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Flüsse

Noch mehr Radreisen

01 November 2023

Harz: Von Ilsenburg nach Thale

Harz V: Der Nordosten

Meine Harztour habe ich über all den Flüssen fast vergessen. Zeit, das Gebirge endlich mal fertig zu umrunden. Ab auf den Radweg und direkt nach Wernigerode!

Trotz all meiner Ausflüge in den Harz war ich noch nie in der Harzhauptstadt im Norden, zu deren Territorium offiziell sogar der Brocken gehört. Wernigerode sieht aus, als hätte man Goslar und all die anderen schönen Harzstädte einmal gründlich vergrößert. Eine gewaltiges Schloss ragt in den Bergen auf wie ein Harz-Hogwarts, die Gleise der Schmalspurbahnen (und der normalen Bahnen) ringeln sich um die Parks, und auch der Marktplatz ist riesig. Er wirkt nur nicht so. Denn selbst Ende Oktober streben irrsinnige Menschenmassen nach Wernigerode. Schon in der Bahn war ich verwundert, wie unglaublich viele Besucher hier ausstiegen. In der Fußgängerzone bekam ich dann endgültig Platzangst.

Selbst dort, wo die Fußgängerzone keine Fußgängerzone mehr ist, laufen die Menschen auf der Fahrbahn, als wäre sie eine. Ihnen bleibt auch keine andere Wahl. Selbst die Statue der Holzsammlerin wirkte überfordert.
Normalerweise lautet mein Fazit bei solchen Städten: Ist schön, fahrt hin, aber lieber in der Nebensaison.
Nur dass eigentlich gerade Nebensaison war.

Wernigerode ist auch der beliebteste Startpunkt der Harzer Schmalspurbahnen. Diese Strecke hier ist nämlich die einzige im Harz
  • direkt in einer Stadt neben dem Harz beginnt und nicht erst eine Weile durchs Flachland muss
  • einen Tunnel hat
  • richtig weite Panoramablicke hat
  • hufeisenförmige Kurven hat, in denen man aus dem Wagen vorne so richtig die Dampflok dampfen sehen kann
  • wie eine Straßenbahn quer durch eine Fachwerkstraße und die Hochschule Harz führt, weshalb die Uni Deutschlands einzige Hochschule mit einem regelmäßig angesteuerten Bahnhof auf dem Campus ist (was ich weiß, weil - siehe nächster Punkt)
  • Durchsagen hat, die wie auf einer Stadtführung alles erklären (was insofern bemerkenswert ist, als dass die Harzer Schmalspurbahnen sonst komplett auf jegliche Durchsagen verzichten)

Nichtsdestotrotz muss ich sagen, dass ich die felsige Selketalbahn einfach lieber mag, denn die ausladenden Panoramakurven sind durch die toten Bäume oft ein trister Anblick. Großartig sind sie nur zum Frühlingsende/Sommeranfang, wenn dort alles blüht.

Aus seinem Bahnhof hat Wernigerode einen richtige Anziehungspunkt gemacht. Auf einer kleinen Aussichtsplattform gucken die Massen dem Dampfzügen hinterher.

Und an ausgewählten Tagen öffnet gegen Spenden eine Modellbahnlandschaft ihre Tore, auf der die Strecke von Wernigerode zum Brocken mit Liebe zum Detail nachgebaut wurde. Der Brocken ist dabei einfach ein Stockwerk höher, die Spirale zum Gipfel verläuft (anders als in Wirklichkeit) unterirdisch. In einem engen Dachboden, wo man ständig gebückt läuft, sind halt ein paar Tricksereien nötig. Der Hintergrund wird sowieso einfach auf die Wand gemalt.

Alte und ganz neue Modellbahner steuerten die Züge und gaben gefragt oder ungefragt Funfacts zur Strecke preis. Zumindest, bis der nächste Zug steckenblieb und sie mit dem Häkelhaken ranmussten. Die häufigen Pannen erinnerten mich auf sympathische Weise an meine eigenen Versuche mit Modellbahnen vor vielen Jahren. Oder wahlweise auch an die echte Bahn. (Was die Frage aufwirft, wie zum Geier die das im Miniaturwunderland Hamburg bloß machen, dass alles reibungslos läuft.) Übrigens hat Wernigerode auch noch ein Harzer Miniaturland mit nachgebauten Schlössern und so was, also ein echtes Traumziel für Modellbau-Fans.

Natürlich hat auch die Harzhauptstadt einen Fluss, der sich sehen lassen kann: Die Holtemme.

Hier im Norden geht ja direkt vor dem Harz das Flachland los. Das heißt, fast: Vorher kommt meistens noch eine letzte Hügelkette, nicht flach, aber auch nicht so hoch, dass man sie schon richtig zum Gebirge zählen dürfte. Ein letztes Zucken des Mittelgebirgslands sozusagen. Bisher war diese Kette eher eine langweilige Wölbung aus Wald oder Raps (auf dem Iron Curtain Trail bin ich da rüber). Aber hier im Nordosten geben sich diese Hügelketten Mühe und werden richtig kreativ, sodass sie aus der Ferne fast interessanter aussehen als der Harz! Das hier ist zum Beispiel das Naturschutzgebiet Ziegenberg.

