Fotos ansah. Schon schade, dass ich da noch nicht geboren war. Wäre auf jeden Fall ein netteres historisches Ereignis zum Miterleben als eine Pandemie.

Dieses Gebiet ist ein unübersichtliches Chaos aus Gleisen und Brücken. Die S-Bahnen unterstanden laut Potsdamer Abkommen komplett der Sowjetunion. Die Westberliner wurden aufgerufen, lieber die Busse der BVG zu nehmen, die mit voller Absicht den S-Bahn-Strecken folgten, um sie auszubooten - man sollte mit seiner Fahrkarte nicht "Ulbrichts Stacheldraht" finanzieren. So wurde der Kalte Krieg auch im Berliner Nahverkehr ausgefochten. Manche Ostberliner zogen in der S-Bahn einfach die Notbremse und rannten die paar Meter über die Gleise in den Westen, was mitunter sogar funktionierte. Eine der Ostberliner Bahnstrecken fuhr sogar selbst ein Stück durch den Westen, was natürlich noch besser zum Abspringen war. Ähnlich wie bei der Regionalbahn bei Eisenach baute die DDR so schnell wie möglich eine Umleitung, die sogenannte Ulbrichtkurve.
Über eine stählerne Fahrradbrücke gelangte ich auf die andere Seite, wo mich der nächste Park erwartete.

Der Mauerpark hat mich aber nicht umgehauen, denn er ist aktuell zur Hälfte eine Baustelle. Und auch die andere Hälfte ist mehr Park als Mauer. Wäre die Mauer hier nicht gefallen, dann wäre sie wenig später durch einen Gebietstausch um 50 Meter verschoben worden.
Hier oben sollte eigentlich ein Stück Hinterlandmauer stehen - meinen die etwa die Wand vom Fußballstadion? Auch im Berliner Fußball tobte der Kalte Krieg: Im Osten war BFC Dynamo der Verein der Regimetreuen und Union Berlin der Verein der Dissidenten, im Westen begehrten deren Verbündete beim Hertha BSC gegen das Ostregime, aber auch gegen die großen Westvereine und Konzerne auf.

Alles hat ein Ende: Nicht nur die Berliner Mauer, sondern auch der wunderbare gerade Radweg in die Stadt rein. Er endet an einer berühmten Kreuzung in der Bernauer Straße. An diesem Eckhaus hatte Westberlin damals eine Aussichtsplattform aufgestellt. Solche Dinger waren in Berlin nicht ganz so dringend nötig wie an der Innerdeutschen Grenze, aber es war doch gut, wenn es auch eine Stelle gab, wo Neugierige sicher über die Mauer drübergucken konnten.
Die Bernauer Straße ist quasi das Gegenstück zur Bösebrücke: Am 13. August 1961 um 1:05 ging das Licht aus. Am nächsten Morgen stellten die Anwohner fest, dass die DDR über Nacht ihre erste provisorische Mauer hochgezogen und alle Haustüren, die in den Westen führten, abgesperrt hatte. Aus dieser Straße gingen Fernsehbilder um die Welt, in denen denen sich verzweifelte Menschen aus ihren Fenstern abseilten oder einfach sprangen, darunter überdurchschnittlich viele Seniorinnen namens Ida. Mit Ida Schulze (77) spielten die Weltmächte buchstäblich Tauziehen: DDR-Volkspolizisten wollten sie vom Fenster wegschleifen, Westbürger zogen sie runter ins Sprungtuch der Feuerwehr. Ida Siekmann (58) hatte weniger Glück. Die Frau warf ihr Bettzeug aus dem Fenster und sprang zu früh, bevor die Feuerwehr das Sprungtuch aufgespannt hatte.
Sie war das erste Opfer der Berliner Mauer.

In den nächsten Tagen mauerten die Soldaten die Fenster zu und spannten Stacheldraht auf dem Dach. Aber das war ihnen immer noch zu unsicher, und so setzten sie die Bewohner in mehreren Wellen vor die Tür und trugen die Häuser bis aufs Erdgeschoss ab. Nur ein Teil der Fassade durfte noch eine Weile als "vordere Sperrmauer" weiterdienen.
Eines dieser Häuser konnte ich mir ansehen, zumindest seine Grundmauern. Angeblich ist das Zimmer vorne die Küche, was aber nicht wirklich zu erkennen ist, die Ziegel sehen nicht anders aus als im Rest des Hauses.

