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Flüsse

Noch mehr Radreisen

21 Juli 2023

Unstrut: Von Dingelstädt nach Mühlhausen

Wussten Sie schon, warum kleine Kinder so sehr auf Glitzerzeug stehen?
Ganz einfach: Weil wir täglich 1,5 Liter Wasser zum Überleben brauchen.

Der Mensch muss überall nach flüssigem H20 suchen. Und weil das in der Sonne glitzert, ist bei ihm einprogrammiert: Glitzer=gut. Ich war nie ein übermäßiger Glitzerfan, stattdessen hat sich mein Hirn schon immer ans Original gehalten: Wasser=superdupergut, vor allem, wenn es irgendwie sprudelt, braust oder fällt.
In der Unstrutquelle sprudelt es nur ein klitzekleines bisschen. Und nicht mal das war richtig zu erkennen, denn die Unstrut kriecht im schattigen Inneren einer Modellburg (oder was auch immer das darstellen soll) an die Oberfläche. Dennoch stellte ich mich auf den schmalen Steg, um an der Unstrut dem Urinstinkt des Wasserguckens nachzukommen.
"Sollen wir Sie fotografieren? Als Beweis, dass Sie wirklich an der Quelle waren?", fragte mich direkt ein älteres Radlerpaar (nicht elektrisch übrigens).

Warum das mittelalterliche Theming? Weiß ich auch nicht, aber es ist ganz nett. Nach zwei Metern kommen schon die Bäche Eschborn und Mäuseborn dazu. Der ganze grüne Gebiet ist mit Bänken und Tischen dekoriert, ich kann mich auf meine eigene Tisch-Ebene über den Senioren setzen und dort mein Mittag futtern.

Der idyllische Platz sieht zwar aus wie mitten in der Natur, grenzt aber direkt an Dingelstädt (beziehungsweise den Vorort Kefferhausen). Nach den ersten Metern wird die Idylle auch schon in urbane Gräben und Kanäle gedrückt. Aber keine Panik, sie kommt wieder.

Vorher fließt die Unstrut unter großen Steinbögen hindurch. Das Unstrut-Viadukt gehört zum großartigen Kanonenbahn-Radweg, einer fabelhaften doppelten Bahntrasse für Draisinen und Fahrräder in Richtung Eschwege. Der Weg hat im Internet so verlockend ausgesehen, dass ich ihn heute Vormittag zur Anreise an die Unstrut genutzt habe.
In die entgegengesetzte Richtung ist es übrigens nur ein Katzensprung bis Leinefelde.

Ein paar Kilometer weiter überspannt ein fast identisches Viadukt den Fluss, diesmal fahren aber immer noch Züge drüber. Weitere Bahntrassenradwege gibt es erstmal nicht, denn diese Bahnstrecke wird immer noch eifrig von Abellio und der Deutschen Bahn benutzt.

Wir befinden uns, wieder einmal, im Eichsfeld. Als ich damals an der Leine zum ersten Mal durch diese Region geradelt bin, hätte ich nicht gedacht, dass es mich so oft in diese komische katholische Exklave verschlagen würde.
Die katholischen Objekte am Wegesrand sind im Unstruttal aber viel freundlicher und positiver. Das Steinerne Relief erinnert an das Franziskanerkloster Kerbscher Berg. Das Holzkreuz hingegen steht direkt hinter der Quelle und erinnert an die außergewöhnliche Künstlerin Irene Schricker. 1946 infizierte sich die junge Stenotypistin in einem Münchner Freibad mit Spinaler Kinderlähmung und konnte nur noch mühsam mit beiden Händen schreiben. Was also tat sie? Sie lernte das Mundmalen und wurde eine berühmte Kinderbuchillustratorin. Eine Wallfahrt nach Lourdes half zwar nicht direkt gegen die Krankheit, aber vertiefte immerhin ihren Glauben und brachte ihr so neue Ideen für Motive, zum Beispiel die Heilige Familie, deren Bild hier am Kreuz hängt. Der Pfarrer von Kefferhausen war mit ihr befreundet und schlug vor, ihr ein Gedenkkreuz zu stiften.

