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01 Juni 2023

Berliner Mauer: Von Berlin-Mitte nach Kreuzberg

Die Berliner Mittelmauer

Länge: 6 km
Grenzquerungen: mindestens 4, aber schwer zu sagen, wenn man exakt auf der Grenzlinie geht
Bundesländer: nur Berlin
Seite: Hm, eigentlich meistens genau auf der Grenze.
Erkenntnis: 1 Kilometer Berliner Mauer entspricht 100 Kilometern innerdeutscher Grenze.

Wo war eigentlich die Mauer? Immer wieder müssen Berliner diese Frage beantworten. In Berlin-Mitte beantwortet sie auch ein informatives Metallband auf dem Boden, oder eine Stele, oder eine Gedenktafel, oder ein Stück Originalmauer, oder ein graubrauner Mauerwegweiser... nur nie alles gleichzeitig oder gar einheitlich. An jeder Kreuzung musste ich einen Moment suchen, bis ich wusste, wo es weitergeht.
Im 9-Euro-Sommer 2022 strandete ich für zwei Stunden in Berlin und entschied mich zum ersten Mal, den größtenteils braunen Zeichen zu folgen. Dieses erste Stück Mauer habe ich also zu Fuß zurückgelegt. Und ganz ehrlich, das würde ich auch jedem empfehlen, der die Zeit dazu hat. Am besten nimmt man sich ein bis zwei Tage und läuft sogar noch mehr zu Fuß, nämlich das komplette Stück von der Bernauer Straße bis zum Landwehrkanal. Dieser Bereich ist einfach zu stressig, um Radfahren und Sightseeing zu kombinieren.
Am Hauptbahnhof lief ich ein Stück am Parlament der Bäume und am Parlament der Menschen an der Spree entlang, beim Bundestag wendet sich der Mauerweg dann wieder gen Süden.

Ein entspannter Stadtspaziergang wird das nicht, so viel war klar. Schon nach wenigen Minuten wiesen mich weiße Kreuze darauf hin, dass an dieser Stelle Menschen erschossen wurden. Ihr Verbrechen bestand darin, einen Bürgersteig zu überqueren.

Der Mauerweg verläuft am Rande des Tiergartens (der kein Zoo ist, sondern einfach ein Park - für ahnungslose Nichtberliner irreführend). Der Park macht einen Bogen um das Brandenburger Tor. Jeder denkt bei dem Tor an den Kalten Krieg, aber eigentlich ist es das letzte Überbleibsel der allerersten Berliner Mauer: 1734 hatte der Soldatenkönig Friedrich I. alle Vororte zur preußischen Residenzstadt Berlin vereinigt. Um bei allen Zölle abzukassieren, die da reinwollten, mauerte er die Stadt ein - sogar die Bahnhöfe lagen außen. Weil das Tor keinen militärischen Zweck hatte, konnte er guten Gewissens Friedenssymbole reinmeißeln.
Als Berlin wuchs, wurde die Mauer wieder abgerissen, nur das Brandenburger Tor durfte bleiben, weil seine langen Säulen von Athen inspiriert waren und besonders schick aussahen. Trotzdem beeinflusste der Verlauf der ersten Mauer noch lange danach das Straßenbild, die Grenzen der Stadtteile, die U1 - und die zweite Mauer.
Nach der Wiedervereinigung wurde heftig gestritten, ob Autos durch das Tor fahren sollen. Der alte Busfahrer, der es vor dem Mauerbau als letzter durchquert hatte, sollte eigentlich bei einer feierlichen Zeremonie als erster wieder durchfahren, aber Aktivisten hatten das Tor besetzt. Das Bus-Event fand am Ende statt, langfristig setzte sich trotzdem das autofreie Tor durch.
Gleich nebenan gab es schon 1988 einen anderen Umweltprotest - und die einzige Massenflucht in Richtung Osten: Westberlin hatte von der DDR ein Stück Land gekauft, das eh außerhalb der Mauer lag, um eine Straße drauf zu bauen. Jugendliche besetzten es, und als die Polizei anrückte, kletterten sie über die Mauer nach Osten. Sie hatten sich wohl mit der DDR abgesprochen, denn nach einem Frühstück verteilte man sie über verschiedene Grenzübergänge zurück.