Ein Sprung aus dem Fenster war also maximal für ein paar Wochen eine Option. (Während dieser Wochen lagerte die Westberliner Feuerwehr ihre Sprungtücher permanent in der Bernauer Straße.) Wer danach über die Bernauer Straße fliehen wollte, musste es anders versuchen.
Vielleicht einem Grenzsoldaten 50 Mark zustecken? Nein, das wird nichts. Oder ihn einfach um Erbarmen bitten? Erst recht nicht. Beruflich die Fenster zumauern und dabei rausspringen? Das funktioniert, geht aber nur, wenn Sie Maurer sind und Glück haben. Die Hauswand durchbrechen oder sich an den bewachten Hintertüren vorbeimogeln? Funktioniert jedenfalls besser, als einfach so über die Mauer zu klettern.
Aber die beste Möglichkeit ging unter der Erde durch. Und so wurden die Berliner zu Tunnelgräbern. Die Bernauer Straße ist völlig untertunnelt. Schwellen aus Stahl zeigen, wie ganze sieben Tunnel kreuz und quer unter der Erde durchliefen. Im Grunde könnten die Anwohner heute ihr eigenes nachbarschaftliches U-Bahn-System haben, wenn nicht alle bis auf einen einzigen längst eingestürzt wären. Diesen letzten Tunnel 29 kann man bei einer Führung der Berliner Unterwelten besichtigen. (Das merke ich mir für das nächste Mal, wenn ich in Berlin bin.)
Der längste ist Tunnel 57 mit 104 Metern. Zwölf Meter unter der Erde entkamen 57 Menschen. Einer von ihnen hieß Reinhard Furrer. Ihm gefiel es da unten überhaupt nicht, weshalb er sich später in die komplett entgegengesetzte Richtung orientierte und Astronaut wurde.

Auf dem Mauerstreifen stand jahrelang ungenutzt die Versöhnungskirche, bis sie 1985 gesprengt wurde. Das Konsortium der evangelischen Kirche in der DDR war damit einverstanden. Sein Präsident war ein gewisser Manfred Stolpe, der später Ministerpräsident von Brandenburg und Bundesverkehrsminister wurde, aber selber wegen seiner Stasi-Vergangenheit unter Druck geriet.
Die evangelische Kirche hat an der Stelle eine moderne Versöhnungskapelle aus Brettern und Beton aufgebaut. Die ist aber viel kleiner: Was heute die Kapelle ist, war damals nur der Chorraum der Kirche. Vorne im linken Bild sieht man im Metallrahmen die Grundmauern der Originalkirche. Im Lehmboden der Kapelle ist Schutt von der alten Kirche drin, außerdem haben der Altar, die Glocken und genau eine Originalbank den Sprengstoff überlebt. Um die Kapelle wächst ein Roggenfeld. Daraus backt die Kirchgemeinde Brot und verteilt es im Gottesdienst, als Zeichen, das der Todesstreifen jetzt Leben spendet.

Auch vor dem Kalten Krieg war die Bernauer Straße schon ein Brennpunkt der Geschichte: In der Reichspogromnacht wüteten die Nazi-Anhänger hier besonders übel, die SA lieferte sich Straßenschlachten mit Kommunisten, und nicht zuletzt begann hier auch der offizielle Abriss der Berliner Mauer.
Tja, und was macht man dann mit so einer historischen Straße (außer einen Mauerkiosk zu betreiben)? Darüber tobte nach der Wende ein heftiger Streit mit verwirrenden Fronten. CDU und SPD im Berliner Senat wollten eine Schnellstraße bauen, die Bundesregierung unter Kohl dagegen einen Teil der Mauer als Gedenkstätte erhalten. Die Versöhnungsgemeinde wollte sogar den kompletten Grenzstreifen genau so lassen, während der Pfarrer der Nachbargemeinde alle Mauerreste weghaben wollte, und das Altenheim wollte auf keinen Fall, dass seine Senioren auf die Mauer gucken müssen.
Sie alle einigten sich auf einen Kompromiss, der niemandem gefiel: Ein düsteres Stück Mauer, das eher künstlich als authentisch aussah. Angeblich. Beurteilen kann ich das nicht, denn diese Fakemauer war so unbeliebt, dass 2006 alles wieder abgerissen und neugemacht wurde. Obwohl: Da hinten ist noch ein Stück düstere Mauer - ist das ein Rest der alten Version? Das Ding rechts, das aussieht wie ein Parkhaus, ist jedenfalls ein Dokumentationszentrum, das erst mit der neuen Version dazukam.

