NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

02 Oktober 2024

Schmaler Luzin

Fridolin, wo bist du?

Es ist Frühling geworden, gefühlt schon Sommer; eigentlich sollten wir jetzt auf dem Havelradweg die wabernde Hitze genießen. Stattdessen wächst in meinem Arm noch immer ein kaputter Knochen zusammen, und das Radfahren ist mir noch immer verboten - der beste Ersatz, den mein Arzt mir gestattet, ist das Wandern. Zur Osterwanderung fahren wir nach Carvitz zum Hans-Fallada-Haus: endlich, unsere Mutter hatte es schon so lange vor. Sie mag eine gestandene Frau sein und ihr Dichter seit 77 Jahren tot, dennoch wage ich es, sie als Fangirl zu bezeichnen.


Für die Ostertage hat sich das Museum besondere Öffnungszeiten erdacht. Sogar zwei davon - die einen Zeiten stehen im Internet, die anderen am Eingang. Welche Enttäuschung - das Tor öffnet sich doch erst um 13 Uhr! Wir ändern den Plan: zuerst wird um den Schmalen Luzin gewandert.
Wir erkennen schnell, wie er zu seinem Namen kam: Der See liegt in einer Eiszeitrinne, eng, verwinkelt, in Kurven gekrümmt, 7 Kilometer langgezogen und tief im Wald versenkt wie die Havel an ihren verstecktesten Stellen. Dennoch funkelt er luzide, also hell, in der Sonne. Ihre Strahlen dringen vor bis zum hellen Grund; der Luzin ist beinahe noch durchsichtiger als der Drewitzer See, und das will etwas heißen!

So sah der See schon einmal aus: bis Anfang der 20er, als Hans Fallada seine Zeit noch weit weg in Sanatorien, im Gefängnis, in der Landwirtschaft und Arbeitslosigkeit verbrachte. Nach seiner Heirat ging es für Fallada bergauf, unterdes ging es mit dem See immer weiter bergab. Die Bauern gossen ihre Abwässer einfach hinein, und die Nährstoffe machten das Wasser so trübe, dass sich statt Fischen nur noch Massen an Algen darin heimisch fühlten. Besser wurde es erst, als die Zuflüsse zum See verstopft wurden: der Bach Luzinhalle und der Seerosenkanal wurden verschlossen, und auf den Seeboden, in 35 Meter Tiefe, wurde Sauerstoff gepumpt. So war der See wieder sauber, dafür aber isoliert: die ausgestorbenen Fische hatten keine Möglichkeit zur Rückkehr. Deshalb trug sie der Mensch zum See und setzte Ostgroppen im Wasser aus.
Links hebt sich der Wald zu einem Steilufer, in dem hin und wieder ein Einschnitt flacher nach oben führt. Bevor es Leitungen gab, holten sich die Menschen durch diese Kerben ihr Wasser, und der Name des Tals, Karrengrund, verrät uns auch, wie.

Ostgroppen? Ich habe nirgendwo Groppen gesehen; für uns ist der Schmale Luzin vor allem mit einer Tierart bevölkert: Ameisen! Überall Ameisen! Es wäre untertrieben zu sagen, dass manchmal Ameisenstraßen den Pfad kreuzen; vielmehr stellt unser Weg nur eine lästige Störung für ein komplexes Netz aus Ameisen-Autobahnen dar. Der ganze Boden ist schwarz, wimmelt von großen Waldameisen, die über das Laub krabbeln. Das hier übertrifft sogar die Ameisen-Agglomeration vom Drewitzer See, wo die Ameisenhaufen zumindest auf engem Raum dicht an dicht standen - am Luzin halten die Haufen respektvoll Abstand zueinander und schwärmen von dort aus über das ganze Gebiet. Sie haben einen zerfressenen Baumstamm völlig durchdrungen - ein so enormes Holzstück dürfte Platz für mehr als nur ein Insektenvolk bieten, genau wie die Wolfenbütteler Kuntzsch-Zwillinge, Falladas Bienenstöcke, von denen noch zu reden sein wird.

Der Kuntzsch-Ameisen-Zwilling steht am "Schmal". So heißt die schmalste Stelle im Schmalen Luzin - wer immer den Namen erfunden hat, taugt nicht zum Schriftsteller. Hier liegt das andere Ufer nur 70 Meter entfernt, was den Kanufahrern aber problemlos ausreicht, und Motorboote dürfen hier ohnehin nicht fahren. Die meisten Boote, die wir unterwegs gesehen haben, waren sowieso leck und halb versunken.
Die Wiese am Schmal bildet eigenartige Bögen, an deren Spitzen sich die Bäume so weit wie möglich dem Wasser entgegenstrecken, womöglich auf der Flucht vor den Ameisen. Auch wir wollen vor ihnen ins Wasser flüchten; zwar sind die Tierchen nicht übermäßig aggressiv, aber doch sehr neugierig, und es ist nicht angenehm, wenn man nur für einen Moment stehen bleibt und sie sofort die Schuhe und Hosenbeine erkunden. Der einzige Ort, wo sie nicht krabbeln, ist der Grund des Sees, aber wie kommen wir dorthin? Selbst die letzten Zentimeter hellen Schlamms am Ufer haben die Ameisen eingenommen, und es gibt keinen Ort, wo man in Ruhe seine Schuhe und Strümpfe ausziehen könnte, ohne sie sogleich dem Insektenvolk zu übergeben.