Das war noch eher kurios, nun wird es richtig bedrückend: Wenige Meter entfernt ist ein Platz komplett übersät mit Betonblöcken. Anfangs konnte ich noch darüber hinwegschauen, aber je weiter ich hineinging, desto tiefer verschluckten mich die grauen Schluchten. Das weltweit einzigartige Mahnmal erinnert an den Völkermord an den Juden Europas, und zwar nach dem Prinzip, dass jeder selbst reininterpretieren kann, was Beton mit dem Holocaust zu tun hat. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, war mein Gedanke: Die Millionen Menschen waren alle unterschiedlich (wie die Quader unterschiedlich hoch sind), aber ihnen ist dasselbe zugestoßen (weshalb die Quader alle wie Särge aussehen). Tja, im Reiseführer werden Politiker mit komplett anderen Deutungen zitiert.

Meine Güte, ich bin gerade mal einen Kilometer unterwegs und schon quer durch die Jahrhunderte vor und zurückgesprungen, von Hoffnung über Kuriosität zu Verzweiflung. Um so viel Geschichte zu erfahren, müsste ich auf dem Radweg an der Innerdeutschen Grenze mindestens zwei Tage lang unterwegs sein.
Die nächste Station ist der Potsdamer Platz, der laut Reiseführer das Symbol schlechthin für die geteilte Stadt darstellt - ich hätte da eher an das Brandenburger Tor gedacht, über diesen Platz wusste ich eigentlich kaum etwas. Dabei ist der wirklich faszinierend: Hier startete 1835 Deutschlands zweite Eisenbahnstrecke (dazu später mehr), 1924 regelte Deutschlands erste Ampel den Verkehr auf dem Platz, auf dem 40 Straßenbahnlinien unterwegs waren, und 1990 spielte Pink Floyd das einzige Konzert, das je auf einer Bühne in zwei Staaten stattfand. Während der Teilung war der Platz allerdings lange Zeit eine Wüste, selbst im Westen wurde alles abgerissen und es fanden bloß mal Flohmärkte statt. Die relativ kurze britische Grenze wurde hier auch schon vom amerikanischen Sektor abgelöst.

Inzwischen fahren hier wieder Züge aller Art, allerdings versteckt unter der Erde. Darüber lassen große Unternehmen ihre gläsernen Zacken in den Platz ragen. Die Hochhäuser sind ökologisch besonders effizient und schon beeindruckend, aber nicht jedermanns Geschmack. Davor stehen Reste der Mauer, die im Grunde nur noch von buntem Kaugummi zusammengehalten werden.
Moment mal, wo kommen denn die vielen Trabis her? Na, so ein Zufall, heute muss irgendein Oldtimer-Treffen sein oder so. (Nein, ist es nicht. Das ist eine ständige Stadtführung für Touristen, die sogenannte Trabi-Safari.)

Die DDR wollte hier ein Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht errichten, das letzten Endes nicht komplett zustandekam, es lag zu nah am Grenzstreifen. Deswegen steht da nur der Sockel. Was Rosa Luxemburg wohl zur Mauer gesagt hätte? Tote Idole hatten für die SED den Vorteil, dass aus ihnen nicht plötzlich Kritik rauskam, sodass man sie aus der Geschichte tilgen musste.

In einer Seitenstraße hinter dem Bundesrat befindet sich der älteste erhaltene Grenzturm Berlins. Er wurde um 10 Meter versetzt, wirkt auf der Baustelle aber immer noch ganz schön deplatziert. In Berlin sahen die meisten Wachtürme so rund und dünn aus. Nur 32 von 280 Türmen waren rechteckige Führungstürme. Alle 250 Meter stand in Berlin ein Turm, sodass die Soldaten wirklich restlos alles sehen konnten. Sie arbeiteten selbstständig immer weiter daran, ihren Abschnitt zu verbessern, denn für jede erfolgreiche Flucht bekamen sie ordentlich auf den Deckel.