In der neuen Fassung ist die Gedenkstätte zwar richtig lang, aber fast ohne richtige Mauerstücke (obwohl die Originale noch erhalten sind und irgendwo gelagert werden, wo auch immer). Stattdessen markieren rostige Stangen die Stelle, wo die Hauptmauer stand. Die sollen quasi symbolisieren, dass da heute jeder durchgehen kann (naja, vorausgesetzt, er ist schlank genug).Während die klassischen Wohnhäuser allmählich von modernen Gebilden abgelöst werden, breiten sich die Wiese und ihre rostigen Stahlgebilde immer mehr aus. Rostige Stangen, rostige Infotafeln, rostige Tunnelschwellen und rostige Wände, der komplette Eiserne Vorhang ist total eingerostet.
Der Bereich dient auch dazu, Ausländern die Grundzüge der Grenze zu zeigen: An jeder Ecke tummeln sich Touristentruppen, die von fachkundigen Führern in allen möglichen Sprachen geführt werden.

Am Schluss steht noch ein nette, harmlose Art Friedhofsmauer vor der alles andere als harmlosen Grenzmauer. Dahinter geht es auf den Sophienfriedhof.

Wieso liegen nur so viele Friedhöfe an der Mauer? Haben die Stadtplaner schon lange vor dem Kalten Krieg vorausgeahnt, dass es hier bald besonders viele Tote geben würde?
Auf den Friedhöfen der Ostseite durften die Genossen nur tagsüber, mit Genehmigung und ohne Leitern das Bestatten gestatten. Ob man so eine Genehmigung bekam, war Glückssache. Weil der Mauerstreifen in den 70ern besser einsehbar war, durften auch Westberliner den Friedhof betreten und mussten nicht mal eine Grabkarte vorzeigen.
Die grauen Grafittiblöcke im Bild sind aber keine Grabsteine, sondern noch mehr Mauerstücke, hier zur Abwechslung mal in Einzelteile filetiert und mit Grünzeug garniert.

Am Ende der Bernauer Straße bin ich in den nächsten Park abgebogen. Und auf den nächsten Friedhof. Und zur nächsten Hinterlandmauer. Zu Beginn war an dieser Stelle bloß eine Sichtblende aus Brettern, die nur neugierige Blicke statt Fluchten verhinderte.
An der Innerdeutschen Grenze sind Hinterlandzaun und Grenzsignalzaun im Prinzip dasselbe, aber in Berlin waren das unterschiedliche Dinger: Vor der Hinterlandmauer stand noch ein extra Zaun, der bei Berührung Signale abgab. Anfangs laut per Sirene, später leise im nächsten Wachturm, sodass sich der Flüchtling noch unentdeckt wähnte.
An diesem Platz wohnte der Liedermacher Wolf Biermann. Mit den beiden Friedhöfen in Ost und West war er in prominenter Gesellschaft, denn unter der Erde ruhen unter anderem: Der Architekt Karl Friedrich Schinkel (der seinen Grabstein selbst designte), der Philosoph Friedrich Hegel, die Dichter Theodor Fontane, Heinrich Mann, Bertold Brecht (aus Datenschutzgründen ein unbehauener Stein), Anna Seghers und und und, und... ach ja, und nicht zuletzt auch Theodor Litfaß, König der Reklame und Erfinder der gleichnamigen Säule. Wer hier verbuddelt wird, der hat es im Leben geschafft.