Die Menschen entsorgten nicht nur Abwasser im Luzin. Fallada schreibt:
Sie werden uns noch zu schaffen machen, diese Steine und Felsen. Im Dorf behaupten sie, es sei zwecklos, sie aus dem Boden zu schaffen, sie wüchsen nach. Das werden wir ihnen schon beibringen, das Nachwachsen!
Und wohin schafften die Bauern die frisch gejäteten Steine? Sie kippten sie einfach das Steilufer herunter. So entstanden die Steinstürze am Luzin. Auf den ersten Blick halte ich sie für eine Art Steinbruch, dabei handelt es sich um das Gegenteil: keine Quelle begehrter Bodenschätze, sondern eine Müllhalde für ungeliebtes Geröll, über das wir nun stolpern.

An der nächsten lichten Stelle lagen früher die Fischerkähne; auch heute verkehrt dort ein Kahn. Ich steige die Treppe hinauf, um die Eiszeitrinne ihrer vollen Schmalheit von oben zu überblicken. Hier durchstößt der See die Endmoräne und streift den Stadtrand von Feldberg. Am Ufer steht ein Gasthaus, in dem wir uns mit Kaffee und Eis eindecken. Der Wirt ist ein geduldiger, gemächlicher Mann, den nichts aus der Ruhe bringen kann, nicht einmal, wenn ich mich mittendrin für die andere der insgesamt zwei Eissorten entscheide und er noch einmal den vollen Weg zur Tiefkühltruhe zurücklegen muss. An der Tür prangt ein Schild: "Meistens öffnen wir um 10 oder 11 Uhr, manchmal schon um 9, dann wieder mal erst um 12 oder 13 Uhr. Geschlossen wird bei uns ungefähr um 18 oder 19" usw. - man kennt es aus anderen Imbissen als amüsantes Witzschild. Hier jedoch beschleicht mich das Gefühl, es könnte vollkommen ernstgemeint sein. Als zwei andere Wanderer nach den Öffnungszeiten fragen, antwortet der Wirt entspannt, er würde morgen vermutlich um 10 beginnen, das müsse er mal sehen.
Ein unübersichtliches Netz an Stegen umgibt die Hütte, und wir rätseln, wo wohl die Fähre anlegen mag. Ihre Fahrzeiten halten sich ebenfalls streng an das Witzschild, zumindest in der Nebensaison: wir mussten per E-Mail fragen, ob und wann am Karsamstag etwas fahren würde. Das Internet hatte eine europaweit einzigartige handbetriebene Seilfähre versprochen, doch die scheint defekt zu sein - nur ein Motorboot ohne jedes Seil liegt am anderen Ufer. Allmählich dümpelt es herüber. Fährt es überhaupt? Mitten im See scheint der Fährmann den Motor abzustellen und sich einfach treiben zu lassen, bis nach fünf Minuten dann doch wieder eine Art zielgerichtete Bewegung zu erkennen ist. Unterdes werden die Stege immer voller und unsere Eltern immer nervöser. Stehen Sie auch an der richtigen Stelle? Werden wir es in diese Fähre schaffen oder noch länger warten? Niemand weiß, wohin das Boot genau steuert: jeder auf dem Steg könnte theoretisch der erste oder der letzte sein, der ins Boot steigt.

Am Ende legt das Boot am Ende eines kleinen abzweigenden Steges weit hinten an, eine Stelle, mit der niemand gerechnet hat, doch es passen alle hinein auf die metallenen Bänke, beschattet von einem weißen Sonnenschutz. Der Fährmann verstaut das Geld in einem weißen Farbeimer, und in einem Spalt in der Bootswand daneben bewahrt er aus unerfindlichen Gründen stets griffbereit seine Zahnbürste auf.
Zunächst jedoch steigt ein Paar mit einem Pudel aus, wobei der Fährmann diesen als "Kampfhund" bezeichnet und Wert darauf legt, die Unterhaltung mit dessen Herrchen und Frauchen noch ordnungsgemäß zu Ende zu führen. Hat er sich womöglich nur deshalb auf dem Wasser treiben lassen, um mehr Zeit zum Reden zu haben? Offensichtlich ja! Denn sein Berufsethos besteht aus amüsanten Witzschildern.
Zum Beispiel: das mit den Öffnungszeiten, welches wir schon kennen.
Zum Beispiel: "Ich bin heute gut drauf." (mit Smiley)
Zum Beispiel: "Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was, sondern bei So isses."
Zum Beispiel: "Seefahrt ist kein Zuckerschlecken."
Zum Beispiel: "Auf jedem Schiff, das schwappt und schwabbelt, ist jemand da, der dämlich brabbelt." Vor allem diese Inschrift scheint er als heilige Pflicht zu betrachten.
Seine Beschwerde über den schlechten Zustand der Radwege in der Gegend, während Deutschland welche in Peru finanzieren würde, sendete jedenfalls widersprüchliche Signale zu seiner politischen Einstellung.
Es scheint noch einen zweiten Fährmann zu geben, einen jungen Mann mit wildem weißen Haar. Doch dieser schient den Beruf am Luzin aufgegeben haben, um ein Buch und ein Musikalbum mit dem Titel "Der Fährmann" zu produzieren. Zumindest hing sein Werbeplakat am Gasthaus. Es muss ein kreativer Kopf sein, wenn ihn die tägliche kurze Überfahrt so sehr inspiriert hat.

