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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

07 September 2024

RDE: Von Gatersleben nach Staßfurt

30 Kilometer lang ist diese Verbindungsstrecke zwischen Selke und Bode. Die Selke mündet zwar sowieso in die Bode, aber weil die Bode noch so einen ausladenden Bogen macht, kürzt der Radweg Deutsche Einheit den lieber ab.
Und auch, weil dadurch noch ein anderes Gewässer auf seinem Weg liegt.


In Gatersleben an der Selke beginnt ein kurzer Bahnradweg aus glatten Platten, der zielstrebig und unspektakulär übers Feld zieht. Bei 30 Grad bekommt man einen relativ guten Eindruck, wie sich hier wohl damals die Heizer der Lokomotiven gefühlt haben.


Wow, was für eine hässliche Kirche Friedrichsaue hat! Nein, die Orte auf dieser Strecke sind nicht der Rede wert. Kein Wunder, dass die Route die Straße bald wieder verlässt, es gibt etwas Besseres.

Bei Schadeleben befindet sich das Harzer Seenland. Es liegt nicht mehr wirklich am Harz, und es ist auch kein richtiges Seenland. Jedenfalls nicht für jemanden, der aus MV kommt. Die Anzahl der Seen beträgt (halten Sie sich fest): 2.
Der Concordia-See und der Königsauer See, das wars. Schade. Aber immerhin: Beim ersten Blick auf den Concordia-See war ich schon beeindruckt. In dieser seltsamen, staubtrockenen Landschaft, die weder richtig flach noch richtig bergig sein will, liegt plötzlich diese weite Wasserfläche mit braunen Wänden. Als wäre einer der Stauseen aus dem Harz geflohen und noch unsicher, ob das wirklich so eine gute Idee war. Natürlich ist das Blödsinn: Hier wurde Braunkohle ausgebaggert und das Loch hinterher geflutet. Doch das Baden in diesem See ist nicht ungefährlich: 2009 rutschten die Erdwände nach unten und der ganze See musste gesperrt werden. Inzwischen kann man wieder Boot fahren und baden, zumindest in einem begrenzten Strandbad mit Eintritt.

Der Rest des Ufers ist gesperrt: Kein Zutritt, Bergbaugebiet! Aber in sicherem Abstand über dem Ufer wurde hier gerade erst ein frischer, schöner Radweg geteert, der RDE macht völlig zu Recht diesen Haken nach Süden zwischen den beiden Seen. Das staubig-gelbe Gras und die kleinen geduckten Hecken lassen das Ufer aussehen wie eine Prärie. Kühe grasen hier tatsächlich.

Das war auch schon alles Interessante auf dieser Strecke. Der restliche Radweg geht einmal diagonal durch die Felder. Es sieht aus wie der Bahnradweg vom Anfang, ist aber offenbar keiner. Hinter dem letzten Hügel taucht schon eine Stadt aus weißen Schornsteinen und Kuppeln am Horizont auf, das Industriegebiet von Staßfurt. Wie der See ein surrealer Anblick. Wahrscheinlich sieht einfach alles surreal aus, das plötzlich hinter diesen ewigen, flimmernd heißen Feldern erscheint.

Nach einem kurzen Stück an der Bode bin ich dann auch schon in Staßfurt angekommen. Der RDE folgt der Bode bis nach Nienburg an der Saale, und dann geht er wieder nach Süden (och Mensch, und er hat es doch gerade erst so weit nach Norden geschafft) nach Bernburg an der Saale. Aus irgendeinem Grund nicht direkt an der Saale, obwohl die Strecke super ist, sondern etwas abseits auf einer Nebenstraße am Ostufer.

06 September 2024

Selke: Von Friedrichshöhe nach Hedersleben

Mitten im Ostharz liegt eine flache und eintönige Ebene. Bei meiner ersten Fahrt mit der Selketalbahn konnte ich kaum glauben, dass ich mich noch in einem Gebirge befinde. Aber keine Sorge: Der heutige Fluss beginnt erst dort, wo die Ebene langsam wieder interessant wird. Nämlich hinter Stiege, und wie der Name schon sagt, wird dort nach unten gestiegen.


Nicht immer war es so leer: Hier wuchs auch mal Wald, den haben die Bergleute gerodet. 
Am Panorama Brockenblick sieht man... den Brocken. Auf diesen platten, vor Hitze wabernden Feldern wirkt er wie eine Fata Morgana.