Kaum zu glauben, aber in der Niederkirchnerstraße konzentriert sich sogar noch mehr Geschichte auf engstem Raum. Im preußischen Landtag (hinten) entschieden sich die Arbeiterräte 1918 gegen eine Räterepublik, die KPD wurde da drin gegründet und prügelte sich wenige Jahre später am selben Ort mit Nazis. Heute sitzen da zwar keine Abgeordneten aus ganz Preußen, aber immerhin aus Berlin.
Gleich neben der Straße ist ein langer Mauerstreifen erhalten geblieben. Der zeigt richtig eindrucksvoll, wie das damals ausgesehen haben muss - während ich auf der Straße entlangging, konnte ich überhaupt nicht ahnen, was auf der anderen Seite ist.
Und was ist da? Ein kleines Gratismuseum aus Glas und wahnsinnig vielen Texttafeln. Manche hängen direkt an einer Glasscheibe vor der Mauer, andere in einem Glashaus. Die Ausstellung heißt Topographie des Terrors. Es geht darin nicht nur um die Mauer, sondern auch um die SS. Die hatte genau hier ihre Zentrale mitsamt Folterkellern und plante den Holocaust. Ich dachte, das Lager Juliushütte am Harz sei die Stelle mit der grauenvollsten Geschichte in Deutschland - aber diese Ausstellung ist womöglich noch schlimmer.

Auf der anderen Seite der Mauer stand das Haus der Ministerien, in dem Walter Ulbricht damals versicherte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Der Typ hat das tatsächlich direkt neben der (bereits geplanten) Mauer gesagt.
Das Haus enthält heute das Bundesfinanzministerium - und eine ganz andere Art der Geschichtsschreibung: Statt tausender Texttafeln hängt ein Comic am Zaun. Der erzählt die Geschichte eines Vaters, der im Haus der Ministerien arbeitete, dort aber gar nicht mal so glücklich war. Mit seiner Familie entkam er auf völlig verrückte Weise: Nachts kletterten die drei aufs Dach und warfen ein Seil rüber zu ihren Helfern in Westberlin. Sie flohen im Prinzip mit einer selbstgebauten Seilbahn, wie man sie heute in Kletterparks findet. Und das Beste: Die Grenzsoldaten beobachteten sie und gingen davon aus, dass alles schon seine Richtigkeit haben wird - wenn die vom Ministerium starten, dann sind das wahrscheinlich Geheimagenten, die in den Westen geschleust werden.
(Wäre es sehr pietätlos, wenn man die Seilbahn als Touristenattraktion wieder aufbaut? Ja, vermutlich schon...)

An der nächsten Kreuzung wechselt die Farbgebung zurück von Grau zu Kunterbunt. Auf diesem Platz können die Besucher Currywurst futtern oder mit dem ersten Ballon aufsteigen (also quasi, eigentlich ist der damals vorm Reichstag gestartet - und es ist auch nicht mehr derselbe Ballon). Ein Plakat wirbt dafür, die legendären Rosinenbomber zu retten. Anscheinend droht den US-Flugzeugen, die Westberlin während der sowjetischen Blockade versorgt haben, die Verschrottung.

Diese Ecke Berlins ist auch so bunt, weil sich der italienische Architekt Aldo Rossi mit verschiedenen Stilrichtungen ausgetobt hat.
Jetzt folgt der berühmteste Grenzübergang des Eisernen Vorhangs, obwohl oder gerade weil den kein Deutscher überschreiten konnte. Checkpoint Charlie war nur für Ausländer und Diplomaten bestimmt. Die ostdeutschen Grenzgebäude wurden vom neuen Grundstückseigentümer abgerissen, weil die Stadt sie nicht unter Denkmalschutz gestellt hat. Vom amerikanischen Grenzhäuschen gibt's immerhin einen Nachbau (am linken Rand). Das ist eine der wenigen wichtigen Stellen am Eisernen Vorhang, wo nur Überbleibsel von der Westseite stehen.

Aber keine Sorge, wer sich über die Ostseite informieren will, hat wahnsinnig viele Möglichkeiten. Das Haus am Checkpoint Charlie ist inmitten von Bauzäunen versteckt. Und gegenüber gibt's auch noch eine Outdoor-Ausstellung. Das schaffe ich doch gar nicht alles! 