Zum Glück lässt er das Boot mit uns darin nicht so lange treiben, und so steigen wir kurz darauf in der Wildnis auf einer Treppe das Steilufer hinauf; auf diesem Ufer gibt es keinen Weg direkt am Wasser. Der Wald sieht auf einmal völlig anders aus: nicht schwarz, sondern weiß. Der ganze Boden ist bedeckt von einem weißen Teppich aus Buschwindröschen - oder, wie man sie auch nennt, Anemonen.
"Papa, hör mal —!"
"Ja, Mücke —?"
"Hast du die Anemonen aus dem Bullerbusch mitgebracht?"
"Ja, Mücke."
"Gibt's im Bullerbusch jetzt Anemonen?"
"Ich glaube, ich hab' dir's schon gesagt."
"Aber immer gibt's dort keine Anemonen?"
"Nein."
"Dann gibt's andere Blumen. Wenn's keine Anemonen gibt, gibt's andere Blumen, nicht wahr, Mummi?" (Ein anderer Gesprächspartner ist gewählt wegen des Vaters drohendem Gesichtsausdruck.)
Mücke ißt eine Gabel voll. Dann: "Ich gehe auch Anemonen pflücken - wenn ich mit Essen fertig bin."
"Du kannst doch nicht in der Nacht Anemonen pflücken gehen, Mücke!"
"Red bloß keinen Quatsch, Papa. Ich werd' schon noch fertig mit Essen. Ich nehm einen Korb mit. Anemonen pflückt man doch am besten in einen Korb, oder?"
"Wie du siehst, habe ich nur ein Sträußchen gepflückt. Und nun fordere ich dich zum letztenmal auf, Mücke, den Mund zu halten. Jetzt kommt der Nachrichtendienst."
Eine Stimme ertönt: "Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt..."
Wir essen lauschend. Da, ein durchdringendes Geflüster: "Wenn es keine Anemonen gibt..."
"Zum Donnerwetter, Ruhe, Mücke!"
"...Und keine anderen Blumen..."

Wir sind jetzt im Naturschutzgebiet Hullerbusch oder Bullerbusch. Dieser Wald war Familie Falladas Einzugsgebiet, sie haben sogar ihren vierten Hund nach ihm benannt, also wollen wir hier eine größere Runde drehen.
In der Not erinnerte ich mich an einen Frühlingsspaziergang in den Bullerbusch, den ich mit Uli, Mücke und Plisch unternommen hatte. Wir waren ausgezogen, um für ihre Mutter Anemonen und Leberblümchen zu pflücken. Im Bullerbusch begegnete uns, alleine wandelnd, ein riesiger kohlpechrabenschwarzer Hund. Als er so hinter uns dreingezockelt war, hatten die Kinder natürlich wissen wollen, wie der Hund hieß, und weil der Plisch von ihm im Hullerbusch angebrummt worden war, hatte ich ihm den Namen Brumbusch gegeben.
Zunächst kommen wir an der Straße heraus, wo das gleichnamige Hotel Hullerbusch mit Bauernladen steht. Diese Straße ist auch die Alternativroute zum Feldberger-Seen-Radweg. Rechts kämen wir direkt nach Carvitz, doch wir wenden uns zuerst nach links. Die Straße wechselt zwischen Kopfsteinpflaster und glatten Platten hin und her, unterdes taucht unten der Luzin wieder auf. So bekommen wir ihn doch noch einmal zu sehen.

Weiter nördlich verbindet sich der Schmale Luzin unter einer Brücke nach Feldberg mit dem Breiten Luzin. Dort im Norden sind deutlich mehr Fahrzeuge zu Wasser und zu Land unterwegs.

Wir aber verlassen den See vorerst, als er eine weitere Endmoräne durchbricht: den Hünenwall. Der Erdwulst war niemals der Wall einer Burg; er wurde auf ganz natürliche Weise aufgeschoben und von Findlingen durchsetzt. Der Gletscher lag auf der linken Seite, begann also genau dort, wo unser Pfad verläuft. Als Toteis schmolz er ab; die Schwerkraft zog ihn hinunter an die tiefsten Stellen, die heutigen Feldberger Seen. Manches Toteis blieb jedoch vorher in einer Senke im Wald stecken und bildet versteckte Tümpel und Moore, kleine Punkte aus Feuchtigkeit im sonst trockenen Wald.

Der größte von ihnen ist das Kesselmoor.
In diesem Wald sollen 17 Pilzarten wachsen.
Ich bin der leidenschaftlichste Pilzsucher in meiner ganzen Bekanntschaft. Da finde ich eine Stelle, und dann finde ich noch eine Stelle. Aber wie enttäuscht wäre Fallada, läse er das Schild, das heute am Kesselmoor prangt? Es sagt: im Naturschutzgebiet dürfen keine Pilze gesammelt werden!

Bald darauf kommen wir an einem anderen See heraus: Es ist der Zansen, der weiter unten in den Carwitzer See übergeht - seit der Fährüberfahrt bewegen wir uns nämlich auf einem schmalen Waldstück zwischen zwei Steilufern, zwischen zwei Seen. Auch der Zansen bleibt zunächst recht schmal, doch sein anderes Ufer ist etwas flacher und offener als am Luzin, es erinnert eher an die klassischen Ufer der Mecklenburger Seenplatte.
Hier stolpern wir zuerst über den Teufelsstein. Satan soll den Stein quer über den See einem Müller hinterhergeworfen haben, der ihm seine Seele verschrieben hat - davon zeugen zwei tiefe Schrammen, welche die Klauen des Teufels hinterlassen haben, noch immer gut zu erkennen an der Seite des Steins. In Wahrheit steckt kein feuriger Höllenfürst, sondern ein kalter Eisbrocken hinter den Linien - die Gletscher sind wieder einmal schuld. So gut erhaltene Gletscherschrammen sind eine Seltenheit.

