So, nun fahre ich aber richtig rein nach Berlin. Also, technisch gesehen bin ich zwar schon in Berlin, aber heute geht es richtig richtig rein in die Stadt. Zum Glück hauptsächlich durch ihre Parks.
Erst einmal wechselt der Spreeradweg ans Nordufer in den Volkspark Wuhlheide. In den goldenen Zwanzigern hatten die Berliner goldene Ideen wie zum Beispiel: Hey, vielleicht ist es für die Arbeiter gar nicht so schlecht, wenn sie nicht nur in deprimierenden Wohnblocks leben, sondern einen Platz im Grünen zum Abhängen haben?
Bing, bing. Vor mir schloss sich eine stummelkurze Schranke, und eine Park"eisenbahn" tutete vorbei. (Sorry, Züge, deren Streckennetz nur einen kleinen Bruchteil meiner Fahrrad-Tagesetappe umfasst, kann ich nach wie vor nicht für voll nehmen. Aber diese hier hatte zumindest geschlossene Wagen, die tatsächlich nach Eisenbahn aussahen, mit einigen fröhlich winkenden Familien darin.)
Na so was, ich bin schon im Berliner Zentrum angekommen! Und es ist wesentlich kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Ich weiß, solche Gedanken sind normal, wenn man nach längerer Zeit in eine Stadt zurückkehrt, aber dass der Effekt
so krass ist, hätte ich nicht gedacht.
Neben dem Modellpark Berlin-Brandenburg enthält der Volkspark noch eine Bühne, einen Kletterwald und mehrere Sportanlagen.
Schließlich bin ich wieder zur Spree abgebogen und fuhr auf einen Steg. Gerade stiegen Fahrgäste aus, dann war die Bahn frei, aber ich sollte ja laut Schild erst nach Aufforderung auf die Fähre warten.
"Kann ich schon rauf?", fragte ich die Fährfrau
"Jaja." Sprachs und ging dann erstmal ans Ufer außer Sichtweite, eine rauchen und Pause machen.
Sie ließ allein zurück an Bord der Fähre mit der Aufgabe, den nächsten ankommenden Radtouristen zu erklären, dass ich a) nicht der Fährmann war, b) keine Fährtickets verkaufte, c) auch nicht wusste, wo es Fährtickets zu kaufen gab und d) auch nur vom Fahrplan ablesen konnte, wann wir abfahren würden.
Genau wie an der Havel pendelt eine BVG-Fähre mit Fahrradständer etwa alle halbe Stunde ans andere Ufer. Anders als an der Havel ist diese hier eine Nummer kleiner und nicht zwingend erforderlich. Das Stück zurück zur nächstbesten Brücke war nicht weit und wäre vermutlich sogar schneller gewesen, aber hey, ich hatte die Zeit für eine kleine Bootsfahrt.
Am anderen Ufer waren ein paar rostige Lastschiffe festgemacht. Die haben hier anscheinend schon 1824 Holz abgeladen, und in einem kleinen Wärterhäuschen passte ein Wärter darauf auf. Die Männer auf den Schiffen hatten oft Durst, und so war es kein Wunder, dass sich das Wärterhäuschen in kürzester Zeit auf mysteriöse Weise in eine Schifferkneipe verwandelte. Aber auch Familien kamen gern raus ins Grüne, und um an denen auch was zu verdienen, verkaufte der (definitiv sehr deutsche) Wirt als günstigen Snack hartgekochte Eier. Das Eierhäuschen war geboren. Und wie man sieht, ist es seitdem beträchtlich gewachsen. Sieht aus wie ein mittelgroßer Bahnhof, oder vielleicht ein weiteres kleines Rotes Rathaus? Mehrere Kegelbahnen, Varietés, ein Café der Jugend, Rassekatzenausstellungen... aber hartgekochte Eier wurden trotzdem nach wie vor verkauft, schon aus Tradition. Bis nach der Wende hier die Verwaltung des Spreeparks einzog, niemand mehr Essen kaufen konnte, und schließlich alles verfiel.
Erst seit letztem Jahr ist das bekannte denkmalgeschützte Restaurant wieder geöffnet. Neben Essen gibt es da drin auch... Kunst.
Und diese Kunst besteht aus... Essen.