Stattdessen entschied ich mich für das Asisi-Panorama, das klang am außergewöhnlichsten. Es befindet sich in einer Betonkuppel. Der Vorraum sah noch mehr oder weniger nach einem normalen Museum aus. Dann wechselte ich ins Zimmer nebenan.
Dunkelheit hüllte mich ein. Ich erkannte gerade so die Treppe zu einem Bauwerk, die aus so etwas wie Baugerüsten zu bestehen scheint - die Aussichtsplattform für Westberliner in der Bernauer Straße.
Walter Ulbrichts Stimme dringt aus der Finsternis. In voller Länge erklärt er den Journalisten, die eigentlich gar nicht so richtig danach gefragt haben, ob er eine Mauer bauen wolle. Tragische Musik ertönt. Dann taucht die Mauer auf. Sie scheint hinter einem depressiven Schleier aus Nieselregen zu liegen - vielleicht, weil meine Augen eine Art Foto erwartet haben, kein Gemälde. Dennoch sieht der Nieselregen und alles andere irgendwie realistisch aus.
Wenn Sie allerdings für dasselbe Geld ein fröhlicheres Asisi-Panorama mit mehreren Stockwerken begutachten wollen, welches Sie sogar zu 360 Grad umfängt, dann sind geben Sie sich vielleicht doch lieber das Pergamon-Panorama vom selben Künstler. Da kann man immerzu etwas neues entdecken, während man das Mauerpanorama doch recht schnell angeschaut hat.

In der Zimmerstraße starben Flüchtlinge auf besonders üble Weise. Einer wurde auf dem Niemandsland (das offiziell zum Osten gehörte) angeschossen. Die Uniformierten im Westen trauten sich nicht, die im Osten wollten ihm nicht sofort helfen. Erst nach einer halben Stunde kamen sie dann doch, und das war zu spät. Für diese Grausamkeit hagelte es Kritik gegen beide Seiten.

Der Axel-Springer-Verlag baute hier sein Glashaus direkt an der Grenze - mit voller Absicht, denn so konnten er Bildschirme mit kritischen Botschaften nach Ostberlin rüberblinken lassen. Davor schreitet die Statue des Grenzgängers (rechts unten) vorwärts, ein überraschend fröhliches Mahnmal. Gleich neben der Axel-Springer-Straße verläuft die Rudi-Dutschke-Straße. Wenn ich das richtig verstanden habe, waren der konservative Verlag, der Anführer der Studentenbewegung und die DDR-Führung durch eine Art seltsame Dreiecks-Hassliebe verbunden.

Ein paar Straßen weiter lag der nächste Grenzübergang, über den unter anderem die Post transportiert wurde. In der Prinzenstraße a.k.a. Heinrich-Heine-Straße versuchten drei Männer, in einem LKW durch drei Schranken zu brettern. Der Fahrer wurde tödlich angeschossen, aber er schaffte es noch, seine verletzten Beifahrer in den Westen zu bringen.
Anschließend wurde der Grenzübergang so umgebaut, dass fortan alle Autofahrer Slalom fahren mussten - eine ganz andere Lösung als die Monsterschranke am Grenzübergang von Duderstadt.

Dann lief die Mauer auf dem Luisenstädter Kanal entlang. Hier drohte immerhin niemand zu ertrinken. Der Kanal sollte eigentlich Baumaterial für neue Stadtteile heranbringen, aber er floss schon 1926 so langsam und stank dermaßen, dass die Berliner ihn doch lieber zuschütteten.
An seinem Ufer Straßenrand schnappten sich ein paar Jugendliche, die von den teuren Luxussanierungen im Westen angepisst waren, ein Haus. Das Künstlerhaus Bethanien wurde die Keimzelle der deutschen Hausbesetzer-Bewegung. Und außerdem ragte ein Zacken DDR hier nach Westberlin rein, der außerhalb der Mauern lag. Da waren hauptsächlich Obdachlose und Trinker unterwegs. Zumindest, bis der Türke Osman Kalin aufräumte, Gemüse anbaute und ein einfaches Sommerhaus zimmerte. Aus irgendeinem Grund hatte die DDR kein Problem damit.

Anschließend führt die Grenze nochmal hoch zur Spree, wo Künstler neben der schönsten Brücke Berlins die größte Freiluftgalerie der Welt auf die Mauer gemalt haben. Erst dann geht es weiter in Richtung Süden und aus der Innenstadt hinaus.

Oh Gott, wie viele Züge hatte ich inzwischen sausen lassen? Ich musste zurück. Aber seitdem stand für mich fest: Der Mauerradweg kommt auf meine Liste.

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