Ein herrlicher Pfad durch das rote Laub folgt dem neuen Steilufer - hier sehen wir einen der Kesseltümpel und den See direkt nebeneinander. Obwohl die kleinen Moore viel höher liegen, manchmal fast 20 Meter, sind sie gefangen, können nicht in den See abfließen.

Diese ganze Route um den Schmalen Luzin nennt sich übrigens Fridolin-Rundweg, benannt nach Fridolin dem frechen Dachs aus einer von Falladas Kindergeschichten. Erfährt man dann auch etwas darüber, was Fallada in seinem Heimatwald getrieben hat? Nein! Nicht das geringste. Die Tafeln erzählen nur von der Tierwelt, der Eiszeit und dem Teufel, dabei ließe sich die Strecke doch gut mit ein paar flotten Zitaten auflockern. Nein, wer wirklich wissen will, wie das Leben hier war, der muss "Heute bei uns daheim" lesen, ein kleiner Erzählband, in dem Fallada alles lebendig und eigentlich für seinen Geschmack zu privat (aber es hilft ja nichts, so kam das Buch eben aus ihm heraus) beschreibt.
Der Wald verändert sich, wird offener, feuchter und weißer - es kommen mehr Birken hinzu.

Wir überblicken auf einmal den ganzen Landstreifen zwischen den Seen, über die Wiese, bis zur Straße (in der Mitte) und dem Waldstreifen, der den Schmalen Luzin einschließt (hinten).

Mit dem Jagdpächter traf ich ein Abkommen, an welchen Stellen des Reviers ich meine Hunde frei laufen lassen durfte. Dort gab es nur Ginster, Schlehdorn, wilde Kaninchen, Wacholder und ab und an einen verlaufenen Hasen. Ich nannte es König Lears Heide. Ich bin überzeugt, sämtliche Hasen auf König Lears Heide kannten meinen Hund. Sie setzten sich gemütlich in Gang, hoppeln wie die Osterhasen der Kinder, und sahen sich fleißig nach ihm um. Er jagte, daß ihm die Zunge bis auf die Erde hing, sie legten kaum im Tempo zu.
Immer mehr Familien kommen uns entgegen, Kinder tollen den Weg entlang, "Hallo!" - "Hallo!", grüßen wir einander, doch ansonsten bleiben wir unter uns an diesem Tag der Familie.

Mit seiner Tochter und deren Freundinnen ging Fallada hier einer eher ungewöhnlichen Freizeitbeschäftigung nach: Kokeln. Wobei Kokeln hier bedeutet: Den Hang abfackeln.
Ich habe ein bestimmtes Ziel im Auge, einen langen Hang zum See hinunter, ab und an mit Ginster, Dornbusch und Brombeeren bestanden, aber sonst im Allgemeinen nur mit Thymian, einem kleinen kriechenden Moos und saurem harten Gras bewachsen. Es ist der jämmerlichste Boden der Welt, klingender Sand! Man hört die winzigen Steinchen hell aneinander klingen, lässt man den Sand am Ohr vorüberrieseln! Der Besitzer dieses schönen Hanges läßt ein paar Tage im Jahr seine Kühe dort weiden, was man auf solchem Boden weiden nennt: Das Vieh frisst sich hungrig.
"An der äußersten Ecke fangen wir an, dann jagt der Wind das Feuer über den ganzen Hang! Wenn wir's richtig machen, Mücke, müssten wir mit einem ganzen Streichholz den ganzen Abhang abbrennen können!"

Auf dem Hauptmannsberg genießen drei Männer paffend den Blick über den Carwitzer See und die Insel darin, auf die wir noch zu sprechen kommen. Sie haben das Plateau mit eigenartigen Fahrzeugen bezwungen - sind das E-Bikes oder schon M-Bikes, zu Motorrädern umgebaute Fahrräder? So oder so - aus eigener Kraft haben sie es jedenfalls nicht geschafft, trotz ihrer Muskelberge. Einer der hässlichen Stinker - ich meine natürlich das Fahrzeug - lehnte am hölzernen Geländer.
Mit eigenen Beinen marschierten wir die Wiese hinab und betraten zufrieden eine Straße von Carwitz.

Schon heute Morgen, zu Beginn des Fridolin-Wegs, hatte uns das Dorf beeindruckt mit einer Straße, die mit einer weiten Aussicht mehrere Meter über dem See verläuft - solch eine Strecke gibt es nicht oft in Mecklenburg!
Am Eingang des Dorfes drehte damals noch eine Windmühle ihre Flügel. Die Windmühle war und ist scheußlich, ein schwarzgeteerter Stumpf aus Mauersteinen, wie eine verräucherte Fabrikesse, allein die Flügel versöhnten ein wenig mit ihr. Unterdes sind diese Flügel abgefault und heruntergefallen, und die Windmühle, für die alle Winde umsonst wehen, ist nur noch scheußlich.
Ein wenig düster mag sie aussehen, aber scheußlich?