Und ein paar hundert Meter weiter entspringt die Selke gleich bei den Gleisen. Die Quelle ist viel zu zugewachsen, um sich ihr zu nähern. Zwei Pflanzen fühlen sich an der Selke besonders wohl: Brennnesseln und dieses violette Trompetenkraut (ja, sorry, ich habe den Namen vergessen). Sie schießen über einen Meter in die Höhe und sorgen dafür, dass niemand dorthin wandert, wo er nicht hinsoll.

Immerhin ist der Waldweg am Rande des Tals halbwegs in Ordnung. Um den Fluss dann auch mal zu sehen, musste ich aber auf einen Waldweg abbiegen, der nicht ganz so in Ordnung war, sondern zuerst voller fetter Wurzeln und dann voller fetter Pfützen. Unter den Pfützen strömte die flache, tiefschwarze Selke dahin. Sie schneidet bloß um ein paar Meter tief in ihre flache, zugewachsene Umgebung ein.
Kein einziger Wanderer trieb sich hier herum. Wo sind alle?

Auch Karl der Große war anscheinend der Meinung, dass hier Menschen hingehören. Zumindest vermutet man, dass er das Dorf Silicanvelth gegründet hat. Doch das erste Dorf an der Selke gibt es schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich ist Selkenfelde noch vor dem Dreißigjährigen Krieg - schon vorher ging es nicht gerade friedlich zu - verwüstet worden. Zumindest gibt es ab 1500 absolut keine Infos über das Dorf. Nur die Hohlwege verraten, wie die Selkenfelder einst zur Straße gekommen sind. Irgendwo soll sich noch die Ruine der Kirche verstecken. Aber der Pfad durch die Brennnesseln setzte mich an einem Riesenhaufen toter Bäume aus, und nirgendwo war mehr irgendeine Art Weg zu erkennen.
Nein, das hier ist nicht gerade ein touristischer Hotspot.
Aber einen Harzer Wanderstempel gibt es trotzdem.

Boah, nee, lieber zurück zur Straße. Der erste Bahnhof an der Selke heißt Friedrichshöhe und gehört zum Ort Albrechtshaus. Das ist der letzte Abschnitt der Selketalbahn, der fertiggebaut wurde. Ich kann mir gut vorstellen, warum. Aber nein, es hat noch einen anderen Grund als das Gelände: Die Herzogtümer Braunschweig und Anhalt grenzten hier aneinander, das machte alles natürlich noch komplizierter.
59 Menschen lebten hier, und für die wurde extra ein Bahnhof eingerichtet. Heute unvorstellbar.

Ich stellte mich unsagbar doof an, indem ich versuchte, die auf Schildern angekündigte Baustelle auf der Straße zu umfahren. Lange holperte ich auf dem nächsten Waldweg durch die Wildnis, bis es echt nicht mehr weiterging und ich über eine Brücke zur Straße wechselte. Gleich kommt der nächste Ort, da liegt die Baustelle sicher schon hinter mir?

Von wegen. Die Baustelle kam erst noch, und Samstags konnte man problemlos durchradeln. Mein ganzer Umweg war sinnlos gewesen. Mist, diese Wege hier haben mich schon viel Zeit gekostet. Ob das heute noch was wird?
Die Selke wird hier zum Bergsee Güntersberge gestaut.

Der See ist mir schon bei meiner ersten Fahrt mit der Selketalbahn aufgefallen (auch das Bild zeigt den Blick aus dem Zug), weil die Günhersberger begeistert darin schwammen, und zwar direkt an der Mauer. Moment, ist das da ein Sprungbrett auf der Staumauer?
Nun wollte ich den See selbst austesten. Doch das Gartentor zur Staumauer blieb mir verschlossen, und niemand schwamm trotz brütender Hitze. Ich fragte nach einer Badestelle, und es hieß, ich müsse ein Stück am See zurückfahren. Uff, danke, dann doch lieber weiter.

Güntersberge besteht aus besonders schiefen (rechts) Fachwerkhäusern.

Danach verlässt die Straße das Tal, macht aber nichts, diesmal sind die Waldwege okay. Die Selke strömt flach über flache Steine dahin. Kein Wunder, dass man sie gestaut hat, dieser Fluss will sonst einfach nicht tiefer werden.

Auch ein Nebenbach wird zum stattlichen Elbingstalteich aufgestaut, der von Anglern statt Schimmern frequentiert wird.