Den einen gibt der Glaube unglaubliche Kraft, die anderen treibt er zuerst in den Krieg und dann in die Flucht. Der Sage nach wollten im Dreißigjährigen Krieg schwedische Soldaten die Wallfahrtskirche in Dingelstädt plündern. Das Pferd des Offiziers war aber heimlich katholisch und hatte deswegen ethische Bedenken. Es rastete komplett aus und wollte den Offizier abwerfen. Dabei flogen drei Hufeisen ab und blieben in der Kirchentür stecken, als hätte Gott heimlich einen Supermagneten aktiviert. Die Schweden litten unter chronischer Supermagneten-Phobie und hauten sofort ab.
Zum Gedenken an die couragierten Hufeisen reiten die Dingelstädter Kinder am zweiten Ostertag mit Steckenpferden um die Kirche. Gerade war aber kein Ostertag, also musste ich mich mit Statuen von Steckenpferd-Reitern begnügen.

Über ihnen thront die Figur der Breikuchenträgerin. Sie hat gerade einen Kuchen vorbereitet und bringt ihn zum Backen in die Bäckerei. Alle Eichsfelder backen irgendeinen Schmandkuchen mit Obstbrei untendrunter. Aber der Dingelstädter Breikuchen hat irgendeinen ganz speziellen Brei, dessen Zusammensetzung ein streng gehütetes Geheimnis bleibt. Ein streng gehütetes Geheimnis, mit dem sie trotzdem gerne angeben.
Sonst haben sie auch nicht so viel zum Angeben. Die Innenstadt hat zwar ein paar Fachwerkhäuser, aber irgendwie fand ich ich sie trotzdem etwas kalt und abweisend.

Also ließ ich die Stadt lieber hinter mir, denn jetzt wird es richtig schön. Das enge Tal leuchtete in Grüngoldgelb und erinnerte mich nicht ohne Grund an das obere Leinetal ganz in der Nähe. Nur dass die Unstrut eine komplett andere Richtung einschlägt.

Und der Weg fährt sich auch super, selbst wenn er mal nicht asphaltiert sein sollte.
Der Name Unstrut bedeutet eigentlich so viel wie Unsumpf bzw. böses Wasser. Was hat der Fluss nur angestellt, dass er diesen Namen verdient hat? Okay, er sieht ein bisschen dunkel aus, wenn er in den schattigen Wald eintaucht. Aber sonst? Das sanfte Rauschen um die paar Steinchen ist klingt eher friedlich als bedrohlich.

Am Wegesrand beginnt ein Skulpturenweg, für den die Skulpturen selbst Werbung machen. Aus Baumstümpfen und Holzstücken sind verschiedene Waldbewohner entstanden, manche sogar mit Farbe bemalt.

Noch ein paar knallrote Mohnfelder und Gewerbegebiete, dann stehe ich auch schon in der ersten richtigen Unstrut-Stadt.

Die Unstrut fließt durch einen Park. Um die Altstadt zu sehen, musste ich den Fluss kurz verlassen und durch ein paar Wohnblocks hindurch. Dann stand ich vor einer Mauer, die zwar ebenso grau, aber trotzdem ästhetischer erschien - ganz einfach, weil sie alt war. Willkommen in Mühlhausen!
Die wehrhafte Stadt ist vollgepackt mit Geschichte und Industrie, 59 Türmen und 19 Mühlen, und bis heute sehr belebt. Vor dem Rathaus fand irgendein Fest statt, dass offenbar daraus bestand, sehr laut Musik zu hören und an Tischen sitzend möglichst viel zu essen. Dieses Angebot sprach dermaßen viele Bürger an, dass ich keine Chance hatte, mein Rad da durchzuschieben, weshalb sich die Route meiner Stadtrundfahrt spontan änderte.
Mühlhausen war mal Mitglied der Hanse und die zweitmächtigste Stadt in Thüringen. Anfangs konzentrierte sich die Stadt auf Klamotten, später auf Elektronenröhren. Wenn Sie in der DDR zur Schule gegangen sind, dann steckte in ihrem Schultaschenrechner höchstwahrscheinlich ein Stück Mühlhausen.

Nicht zuletzt predigte in Mühlhausen auch der Revolutionär Thomas Müntzer, die Bauern sollten doch bitte im Namen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in den Bauernkrieg ziehen und möglichst viele Adlige abschlachten.
Eigentlich wollte ich mir zumindest ein bisschen was von der Stadtgeschichte zu Gemüte führen und den Marienkirchturm besteigen, wo es eine kleine Ausstellung über Müntzer gibt. Daraus wurde leider nichts, der Turm machte gerade vor meinen Augen dicht.

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