Hereinspaziert! Im Haus eines Schriftstellers

Jetzt aber! Schnurstracks steuern wir das Allerheiligste des Dichters an, auf dessen Wirken wir bislang keinen Hinweis entdeckt haben. Wir durchqueren einen modernen Garten, ein verschlungener Weg windet sich durch dekorative Konstruktionen aus Zierpflanzen - so wird der Fallada in Krieg und Nahrungsknappheit sicher nicht seinen Garten bewirtschaftet haben! Hinter dem Haus ist bereits die Scheune zu erkennen, umgebaut mit großen Glasfenstern, manchmal finden Lesungen darin statt, bei schönem Wetter auch draußen in einem kleinen Amphitheater. Auch in den Dreißigern parkte hier schon ein Auto: Nun ist unser Hof sehr eng, und die Garageneinfahrt, die auch noch in der Steigung liegt, noch enger. Der Wagen passt in die Garage hinein wie etwa eine Hand in ihren Handschuh.
Dann treten wir hinein zur Kasse. Ein Schild weist uns sofort darauf hin: Ja, das Museum koste zwar einen Eintrittspreis, aber trotzdem sei es ständig knapp bei Kasse und deshalb auf Spenden angewiesen. Den Grund dafür erfahren wir kurz darauf.
"Gehst du denn schon zur Schule?", fragt die Kassiererin meinen kleinen Bruder.
"Ja!", antwortet er stolz; wie jedes Kind lässt er sein Alter nicht gern zu niedrig schätzen.
"Du musst Nein sagen.", tadelt ihn die Kassiererin, und alle lachen. Mit gerunzelter Stirn zählt sie uns durch, und kommt zu dem Schluss "Dann sagen wir mal, eine Familienkarte, zwei Erwachsene mit Kindern" - ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Kinder offensichtlich längst erwachsen sind. Die ganz eigene Mathematik der Dame füllt das Hans-Fallada-Haus mit zufrieden lächelnden Besuchern - wirtschaftlich arbeiten kann das Museum so jedoch nicht! Fallada hätte sie bestimmt gemocht.
Als ich mir die Geschichte näher ansah, hatte ich ein langgestrecktes altes Fachwerkhaus von Herrn Pendel gekauft, das äußerlich gar nicht übel aussah. Früher - es soll 1848 nach einem Brand erbaut worden sein - war es ein Zweifamilienhaus, zwei Landarbeiter wohnten darin. In den letzten Jahrzehnten hatte aber immer nur eine Familie darin gewohnt: ein Viehhändler, ein Seradella-Händler, schließlich Herr Pendel. Daß keine Wasserleitung im Hause war, ist verständlich, natürlich gab es überhaupt keine Wasserleitung im ganzen Dorf, nur Brunnen. Daß dieser Brunnen bei uns direkt neben einem grün schimmernden Jauchetümpel lag, ist weniger schön. Und durch eben diese Jauche marschierte man zu einem Herzhäuschen, um sich den Pöx zu erkälten...

Heil war nichts, aber auch gar nichts in Haus und Hof. Im Winter wehte der Wind in die Zimmer, so daß die Gardinen in einem sanften Pendeln blieben, am Ofen schmorte man, am Fenster erfror man. Noch ein Jahr später lachten Suse und ich, wenn wir etwas aus dem Besitz des Herrn Pendel in die Hand bekamen: es war so sicher kaputt, wie das Amen in der Kirche fällig ist. Da war kein Schaufelstiel, der nicht abgebrochen, kein Baumpfahl, der nicht abgefault war. Von den Hämmern flogen die Köpfe durch die Luft, die Wagen waren wieder mit Stricken geflickt und brachen boshaft zusammen, die Klositze brachen unter einem zusammen, ein Ruderboot - später erwies es sich als verfault.

Es hängen keine Schilder in den Räumen des Museums. Stattdessen bekommen wir ein dickes Begleitbuch in die Hand gedrückt, in dem über jedes Zimmer mehrere Seiten vollgedruckt sind. Vieles davon ist mir herzlich egal: ob nun das Schränkchen, auf dem das Radio stand, das Original ist (links im Bild), das Radio darauf nicht von Fallada, aber immerhin derselbe Typ, den er hatte  - Telefunken Gross Super 776 GWK - solche Informationen brauche ich nicht unbedingt zu jedem einzelnen Gegenstand. Was geschah in diesem Raum? Wie kann ich mir den Alltag der Familie Fallada vorstellen? Nein, wer wirklich wissen will, wie das Leben hier war, der muss "Heute bei uns daheim" lesen.
Ein Gemälde - laut Museumsführer aus dem Familienbesitz - fällt auf - eine "Madonna mit Kind" mit recht dunkler Haut. Hing die hier schon im Nationalsozialismus? Das wäre mutig.
Gleich hinter dem Eingang ragt das Schreibzimmer auf: ein schwarzer Schreibtisch mit schwarzer Schreibmaschine, der repräsentative Thron eines Schriftstellers. Dabei war er hier direkt am Eingang nicht gerade ungestört. In Wahrheit schrieb Fallada von Hand und tippte danach alles ab - falls der Verlag gerade keine Schreibkraft zum Diktieren schicken wollte. In Wahrheit war das eher ein Wohn- und Bücherzimmer. Und in Wahrheit arbeitete Fallada wie folgt:

Ich nehme all meinen Mut zusammen, ich benutze einen Augenblick, da ich mit Suse allein bin, und sage zu ihr: "Du, Suse, ich glaube, ich fange wieder mit dem Arbeiten an...."
"Oh Gott, Junge!", ruft sie und schaut mich erschrocken an. "Schon wieder? Du machst eigentlich überhaupt keine Pause mehr zwischen deinen Arbeiten."
"Ich habe jetzt volle drei Wochen pausiert. Ich habe die Bücher neu geordnet, und das Bücherverzeichnis ist auf dem laufenden, auch das Schallplattenverzeichnis. Alle Photos sind eingeklebt, alle Schränke geordnet. Es wird ja nur ein Romänchen, dreihundertfünfzig, höchstens vierhundert Druckseiten."
"Und in welchem Zimmer willst du diesmal arbeiten?"
"Ich nehme das Balkonzimmer. Es ist doch am ruhigsten. Man hört dort nichts vom Hof und von der Küche."
"Aber wenn jemand im Garten ist, wirst du gestört."
"Das wird ja diesmal alles gar nicht so schlimm. Ich bin augenblicklich auch gar nicht so geräuschempfindlich und schlafe für meine Verhältnisse ganz gut."
Ich glaube alles, was ich ihr gesagt habe. Ich hoffe, daß es so kommt, ich wünsche es.
Aber im geheimsten Inneren weiß er, dass vielleicht alles anders kommt in einem Haushalt voller Kinder, Tiere und Angestellter. Es wohnt sich gefährlich mit einem jähzornigen, pedantischen Schriftsteller im Haus!
Ansonsten hatte er sich noch zwei eiserne Regeln auferlegt: Sprich mit niemandem über den Inhalt, ehe der erste Entwurf fertig ist! Und erfülle, ach was, übererfülle dein Tagespensum an Seiten (ein wenig wie ich mit dem Kilometerpensum auf Radtouren)!

Zum Boden führte eine wacklige Stiege empor. Dort oben gab es Heureste, einen zertretenen Lehmboden und einen Verschlag für das etwaige Mädchen.
Das ist lange her! Heute führt eine sichere Holztreppe zu einem voll ausgebauten Dachgeschoss. Dort oben gibt es einen Filmraum, Mitarbeiterräume (quasi die heutigen Vorschläge für die Hausmädchen) und einen Schrank voller originaler Manuskripte und Illustrationen.

Die Küche wurde von Fallada gehörig modernisiert und ausgebaut - sogar mit Elektroherd! Keine Kleinigkeit in einem Dorf ohne Wasserleitungen! Aus heutiger Sicht wirkt sie dennoch recht klein für eine Familie mit drei Kindern plus Angestellten. An der Wand hängen schwarzweiße Fotos aus jener Zeit, wenn auch nur mit recht knappen Erklärungen. Verwirrt versuchen wir, die Menschen den Personen im Buch zuzuordnen - denn Fallada hatte natürlich Pseudonyme benutzt.
Seine Köchin neigte zum Chaos: Mittags sah die Küche aus wie ein Hausstandsladen, abends konnte man nur mit Vorsicht über die Barrieren hinwegkommen. Es ist wirklich gut, dass Barrierefreiheit inzwischen so wichtig ist und man die Küche deshalb nicht in diesen originalgetreuen Zustand versetzt hat!

Mit heiligem Ernst tappen Fallada-Fans in Hülle und Fülle durch die Räume. Sie sitzen auf der verglasten Veranda und blicken über den Garten und den Carwitzer See. Sie lauschen einem Audioguide, der den Inhalt des Museumsführers widergibt. "Damals bei uns daheim" ist für sie ohnehin Pflichtlektüre, sie können es vermutlich auswendig - und lechzen nun nach den letzten Details über das kleinste Gemälde in der hintersten Ecke.

Nun, ganz so ein Fallada-Experte bin ich nicht. Erst diesen Ausflug habe ich zum Anlass genommen, mir Falladas "Erwachsenenbücher" vorzunehmen - vorher kannte ich nur seine Kindergeschichten. Zum Beispiel die von der gebesserten Ratte, die mit den Menschen zusammenleben will und dabei doch nur Mist baut. (Auch sein eigenes Haus nannte er anfangs ein Paradies der Ratten und Mäuse.) Die Figuren der Geschichten aus der Murkelei finden sich - aus Holz geschnitzt - auf dem Carwitzer Kinderspielplatz wieder: die Ratte lehnt am Klettergerüst, das Unglückshuhn wacht über der Schaukel. 

Alle Geschichten testete Fallada vorher an seinen Kindern, und die Originalausgaben stehen in einer Vitrine im Kinderzimmer seiner Tochter (das Zimmer seines Sohnes dagegen dient als Behindertentoilette). Die jungen Besucher des Museums erhalten dazu ein Rätselheft mit durchaus kindgerechten Aufgaben.
Im Garten des Fallada-Hauses soll sich angeblich ein Steinhaufen befinden, in dem der "blöde Schweineigel" wohnt: das Stacheltier klaut einem chronischen Igelhasser die Früchte, einer Art Herrn Paschulke, der keine Ahnung von Natur hat. Der Mann scheitern daran, den Igel mit allen möglichen Mittel loszuwerden, bis dieser ihn vor einer Kreuzotter rettet und sie gute Freunde werden.
Aber welcher Steinhaufen im Garten genau das Vorbild für das Haus des Igels gewesen sein soll, das bleibt uns ein Rätsel.