Dieses Tipi aus dünnen Baumstämmen ist eine Köte. Das ist Harzer Slang für Köhlerhütte. Solche Köten standen auf allen kreisrunden, gerodeten Lichtungen. Beweisstück A: Wenn man ein paar Zentimeter tief gräbt, kommt schwarz verkohlte Erde zum Vorschein.
Die Köhler mussten von Mai bis November in so einem Teil wohnen und verdienten damit noch nicht mal besonders viel Köhle. Dabei war die Kohle, die sie brannten, durchaus systemrelevant. Zumindest, bis die Industrialisierung billigen Steinkohlekoks per Bahn brachte. In der kühlen Köte für ein paar Minuten zu entspannen, ist sehr viel angenehmer, als mehrere Monate drin zu leben. Es wird davor gewarnt, eine Feuerstelle anzulegen? Glaub mir, liebe Forstverwaltung, das ist das letzte, wonach mir gerade der Sinn steht.

Rund um die Selke gibt es mehrere Orte, die offenbar daran gescheitert sind, den Namen der Stadt Straßburg im Elsass richtig abzuschreiben. Ich habe mehrmals Straßberg und Staßfurt verwechselt, aber jetzt beim Schreiben habe ich es nochmal überprüft: Das hier ist Straßberg, und dort fiel mir dieser rätselhafte Mauerbogen ins Auge.

In Silberhütte strömt die Selke durch die kleinste Fischtreppe, die ich je gesehen habe.
Die Gleise der Schmalspurbahn musste ich wieder und wieder und wieder überqueren, irgendwann wünschte ich, die Straß würde sich endlich mal für eine Seite der Gleise entscheiden. Aber hey, immerhin fährt der Zug so selten, dass er mir nie in die Quere kam.

Ab Straßberg konnte ich auf der Straße durchfahren. Die Waldwände und Felsen am Wegesrand wuchsen immer weiter in die Höhe, und so taucht die Selke ein in ein richtiges Tal. Nun sieht es nach einem Gebirge aus!

In Alexisbad ist zwar auch nicht gerade viel los, aber immerhin beginnt an diesem Wellnesshotel das klassische Selketal mit richtiger Berglandschaft und guten Wanderwegen.

Und nun muss ich noch ein paar Worte mehr zur Selketalbahn verlieren. Die Selke ist nämlich der einzige Fluss, an dem das Anreise-Transportmittel zugleich auch das größte Highlight darstellt. Ist die Dampflok einmal von der endlosen Hochebene runtergedampft und nähert sich Alexisbad, wird es richtig großartig. Von den drei Schmalspurbahn-Linien durch den Harz ist das hier vielleicht die unbekannteste, aber die älteste und beste.
Die Dampfloks müssen in Alexisbad (aber nicht nur dort) Wasser nachpumpen, was gerade für die Kinder ein großes Spektakel darstellt.

Ein Jackpott ist es, wenn der Gepäckwagen hinten statt direkt hinter der Lok hängt. Dann hatte ich die beste Sicht auf dem Podest des ersten Wagens, direkt hinter der Lok... nanu, regnet es etwa? Nein, die Lok hat mich mit Wasser vollgesprüht, und jetzt kommt Dampf, na so waah, was brennt da in meinen Augen? Vielleicht gehe ich doch lieber rein.
Wer schön sehen will, muss leiden.

Falls das nichts für Sie ist: Keine Sorge, es verkehren nur noch mikroskopisch kleine Dieselzüge. (Die Entscheidung, Dampfloks im Selketal komplett zu streichen, wurde inzwischen offenbar revidiert.) Es gibt eine modernere und eine uralte Variante der Dieselwagen. In der modernen befindet sich noch eine Schiebetür zwischen Fahrer und Fahrgästen - sie steht halt nur immer offen. In der uralten gibt es wirklich nur einen einzigen Raum. Laut Schild darf man den Fahrerbereich nicht betreten, aber dort befindet sich die einzige Tür - wer sich an die Regeln hält, bleibt für immer und ewig im Zug gefangen. Man schaut dem Fahrer praktisch permanent über die Schulter.
Denn dort gibt es eine Menge zu sehen! Die Bahn windet sich an den Talseiten auf und ab, direkt neben dem Fluss oder auf einem Abhang viele Meter darüber. Und immer wieder zwängt sie sich durch extrem enge Felsschluchten. Die Felswände ziehen direkt hinter dem Fenster vorüber, man könnte die Hand ausstrecken und sie berühren. Bei dem Tempo wäre das womöglich nicht mal gefährlich. (Aber machen Sie das bitte trotzdem nicht.)