Dahinter verschwanden die Westberliner U-Bahnen unter der Erde. Das ist bei U-Bahnen ja erstmal nicht weiter ungewöhnlich. Unerwartet ist aber, dass die Westberliner U-Bahnen auch nach dem Bau der Mauer weiter den Osten durchquerten. Wer keine Angst hat, dass die eigenen Bürger in Massen abspringen, der muss halt auch nicht krampfhaft eine Ulbrichtkurve bauen! Die Fahrgäste konnten halt nur nicht mehr im Osten aussteigen, und die Bahnhöfe waren von oben zugemauert. Ein Ostberliner U-Bahn-Arbeiter wählte trotzdem diesen Fluchtweg. Weil er sich im Gewirr der Tunnel so gut auskannte, konnte er seine Familie in einen der Geisterbahnhöfe schleusen. Als dann eine westliche U-Bahn vorbeikam, war der Fahrer tatsächlich so nett und hielt an - der Schaffner verlangte sofort, dass sie sich auf den Boden legten, und am nächsten Halt stiegen sie erleichtert in Fahrtrichtung rechts in die Freiheit.

Schließlich kam ich am Spandauer Schifffahrtskanal heraus (in dem landet auch das Hundekot-Wasser der Panke). Auf der Westseite löste hier der britische den französischen Sektor ab. Auch hier ist die Stadt ein Mosaik aus Grün, Geschichte und Moderne.
Die Eigentümer des Eckhauses waren bereit, den Grenzweg und den Führungsturm in der Kieler Straße stehen zu lassen, anstatt sie zu irrsinnigen Preisen zu vermieten. In dem Führungsturm trudelten nicht nur Infos von anderen Türmen ein und Befehle raus, es war auch eine Alarmgruppe gegen Flüchtlinge stationiert.
Am 13. August 1961 fuhr Günther Liftin wie jeden Morgen zur Arbeit nach Westberlin. Er bekam irgendwas mit von wegen, die Grenze sei zu, aber das war bestimmt nur vorübergehend, also ging er abends ganz normal in seine Wohnung im Osten. Erst am 14. August merkte der anscheinend leicht verpeilte Flüchtling, dass die Sache doch nicht so vorübergehend war, und wollte wieder in den Westen gehen.
Er war der erste Mensch, der an der Berliner Mauer erschossen wurde.
Auch der erste Grenzsoldat an der Mauer starb hier. Sein Name war Wilfred Göring, und er bekam ein Begräbnis als Held und Märtyrer. Seine Heldentat bestand darin, auf einen 14-jährigen Schüler zu schießen, der schon am Westufer des Kanals stand, obwohl er eigentlich gar nicht auf Kinder feuern sollte. Und sich dabei aus der Deckung zu begeben, um eine bessere Trefferchance zu haben, sodass ihn ein Westberliner Polizist traf. Naja, mutig war das zwar schon irgendwie, doch... nennt mich einen Nörgler, aber an eine Heldentat habe ich höhere Erwartungen.
Auch ein Westberliner Teenager, der einfach nur baden wollte, kam hier ums Leben. Er wollte sich nicht durch Worte vertreiben lassen, sondern rief, die Grenze verlaufe in der Mitte, also dürfe er auf seiner Hälfte ja wohl schwimmen. Das fand der Soldat so unverschämt, dass er gezielt einen tödlichen Schuss abgab.

Auch an diesem Kanal liegt ein Friedhof, diesmal einer der ältesten Berlins: Der Invalidenfriedhof von 1748. Hier ruhen Adlige und Militärs, darunter der Erfinder der Wehrpflicht Gerhard von Scharnhorst. Obwohl auch die DDR ihren höchsten militärischen Orden nach diesem preußischen Heeresreformer benannte, hatte sie vor seinem Grab wenig Respekt: Sie entfernte 90 Tonnen Grabsteine, sprengte die Kirche und baute die Mauer und den Kolonnenweg (den heutigen Radweg) mittendurch.
Ganz kurz waren hier auch Obernazis wie zum Beispiel Heydrich verbuddelt, aber die entfernten die Alliierten direkt nach Kriegsende gemeinsam, denn in der Sache waren sie sich noch einig.

Zwischen Hauptbahnhof und Regierungsviertel mündet der Kanal dann in die Spree. Dort beginnt das Zentrum vom Zentrum Berlins, ein Stadtteil so mittig, dass er einfach nur Mitte heißt.

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