Falladas Bienenhaus dagegen erkennen wir auf den ersten Blick.
Vor meinem Bienenhaus stehen an die zwanzig Obstbäume, Halbstämme gut mannshoch (inzwischen längst höher), weitläufig über eine grüne Graskoppel verteilt. (Leider erfroren sie in den schweren Wintern von 1939 und 1940, und auch die Nachfolgebäume immer wieder.)
Weil diese Obstbäume nicht genug bestäubt wurden, wurde Fallada eher unfreiwillig zum Imker, von seinem Gärtner überredet - und dann immer entsetzter über all die teure Spezialausstattung, die dieses schon damals zutiefst nerdige Hobby verlangte!

"Und dann haben die Bienen ja auch noch keinen richtigen Stand. Hier so auf den Brettern unter Dachpappe, das ist doch nur behelfsmäßig. Nur so ein kleiner Bretterschuppen!", flehte er.
"Unterstehen Sie sich!", schrie ich. "Eine Bude kommt nie und nimmer auf mein eigen Land! Ich soll wohl von meiner eigenen Veranda ewig auf Schalbretter starren? Nein, wenn gebaut werden muß, dann soll auch anständig gebaut werden."

Und in der Folge entstand ein Bienenaus, aus Eiche und Felsengestein gefügt - noch späte Geschlechter werden es sehen können, wenn mein Leib längst zu Asche geworden ist.
Wie wahr! Wobei uns späten Geschlechtern zugutekommt, dass das Bienenhaus 2017 originalgetreu restauriert wurde. Wir konnten die Kästen gefahrlos öffnen: Bienen wohnen keine darin, ihre Nachfahren summen jetzt wieder in "behelfsmäßigen" Ständen - aus Kunststoff statt Lehm und Stroh - durch Carwitz.
Überall waren Klappen und Türen und Schlitze und lose Bretter und Gitter und Holzrahmen und Keile - du lieber Himmel, dies kapierte ich nie!
Aber Widerstand war zwecklos: irgendwann wurde Fallada selbst zum Bienennerd.
Was ist es denn, das einem das Herz schneller klopfen macht, wenn man das Gesicht über die von fremden Leben wimmelnde Wabe neigt, dieses Gesicht, von dem die Tiere nichts wissen - ? Wie ein bleichen Mond ist es über ihnen. Es ist nicht die Freude darüber, dass ein solches Volksgewimmel eine reiche Honigernte verspricht, so materiell klopft mein Herz nicht. Ach, es ist ein seltsam seliges Glück, ein bißchen Herrgott zu sein - über einer Bienenwabe.
Na, wenn das so ist - keine Profitgier also, nur ein Gottkomplex!

Nur am Rande erwähnt werden übrigens der Krieg und die Nazis und in diesem "Heute bei uns daheim". Zu denen hatte Fallada ein seltsames Verhältnis: Die SA verhaftete ihn einmal wegen kritischer Aussagen, seine Darstellung der kleinen Leute und Strafgefangenen aus eigener Erfahrung widersprach der geltenden Ideologie, und so hetzte die rechte Presse gegen ihn, bis er depressiv wurde. Andere Romane durften wegen Kritik an der Weimarer Republik auch nach 1933 erscheinen und wurden gelobt. Einen wollte Goebbels umschreiben, einen anderen verbieten, oder ihn überzeugen, einen antisemitischen Roman zu schreiben. Fallada verlegte sich dann doch lieber auf das Schreiben von Kindergeschichten über Mäuschen und freche Dachse, aber schon 1946 lieferte er den weltberühmten Roman "Jeder stirbt für sich allein" über ein Dissidenten-Ehepaar, basierend auf echten Gestapo-Akten. Ob Täter, Opfer, Retter oder Opportunist - keine Figur darin ist so, wie man sie erwartet, ohne dass die Zeit dadurch im Mindesten verharmlost würde.

Kürzlich hatte ich Marc-Uwe Klings "Der Spurenfinder" gelesen, in dem sich ebenfalls ein Vater zweier Kinder aus der beruflich nervenaufreibenden und für ihn immer gefährlicheren Hauptstadt in das denkbar ruhigste Dorf begibt. Ich frage mich, ob Kling je in Carwitz war. Man vergleiche nur:
Gelegen zwischen dem Schönen See und dem Wilden Wald (die Namen mögen trauriges Zeugnis von der Kreativität seiner Bewohner ablegen) ist das Dorf wortwörtlich eine Sackgasse.
und
Mahlendorf liegt ganz abseits, keine größere Straße führt auch nur in der Nähe vorbei, keine Fremden, kein Durchgangsverkehr bringen frisches Leben in den Ort. Mahlendorf liegt auch auf einer Halbinsel, auf allen Seiten von Seen umgeben.

Mitten durch das Dorf fließt die Bäk, an der sich einst eine Wassermühle drehte.

Dabei ist Carwitz keineswegs ausgestorben! Nein, im Gegenteil! Bisher hatte ich es nicht gewusst, aber beim Dorfspaziergang lerne ich langsam, dass Carwitz ähnlich wie Basedow eine Oase im mecklenburgischen Leerland darstellt, voll mit Gasthäusern und Cafés. Ist das alles Falladas Ruhm zu verdanken oder doch eher der besonderen Landschaft?
Nach dem Museumsbesuch verziehen wir uns in ein modernes Restaurant. Ich blättere in einem Klemmbrett, das als Speisekarte dient, und es lockt mich direkt, Dinge zu bestellen, die etwa heißen: Carwitz-Burger, Funky Carwitz (ein köstlicher Cocktail), Luzinwasser und Sex on the Bäk. Der letzte Name verschafft mir einen Lachanfall. Mein kleiner Bruder fragt verwirrt, was lustig sei, und rasch verdeckt unsere Mutter die Speisekarte vor seinen Augen.
Man kann eine ganze Menge Geld in solchem Zeug verläppern, o ja, das kann man. (Und das tut man auch!)