Nicht zu sehen ist dagegen der Selke-Wasserfall, für den muss man schon wandern (oder zumindest radeln, dann seht man ihn auf der Straße aus der Ferne). Den haben die Menschen aus Versehen erschaffen, als sie weiter oben einen Teich stauten. In mehreren Armen stürzt die Selke über mehrere überraschend rechtwinklige Felsstufen. Es ist der einzige Wasserfall im Harz, in dem es sich richtig gut und relativ sicher baden lässt. (Keine Ahnung, ob das erlaubt ist, aber mit ein bisschen Verstand aus meiner Sicht kein Problem.) Und im Hochsommer ist eine harte Dusche zwischen seinen Felskanten genau das richtige.

Dahinter folgt der radikal minimalistische Bahnhof von Drahtzug. Die Bahn macht sich meistens noch nicht mal die Mühe, hier anzuhalten, wenn man den Fahrer vorher nicht ausdrücklich darum gebeten hat.
Die Dorfnamen wie Drahtzug, Stahlhammer und Hammer II (ja, genau so stand das auf dem Ortsschild) verraten, dass Tourismus nicht immer das einzige war, von dem man hier leben konnte.

Hinter Drahtzug bin ich mal auf der östlichen Seite die Berge raufgestiegen. Oben liegt der Mägdesprung: Nach dem Bodetal gleich noch eine Stelle, an der ein Abdruck im Fels angeblich beweist, dass hier irgendwer quer über's Tal gesprungen ist. Diese Sage gibt es wohl in vielen Varianten, aber die Selke-Variante ist wesentlich harmloser als an der Bode:
Eine Riesin will ihre riesige Freundin aus Thüringen besuchen, die ihr von drüben zuruft, sie soll springen. Ein Bauer lacht, weil die Riesin sich nicht traut. Daraufhin packt sie den Bauern komplett mit Pferdefuhrwerk in ihren Rock, hüpft rüber und setzt ihn in deutlich weniger vorlautem Zustand auf der anderen Seite ab. Ende. Ach wie nett, da stirbt ja nicht mal jemand. (Von solch friedlichen Verhältnissen können die Riesinnen an der Diemel nur träumen.)

Auch die nächste Ortschaft heißt Mägdesprung, und hier ist das klassische Selketal nach nur drei Kilometern auch schon zu Ende. Wohlgemerkt: Drei Kilometer Radfahren auf der Straße, auf den Wanderwegen (vermutlich sogar auf den gewundenen Bahngleisen) ist es deutlich mehr.
Die Landschaft bleibt zwar noch toll und die Waldwege gut, aber die Bahn verzieht sich aus dem Tal in Richtung Gernrode und Quedlinburg, und wenig später auch die Straße. Das war der allererste Abschnitt der Harzer Schmalspurbahnen, der 1887 eingeweiht wurde - und gleichzeitig bis heute der steilste.

Übrig leiben zum Beispiel die Hirschklippen und, ganz ehrlich, das reicht ja auch. Vor 330 Millionen Jahren wurde das Gestein gefaltet. Soweit man weiß, von Erdplatten und nicht von einem Hirsch.
Dennoch vermisse ich die Straße ein kleines bisschen, da war so wenig los, dass ich sehr gern drauf gefahren bin. Dabei beginnt der eigentliche Selkeweg für Fahrräder erst hier (und geht auch nur bis zum Harzrand).

Die Selke strömt inzwischen breiter um kleine Steine und Felsplatten am Ufer und stürzt hier und da noch kleine Wasserfällchen runter. An der Lampenbrücke erreicht das Selketal seine schmalste Stelle. Woher der Name kommt, das weiß man heute nicht mehr. Aber, hm, es ist nicht so abwegig, dass man in diesem schattigen Grund schon früh am Abend eine Lampe braucht.

Es bleibt nicht die letzte Holzbrücke. Was vorher die Bahnübergänge waren, sind jetzt die Brücken, auf denen ich den Fluss wieder und wieder und wieder überquert habe. Allmählich wurde das Tal wieder breiter und heller.
Auf dem Infopfad lernte ich, dass sich Heinrich Heine in die sanfte Selke verliebt hat, weil er reingeplumpst ist und das Gefühl hatte, die Selke würde ihn auf sympathische Weise auslachen. Nun, so etwas bringt die Phantasie eines Dichters wohl hervor, wenn das Hirn nicht wie im Bodetal damit beschäftigt ist, einfach nur BOAH! zu denken. Damit die Selke auch heute noch über die Menschen kichern kann, wurden an ihrem Ufer einfache Sportgeräte und ein Tierspuren-Memory aus Holz zusammengezimmert.