Ich ging ahnungslos hinein in den Spreepark Art Space. Muss ich hier was bezahlen? Nee, scheint gratis zu sein, na denn, mal gucken. Durch einen Vorhang schritt ich in einen dunklen Raum. Im Lichtkegel drehte sich leise summend ein Tisch. Auf den Tellern standen Gerichte, modelliert aus irgendeinem Kunststoff. Laut Speisekarte handelt es sich um Kunstlederjackenbraten, 3-Uhr-nachts-Sandwich und Transkontinentalen Eintopf.
Ich fand diesen Raum nur ein kleines bisschen creepy und kam zu dem Schluss, dass ich gerade keinen Hunger hatte.
Ansonsten hat der Art Space noch zwei weitere Räume, in dem einen werden Fotos vom verfallenen Spreepark projiziert, in dem anderen Animationen darüber, wie handwerklich begabt Tiere sind. Alles in allem war ich schnell durch.
Aber das neue Eierhäuschen ist ja nur der erste Teil von dem, was noch kommen soll.
Zu ihrem 20. Geburtstag überlegte die DDR-Führung, was ihr zu einer richtigen Republik noch fehlte. Ganz klar: Ein Freizeitpark, so was hatten sie noch nicht. 1969 öffnete er seine Türen. Obwohl der Name Kulturpark Plänterwald nicht so richtig nach Adrenalin klingt, hatten das Riesenrad, die Achterbahn und die Dinosaurierstatuen im "Plänti" einen gewissen Kultstatus, aus irgendeinem Grund vor allem bei Punks. Als die Grenze fiel, kaufte ein dubioser Unternehmer namens Norbert Witte (auf einem seiner Fahrgeschäfte waren in der Vergangenheit schon mal 20 Menschen gestorben) das Gelände, gab ihm den westlichen Namen Spreepark GmbH und gestaltete auch alles westlicher, sprich: Ein pauschaler Preis für alles, der deutlich höher liegt, mehr Fahrgeschäfte und mehr Thematisierung (Westerndorf und Englisches Dorf), damit das weniger nach Dorfrummel aussieht. Das mit dem Eintrittspreise erhöhen stellte sich als eher schlechte Idee heraus, die Besucher kamen nicht, stattdessen kam 2001 die Insolvenz. Witte verkaufte mehrere Fahrgeschäfte nach Peru, wo er nochmal pleiteging, und kam wegen Kokainschmuggels hinter Gitter.
Der Spreepark aber wurde plötzlich viel beliebter.
Viele Bilder habe schon gesehen von den verfallenen Fahrgeschäften in diesem deutschlandweit einzigartigen Lost Place, es war definitiv der Ort, der mich auf dieser Tagesetappe am meisten interessiert hat. Wie enttäuscht war ich also, als ich nur das hier vorfand. Zur Zeit ist das Lost Place ein Haufen aufgebaggerter Erde, von malerisch-rostigen und überwucherten Achterbahnen keine Spur - nicht mal auf der extra errichteten Aussichtsplattform über die Baustelle.
Berlin will den Park neu gestalten: Die Fahrgeschäfte sollen als Lost Places bestehen bleiben, aber gleichzeitig auch in begehbare Kunstwerke integriert werden, das alte Riesenrad soll sich wieder drehen (das war den Berlinern sehr wichtig), während es über einem Wasserbecken schwebt, ach ja, und die entstandenen Naturbiotope sollen natürlich auch bleiben. (Da muss ich an Rüdiger Hoffmann denken: "Ja, das Feuchtbiotop bleibt bestehen. Nein, nein, das haben Sie falsch verstanden, das Feuchtbiotop wird integriert in unseren Freizeitpark. Als Wildwasserbahn.") Und das alles soll bis 2027 fertig sein.
Ich fuhr auf dem Radweg im Bogen an der Innenseite des Spreeparks entlang, bekam aber durch den Zaun kaum etwas zu sehen. Also probierte ich es nochmal auf dem proppenvollen Uferweg an der Spree. Nichts, Zaun, nein, Zaun, ach, na endlich, ein Fahrgeschäft, zumindest eins. Aber nanu? Was ist das für eine seltsame Attraktion, in der die quietschbunten Wagen senkrecht stehen und direkt daneben ein umgekippter Saurier auf den Gleisen liegt? Das gibt aber einen schuppigen Wildunfall. Im
Spree Space Act 02 hat die Künstlergruppe
Constructlab Objekte aus allen Ecken des Parks zusammengepuzzelt und gibt so schon mal einen Eindruck, wie der neue Spreepark aussehen dürfte.