Mit vollem Magen unternehmen wir noch einen Verdauungsspaziergang auf eine Insel hinter dem Fallada-Haus, nur durch einen dünnen Wasserlauf und eine Brücke von der Halbinsel abgetrennt.
An den Ufern unserer großen Seen gibt es mit hohem Schilf bestandene Niederungen, für den Menschen, der trockene Füße liebt, selbst im Hochsommer unbestreitbar, für Hunde aber eine ideale Spielstube. Und da stand ich am Rand der Niederungen, ich brüllte mir die Seele aus dem Leib, ich pfiff wie eine Lokomotive.

Es geht noch einmal überraschend hoch hinauf auf dieser Insel, und so haben wir einen Rundumblick über den Carwitzer See.
Kurz nachdem wir uns in Mahlendorf (Pseudonym für Carwitz) angekauft hatten, machte ich mit meinem Sohn Uli eine kleine Ruderfahrt auf dem Mahlendorfer See. Dort hatten wir auf einer jener kleinen, buschigen Inseln angelegt und Entdeckungen gemacht: reife Himbeeren, eine lila großblütige Wickenart, wie ich sie noch nie gesehen, und unzählige junge Wildenten. Ich liebe solche Inseln, sie erinnern mich immer an die Robinson-Träume meiner Knabenjahre. Ich war damals noch nicht der sichere Ruderer, der ich heute bin, und für einen Unkundigen haben unsere Seeen mit an manchen Stellen starken Strömungen und vor allem mit riesigen Felsbrocken dicht unter der Wasseroberfläche einige Schwierigkeiten. Hinweg mußte ich uns mühsam mit einem Ruder staken, alle Augenblicke saßen wir im Schilf oder auf einem Stein fest.
Aber endlich sah ich durch das dünner werdende Röhricht freies Wasser vor mir. Ich gab mit dem Stakeruder einen letzten Schwung, das Ruder saß fest, ich wollte es nicht lassen, kräftig rauschte der Kahn unter meinen Füßen fort - und von der eigenen Kraft hineingeworfen zappelt ich im See.
Als ich reichlich verärgert aus dem Wasser tauchte, meine Hand an den Bootsrand legte, sagte mein Sohn Uli flehend ohne alle Schadenfreude: "Bitte, Papa, nochmal! Ich hab's nicht genau gesehen."

Am Ufer besteigt ein kleines Mädchen gerade einen Baum. Seine Eltern rufen ihm zu, es solle bloß vorsichtig sein und nicht noch höher und überhaupt die Kletterei am besten ganz sein lassen. Das irritiert mich, denn die Höhe des Kindes liegt bei deutlich unter einem Meter über dem Erdboden.
Erst mit etwas Abstand sehe ich, dass da noch ein zweites Kind ist - so hoch oben in der Baumkrone, dass ihm die die Luft vermutlich schon dünner wird.

Auf dem Rückweg durch das Dorf betreten wir noch den Friedhof. Es ist nur logisch, dass wir die Fallada-Wanderung am Grab Falladas beenden - sogar die Platte nennt nur seinen Künstlernamen, der echte, Rudolf Ditzen, steht nur auf dem separaten Gedenkstein und Wegweiser.
Eine wunderliche Welt ist dies, mit wunderlichen Menschen! Und wenn ich wirklich, wie meine Lebenslinie aussagt, hundertsechzehn Jahre alt werde, ich werde nicht viel klüger als heute in die Grube fahren.
Nein, die Lebenslinie log. Es nahm kein schönes Ende mit Fallada. Sein Leben geriet erneut aus den Fugen, seine Tochter verstarb, sein Alkoholproblem kehrte zurück und seine Ehe ging in die Brüche. Im Streit schoss er betrunken in einen Tisch und wurde verurteilt wegen versuchten Totschlags an seiner Exfrau, die das Haus nun allein (noch bis 1965) bewirtschaftete. Da überrascht es doch, dass sie sich dafür eingesetzt hat, dass sein Grab nach Carwitz einige Meter neben ihr Familiengrab verlegt wird - noch immer durch Familienbande verbunden, aber auch in klarer Distanz. Abseits liegt er und blickt über den Schmalen Luzin.
Seine neue Frau und er waren beide morpheinabhängig, und er starb, als sie ihm aus Versehen zu viel Schlafmittel gab. Ob er ohne den ständigen Stress durch das Naziregime, das er nur um zwei Jahre überlebte, auf der richtigen Spur geblieben wäre? Das ist nicht sicher. Genialer Künstler, kaputter Mensch - leider ist das damals wie heute eine viel zu häufige Kombination.

Nun habe ich diesen Blogpost praktisch nur über Fallada geschrieben und viel zu lange Zitate eingebaut. Ich weiß nicht, ob all diese Details und mein eigener kläglicher Versuch, Fallada zu imitieren, irgendeinen Menschen interessieren könnten. Aber ich weiß, dass ich dies jetzt, zu dieser Stunde, am 8. Mai 2024, an einem beliebigen Wochentag, niederschreiben musste.

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