Wasserfall, Bahn... und dann hat die Selke noch einen dritten Höhepunkt, und der liegt von allen dreien am höchsten. Ihn habe ich schon letzten Herbst besichtigt.
Ich fuhr (ach nee, ein umgestürzter Baum) schob einen steilen Pfad hinauf. Aus dem Wald schälten sich die Konturen meines Zwischenziels. Oben angekommen kam ich zuerst an einem seltsam geformten Gedenkstein der Nazis vorbei. Er gedenkt jedoch einem Mann, der es tatsächlich wert ist, gedacht zu werden. Als nächstes bestieg ich die bröckelnden Reste eines Turms. Dahinter taucht das erste von insgesamt vier Toren auf, die mich hineinbringen in die Burg Falkenstein. DIE Burg im Harz nennt sich das Bauwerk, und durchaus zu recht: Alles, was ich sonst bisher im Harz gesehen habe, waren entweder Schlösser oder kaum erkennbare Ruinen.
Auf dem Fels türmt sich eine chaotisch zusammengemörtelte Steinmauer, und darüber wie eine dekorative Krone noch ein bis zwei Fachwerk-Stockwerke. Anders als auf der Wartburg wurden die neueren Anbauten nämlich nicht neben, sondern auf das alte Zeug gesetzt. Beeindruckt trat ich durch das Tor und wanderte zur Kasse. Gerade wollte ich zahlen, da "Hey!" eilte die Kassiererin nach draußen, um ein paar Geizhälse zu stoppen, die einfach über die Absperrung gestiegen waren.
Bereits der Ausblick über das Selketal ist kostenpflichtig, dafür aber gleich doppelt enthalten - einmal von den Mauern und einmal vom Bergfried. Große Schwärme von Zugvögeln inklusive.

Ich durchschritt Tor um Tor um Tor, bis ich mich irgendwann richtig in der Burg befand. Das heißt, zumindest in ihrem Innenhof. Jetzt musste ich nur noch Tür um Tür um Tür durchschreiten, und dann würde ich mich irgendwann tatsächlich im Burgmuseum befinden. Zur Auswahl stehen jede Menge Türen. Einen richtigen Rundgang hat das Museum nicht, hinter vielen Türen und Durchgängen verbergen sich Sackgassen. Die meisten davon führen nur in einzelne Zimmer, zum Beispiel die Burgküche, einen Keller voller uralter zurechtgehauener Steine oder eine kleine Filmausstellung. Eine Menge Märchen wurden hier gedreht, und als ostdeutscher Nachfolger der Marksburg am Rhein durfte Burg Falkenstein auch im neuen Löwenzahn auftreten (aber anders als die Marksburg musste sie ihren Namen ändern). In einem reichlich bizarren DDR-Kinderfilm erwachen die Figuren einer Geisterbahn zum Leben und versuchen, die Macht in der Burg mittels akustischer Kriegsführung zu übernehmen. Diese Szene können die Kinder im Museum nachstellen, indem sie wie irre Glocken läuten und auf Waschbretter hämmern. Da kommt Freude auf.
Noch am meisten mit der echten Burggeschichte hat aber die Folge Polizeiruf 110 zu tun, in der es um ein verschollenes Rechtsbuch geht.