Auf der Spree ist weitaus mehr in Bewegung, Tret-, Haus- und Paddelboote kreuzen umher. Gerade schirmten wieder ein paar Bäume den Blick aufs Ufer ab, da hörte ich ein Platschen.
"Hilfe!"
Nanu? Ich stieg ab und versuchte, durch die Bäume zu sehen. Eine Spaziergängerin lief ebenfalls auf das Wasser zu. Nur um dann zu sehen, dass sich bereits Boote dem treibenden Kind näherten, aus einem davon war es vermutlich auch rausgeplumpst. Warum ich das dann erzähle? Weil uns immer wieder eingeredet wird, dass die meisten Menschen in solch einer Situation nicht helfen.
Muss ich jetzt über diese Bogenbrücke rüber? Ach so, nein, das kleine Schlösschen, pardon, Kulturhaus, steht auf einer Spreeinsel. So ganz blickte ich in dem Berliner Wassernetz nicht durch, zum Glück war die Radroute trotzdem leicht zu finden.
Ich bin einfach der Hauptstraße durch den Treptower Park gefolgt, vorbei an einer Sternwarte und diesem wuchtigen Steintor. EURE HELDENTATEN SIND UNSTERBLICH... und das Ganze auch nochmal auf Russisch? Das ist aber nicht der Pariser Triumphbogen.
Es ist der Eingang in eine Anlage, neben der das Tor noch vergleichsweise bescheiden wirkt. Ach stimmt, hier war ja... na, ich habe noch genug Zeit, also schaue ich mir das (Ehren)Mal an.
In der Schlacht um Berlin hatte die Sowjetunion 22 000 Soldaten verloren. 1946 ließ die sowjetische Militärverwaltung die provisorischen Gräber auflösen und neue Denkmäler bauen. 7000 Tote kamen in den Treptower Park, kollektiv und anonym bestattet unter einer Menge bombastischer grauer Klötze.
An der Ecke trauert erst einmal die Statue der Mutter Heimat, danach geht es eine (äußerst fahrradfreundliche) Steinrampe hoch, wo zwei stilisierte russische Soldaten knien. Zwei wirklich sehr stilisierte Soldaten. Ach nee, der dreieckige Klotz links im Bild soll eine gesenkte Fahne sein, der Soldat kniet ganz klein davor. Es folgen Sarkophage mit Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg Großen Vaterländischen Krieg und Stalin-Zitaten (hinten links), die sich auch Chruschtschow nicht zu entfernen traute, obwohl er sonst gegen Stalin-Verehrung vorging. Und ganz am Ende, als berühmtestes Motiv, steht ein triumphierender Sowjetsoldat auf einem Hügel, im Arm ein Kind, zu seinen Füßen ein zerbrochenes Hakenkreuz (hinten rechts). Sorry, selbst für Smartphonekameras von 2024 ist die Anlage auf einmal einfach zu bombastisch. (Übrigens bildet das Ende der Spree damit einen unbeabsichtigten Gegensatz zum deutschen Ehrenmal für den Ersten Weltkrieg an der Spreequelle.)
Dieses Riesenmal war die größte und international bekannteste Gedenkstätte für das Kriegsende, zumindest bis Russland 1967 zu Hause ein noch größeres für die Stalingrader Schlacht baute. 1992 verpflichtete sich das wiedervereinigte Deutschland im Deutsch-Russischen Abkommen über die Kriegsgräberfürsorge, all diese Ehrenmäler weiter instand zu halten - und musste dann erstmal die schon ziemlich instabilen Bauwerke im Treptower Park komplett sanieren. Vorher aber wurde mitten im Ehrenmal Geschichte geschrieben: 1994 verabschiedete sich hier Helmut Kohl von Präsident Boris Jelzin, der die letzten russischen Soldaten aus Deutschland mitnahm, hoffentlich für immer. So, wie es eigentlich schon 1950 hätte passieren sollen - vielen Dank für die Befreiung, aber ab hier übernehmen doch lieber wir.

Der Grund dafür lässt nicht mehr lange auf sich warten. Hinter der Skulptur der Molecule Men (drei flache Metallriesen mit käsiger Haut) führt die Oberbaumbrücke über die Spree. Dort war Berlin in zwei Hälften geteilt, deren Besatzer das mit der Befreiung ganz unterschiedlich interpretierten.