Zwischen den Hecken und Tannenbäumchen wächst Kalkmagerrasen und nimmt faszinierende Farben an. Ich bin direkt daneben gefahren. Da konnte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, mal die paar Meter nach oben zu schlendern und die Aussicht auf das endgültige Flachland zu bewundern.

Danach sollte ich in den Wald eintauchen, sagte der Wegweiser. Ah, Moment, zunächst biegt ein Auto in den Wald ab, dann noch eins, und noch eins, noch eins...
Das war insofern seltsam, als dass ein Schild die Einfahrt mit Kraftfahrzeugen ganz klar verbot.
Nach wenigen Minuten stieß ich erneut auf die Blechkarawane. Die Fahrer stiegen aus, plauderten und schraubten obskure, komplizierte schwarze Gerätschaften zusammen.
Das nächste Schild löste das Rätsel: Ein rennendes Wildschwein in einem roten Dreieck. Treibjagd stand darunter. Ach so. Und was genau folgt jetzt aus dem Schild für mich? Darf ich hier nicht durch, muss ich den Jägern und/oder Gejagten Vorfahrt gewähren oder soll ich einfach auf plötzliche Kugeln aufpassen? (In diesem Fall wäre das Gefahrenzeichen nur hilfreich für Leute, die zufällig Neo heißen.)

Was ist das da hinten? Ein Kloster? Muss ich jetzt nicht unbedingt sehen, dachte ich - und hatte meine Rechnung ohne die Wegweiser gemacht, die mich an der nächsten Kreuzung trotzdem einmal quer durchs Kloster Michaelstein lotsten, ob ich nun wollte oder nicht. Nachdem ich erstmal drin war, wollte ich eigentlich auch. Das Gelände ist überraschend groß, immer wieder kommen neue uralte Bögen und Balken um die Ecke. Davor wächst der Kräuter- und Wurzelgarten der Zisterziensermönche.
Direkt nach der Reformation übernahmen die Herzoge von Braunschweig den Laden und gründeten ein Predigerseminar, sodass alles schick erhalten blieb. Engagierte DDR-Musiker gründeten 1968 ein Institut für Aufführungspraxis der Musik des 18. Jahrhunderts. Deswegen stecken da bis heute die Landesmusikakademie und ein Instrumentenmuseum drin.

Ich musste nochmal steil hoch, runter in die Straßen von Blankenburg und direkt nochmal hoch. Der Himmel tröpfelte ein bisschen. Das ist nur passend, schließlich geht die Stadt auf die Grafen von Regenstein zurück. Ihre ursprüngliche Burg Regenstein gaben sie irgendwann auf (heute eine Ruine der Kategorie Und wo ist jetzt die Ruine?) und bauten auf einen Kalkfelsen, also buchstäblich den blanken Stein, ihre neue Burg - die Blankenburg.

Stein und Burg sind inzwischen alles andere als blank, überall wächst das Grün. Zum Schlosspark gehört sogar ein Essbarer Wildpflanzen-Park, der extra gepflanzt wurde, damit die Gäste Nüsse und Beeren in haushaltsüblichen Mengen mitnehmen können.
Auf diesem Schloss hatte Deutschlands erste Schauspielerin ihren Durchbruch: Christine Neuber, auch bekannt als Die Neuberin (damals wurden sogar Nachnamen gegendert). Bereits vor Goethe & Co. kam sie auf die Idee, dass Theater kultivierte Kunst sein könnte und nicht bloß eine verarmte Schmuddeltruppe, die einem Bauerndorf nach dem anderen vulgäre Witze serviert. Ihre Gruppe zog nach ihrem ersten Auftritt noch öfter die steile Straße zum Schloss hinauf.

Schön und gut, aber musste das wirklich sein, dass ich den ganzen steilen Weg zum Schloss raufstrample? Ja, musste es. Sonst wäre ich nicht auf den nächsten Abschnitt des Radwegs raufgekommen, der sich richtig schön an eine orangegrüne Waldwiese schmiegt.

Kurz vorm Ziel erreicht die Hügelkette dann den Gipfel der Kreativität und türmt sich zur Teufelsmauer auf.
Damit bin ich in der ganz besonderen Harzstadt Thale angekommen. Wobei die Stadt selbst ganz sicher nichts Besonderes ist, sondern das Drumherum. Weil die Naturwunder mehr oder weniger alle mit dem Fluss Bode zusammenhängen, habe ich sie im Eintrag zur Bode beschrieben. So viel vorweg: Das hier toppt sogar die Eckerschlucht, einen cooleren Fluss werden Sie im Harz nicht finden.

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