Um das Jahr 1220 lebte in diesem Gebiet ein wilder Mischmasch an verschiedenen Stämmen: Friesen, Slawen - und Wessis, die versuchten, den Osten zu kolonisieren und ihre eigenen Gesetze mitbrachten. Graf Hoyer von Falkenstein wollte in diesem juristischen Chaos durchblicken und beauftragte den Mann der Stunde: Eike von Repkow. Viel weiß man nicht über Eike, außer dass er in einigen Gerichtsprozessen als Zeuge auftrat und wohl schon irgendwie ein bisschen was juristisch gelernt hatte. Zumindest wissen wir dank des Glasfensters (links) ungefähr, wie er aussah.
Eike schrieb also den Sachsenspiegel, das erste Rechtsbuch des Mittelalters. Warum Spiegel[Hier Wortwitz zur Zeitschrift DER SPIEGEL einfügen.] Weil sich Eike (im Gegensatz zum Bundestag) keine Gesetze ausgedacht, sondern nur gespiegelt hat, was die Menschen schon längst praktizierten. Das Gewohnheitsrecht wurde angewendet, aber kein Schwein hatte sich die Mühe gemacht, es aufzuschreiben. Eike von Repkow ist quasi der Bruder Grimm unter den Juristen. In ganz Deutschland und Osteuropa dachte der Adel auf einmal: Hm, Gesetze aufschreiben, statt sie mündlich weiterzugeben, eigentlich gar keine blöde Idee. All die Spin-Offs namens SchwabenspiegelDeutschenspiegel und wie sie alle heißen schrieben spiegelten alle mehr oder weniger bei Eike von Repkow ab. Und nur 800 Jahre später leben wir in einem Land mit 50 738 Gesetzesparagraphen allein auf Bundesebene. That escalated quickly.
Neuerdings vermuten die Wissenschaftler, dass er den Sachsenspiegel nicht direkt hier auf der Burg geschrieben hat, aber irgendwo zwischen hier und der Saale muss es gewesen sein.

Auf jeden Fall wurde das Buch auf Burg Falkenstein in Auftrag gegeben. Das Original ist verschwunden, aber ein paar farbenfrohe Kopien sind noch erhalten. In manchen wurden die Gesetze mit bunten Bildern veranschaulicht. (Gute Idee eigentlich, wo bleibt die Graphic Novel zum BGB? Das Hörbuch mit Christoph Maria Herbst gibt es schließlich schon - ja, ernsthaft.) Und was steht da so drin im Juristischen Comic? So gut wie alles, denn damals gab es noch keine Mülltrennung zwischen Handels-, Gesellschafts-, Reise-, Polizei-, Umwelt- oder Strafrecht (letzteres existierte so ja noch überhaupt noch nicht). Die Rechtsbücher folgten stattdessen dem Prinzip eines Männershampoos: All in 1. So eine Art Grundgesetz bildete die Heerschildordnung. Die bestimmte die sieben sozialen Kasten vom König über die Fürsten bis zu den Unbenannten und wie genau ihre Schilde auszusehen haben. (Bei der untersten Klasse schreibt Eike sinngemäß, aber rhetorisch gewandter: Öh, keine Ahnung, wie deren Schild aussieht.) Bemerkenswert übrigens: Im Vorwort gibt Eike einfach mal locker-flockig zu, dass die Herrschaft des Adels ursprünglich auf Eroberung und Unrecht basiert. Das muss der Graf von Falkenstein wohl überlesen haben, sonst wäre er da nochmal mit Tipp-Ex drübergegangen.
Danach erklärt Eike, wie ein Gerichtsprozess abzulaufen hat oder wie viel Schadenersatz Sie jemandem schulden, wenn Sie diverse Körperteile abhacken oder seine Frau töten - aber nur falls er sie verklagt (das meinte ich damit, es gab noch kein richtiges Strafrecht). Auch eine kurze Straßenverkehrsordnung ist enthalten: Der größere Pferdewagen hat Vorfahrt (unten links im Bild). Und wenn zwei Bauern mit ihrem Getreide dieselbe Mühle ansteuern, dann gilt wortwörtlich: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das Buch hat sogar unsere Redewendungen beeinflusst.

Womöglich sogar mehr als unsere heutigen Gesetze. Das Museum bemüht sich, möglichst viele Ähnlichkeiten zwischen den Sachsenspiegel und den aktuellen Gesetzen an den Haaren herbeizuziehen. Man braucht sieben Menschen, um einen Verein zu gründen? Das muss irgendwas mit den sieben Heerschilden zu tun haben! Wer zuerst an der Parklücke ist, darf sie haben? Auf so was Naheliegendes wären die bei der StVO doch nie von allein gekommen, das ist bestimmt die modernisierte Version von Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Trotz all des historischen Einflusses muss man lange blättern, um Regeln zu finden, die mehr oder weniger noch heute so gelten.

Der Sachsenspiegel ist natürlich nur ein Teilbereich des Museums, die meisten Räume bestehen aus nachgestellten Sälen, wie man sie aus vielen Burgmuseen kennt. Gemälde zeigen die Burg aus jeder nur denkbaren Richtung. Warum ist hier alles so gut erhalten?
Nun, nachdem die Familie von Falkenstein (also die, die den Sachsenspiegel beauftragt hatte) ausgestorben war, ging die Burg an die Kirche, die sie vergammeln ließ. Bis eine neue Familie ins Spiel kam. Die Herren von Asseburg hatten sich in einen Krieg zwischen anderen Familie ziehen lassen und ihr Vermögen verloren, doch nun planten sie ihr Comeback in ihre Heimat, den Harz. Sie kauften und pfändeten Land, was das Zeug hielt, und dabei packten sie spontan auch gleich noch Burg Falkenstein in den Warenkorb. Die lag nun auf einmal in der Mitte ihres Machtgebiets. Der Bischof von Halberstadt verkaufte sie ihnen unter der Bedingung, dass sie reparierten, was er hatte verschimmeln lassen. Die Asseburger gehorchten und wurden dabei ein wenig übereifrig, denn hinterher war die Burg zwar superschick, aber wieder mal pleite. Was nun? Zum Glück folgte eine Epoche namens Historismus, in der alles Mittelalterliche total in war und sogar gefaked wurde. In Burg Falkenstein war es nur zum Teil Fake, und so trafen sich hier wichtige Männer und sogar drei Könige der deutschen Teilstaaten, um zu jagen und diplomatischen Kram zu besprechen (zum Beispiel das Nachbeben der Sache mit der Hannover-Verfassung und den Göttinger Sieben).
Der letzte Asseburger hatte keine Söhne und wollte 1945 eigentlich alles an den Sohn seiner Tochter vererben. Die Tochter selbst übersah er ebenso wie die anrückende Rote Armee. In letzter Sekunde haute er ab. Ein treuer Diener blieb und versteckte den Schatz vor den Russen unter einer Falltür. Mit Erfolg: Erst nach der Wende kam er wieder ans Tageslicht. Der Privatschatz des Dieners ist sogar bis heute nicht aufgetaucht.


Zurück unten im Tal preschte ich durch die Wildnis, da stand ich auf einmal vor einer Kirche. Huch! Moment, eigentlich ist das nur die Fassade einer Kirche, und der Rest steckt im Berg drin. Doppelhuch! Wer hat denn hier die Kulisse eines Horrorfilms stehen lassen? Mit diesem spontanen Gedanken lag ich nicht völlig daneben, denn es handelt sich eigentlich um ein Mausoleum. Die Grafen von Asseburg erbauten diesen Ort als sicheres Endlager für verstorbene Familienmitglieder. Inzwischen wohnen da aber keine Särge mehr, sondern Fledermäuse.
Ein düsterer Eingang führte in den Fels hinein, aber der war vergittert, und das war vielleicht auch besser so, denn ich hatte keinen Knoblauch dabei. Das untere linke Eckchen der Infotafel wurde kindgerecht gemacht und warnt: Vorsicht, hier spukt es! Icglaubte es sofort.

In Meisdorf verlässt die Selke den Harz. Anders als bei den meisten Harztälern im  ist der Eingang ins Selketal nicht versteckt, sondern sehr breit und offen - inklusive breitem Schild Willkommen im Selketal!
Nur die Selke selbst verkriecht sich zwischen den Bäumen, vielleicht, weil ihr der winzige Witz von einem Freizeitpark (oder was auch immer das sein soll) an ihrem Ufer peinlich ist.
Das war also ein weiteres Tal im Harz. Wie wird es wohl in Zukunft aussehen? Vielleicht ganz anders, wie ein großes Protestschild befürchtet. Es soll ein großer Damm ins Tal gebaut werden, um vor Hochwasser zu schützen. Zwar würde nur etwa alle fünf Jahre ein Stausee entstehen, aber der soll giftigen Klärschlamm anspülen und touristischen Wanderern den Weg abschneiden. Die Anwohnerinitiative schlägt lieber viele kleinere Rückhaltebecken zusammen mit privaten Deichen um die Häuser vor und meint, diese Alternativen seien bei der Entscheidung gar nicht berücksichtigt worden. Ich kann zwar auf die Schnelle nicht beurteilen, welche Lösung die bessere ist, aber ein Blick auf die Schlagzeilen dieses Jahres genügt, um folgendes sagen zu können: Irgendetwas davon solle umgesetzt werden. Bald.

Dass ich das Gebirge verlassen habe, heißt nicht dass die Ortschaften lebendiger werden. Obwohl sich in Meisdorf immerhin etwas bewegt - die Rehe im Wildgehege vor dem Schloss (wieder mal ein Wellnesshotel).

Weiter geht es auf dem Radweg Deutsche Einheit. Der folgt dem Harzrand bis zur Konradsburg und knickt dann nach Norden ab. (Etwas dichter an der Selke verläuft die Hauptstraße, die diesen Knick abkürzt.)
Soo, das wären nun endlich die letzten Hügel, ab hier wird es flach. Dafür aber ballerte die Sonne jetzt hemmungslos vom Himmel, Schattenstrecken waren rar, und meine neue Flasche Sonnencreme schrumpfte rasch dahin. Ich wurde durchgebrutzelt.
Und zwar auf mehr als eine Art.
Brrzzltxcjghaaah!
Meine Arme und Beine brannten und kribbelten. Direkt über mir knisterte eine Stromtrasse in der Hitze. Die Kabel hingen nirgendwo runter, irgendwie hatten sie mich über die Luft gestochen. Quasi ein WLAN-Stromschlag. Seit wann ist das denn möglich? Ich war wortwörtlich geschockt. Im Internet berichten auch andere davon, aber nur auf E-Bikes, und sie vermuten einen Zusammenhang mit dem Motor. Offenbar zu Unrecht.

Was ist denn das? Vor dem Rathaus von Ermsleben tröpfelt das Wasser aus einem Brunnen, der aussieht wie ein Stein... mit riesigen Nägeln drin? Jap, und der Grund dafür ist wieder einmal Justiz im Mittelalter. Wer seine Unschuld beweisen wollte, musste einen Nagel in den Nagelstein hineinschlagen. Das war eins (und noch ein relativ harmloses) der sogenannten irrationalen Beweismittel. Anders als Filme und Serien uns weismachen, wurden sie aber normalerweise nicht eingesetzt, sondern nur als Ausnahme, wenn man echt nicht weiterwusste.
Der Nagelstein im Brunnen ist nur ein Nachbau, das Original lehnt unauffällig dahinter an der Rathauswand und wurde zwischendurch auch mal zum Bismarck-Denkmal umgewidmet.
1715 verhandelte zum letzten Mal ein Gericht am Nagelstein. Ein Mann und zwei Frauen hatten aus unbekannten Gründen eine Witwe und deren Tochter ermordet. Die Nagelprobe scheiterte, die Strafe war Tod durch Enthauptung und das Rad.

Mein Rad bringt mir zum Glück nicht den Tod. Und mit genügend Sonnencreme bleibt auch das Sonnenrad harmlos.
Auf einer Kopfsteinpflasterstraße fragte mich jemand nach dem Weg zu einer Werkstatt, und überraschenderweise konnte ich sogar helfen: Er hatte eine konkrete Hausnummer, und ich eine sehr präzise Kartenapp. Jawoll, der Ortsfremde kennt sich hier am besten au... oh, ich hätte da hinten abbiegen sollen.
Dieser Ort heißt Reinstedt und eignet sich besser zum Radeln. Ah, endlich keine verwinkelten Kopfsteinstraßen, sondern ein kühler Uferweg.

Uferwege gibt es auch hinter Reinstedt noch, doch mit der Kühle haben sie es nicht mehr ganz so.

Am Gater von Gatersleben verabschiedet sich der Radweg Deutsche Einheit dann in Richtung Staßfurt.

Diese kleinen Örtchen haben zwar sonst nix, aber sie haben fast alle ein Schloss oder eine Burg. Die Burg von Hausneindorf ragt besonders eindrucksvoll als kahler, graubrauner Komplex mitten im Dorf auf. Sie wurde hier wahrscheinlich hingebaut, um das fruchtbare Land zu kontrollieren und jedem Bauern Nein! zu sagen, der zu viel von den reichen Früchten der Erde für sich selbst einsteckte. Zuerst sagten die Grafen in der Burg Nein, dann Raubritter, die preußische Staatsverwaltung und schließlich die LPG. Jetzt finden darin Lesungen und Orgelkonzerte statt. (Hausneindorf hatte auch eine Orgelwerkstatt.)

Soo, nur noch ein paar Kilometer an der Hauptstraße, dann ist anhand der Bäume zu sehen, wie sich die Selke mit der Bode vereinigt. Das ewige Gold der Felder wird durch ein paar schicke Wiesen aus Kornblumen aufgelockert.
Der dichteste Bahnhof liegt in Gatersleben, aber für mich war die Bahnabreise etwas unkomplizierter, weil ich noch die 30 Kilometer auf dem Radweg Deutsche Einheit bis Staßfurt gefahren bin.