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Noch mehr Radreisen

22 Juli 2023

Unstrut: Von Mühlhausen nach Gorsleben

Vor Kurzem hat ein schweres Unwetter Nordhessen geflutet. Auch in Nordthüringen hat der Sturm den einen oder anderen Baum zu einem Nickerchen auf dem Gehweg veranlasst, sodass alle Fußgänger die Wahl zwischen Straße und Schlamm hatten.

Eine etwas unerwartete Auswirkung des Sturms: Der Weg wimmelte von Weinbergschnecken. Schon am Ausgang von Mühlhausen teasern sie an, was mich später an der Unstrut erwartet. Ob die Weinbergschnecken auch zu den Weinbergen der Unstrut wollen? Na, das kann ja dauern...
Die Viecher sind mir deutlich lieber als Nacktschnecken: Durch ihre Größe kann ich sie früher sehen und rechtzeitig ausweichen.

Und nur wenige Tage nach dem Sturm will ich weiterfahren? Na, das kann ja was werden... aber der Wetterbericht sagte definitiv, der Sturm sei vorbei und im Laufe des Tages sollte es schön werden.

Nun ist es ja so, dass der Wetterbericht natürlich immer nur den Regen für einen bestimmten Ort anzeigt. Ich aber fahre von Ort zu Ort. Was ist, wenn sich die Regenwolken rein zufällig in dieselbe Richtung bewegen? Und ich ihnen hinterherjage, ohne es zu wissen? Sodass ich mich scheinbar in einer endlosen Regenfront befinde?
Was dann?
Nass dann.

Ich wechselte vom hügeligen Eichsfeld ins Thüringer Becken. Das ist ein flaches Stück Thüringen zwischen Harz/Eichsfeld und Thüringer Wald. Genau die Landschaft, bei der ich während meiner ersten Bahnfahrt durch Thüringen dachte: Langweilig, wann kommen wieder Berge?
Die älteste Kirche im Becken steht in Görmar. Schön: Sie hat einen Fachwerkturm in dänischem Gelb. Weniger schön: Die Dramen, die sich um diesen Turm abspielten, Kriege, Brände, Katastrophen, zwei Blitzeinschläge, so viele Schulden, dass das Dorf die meisten Felder verkaufen musste, und Thomas Müntzer wurde hier auch noch hingerichtet.

Überrascht hat mich, dass der Radweg schon wieder hier und da Bruchstücke einer Bahntrasse benutzt. Irgendwo am anderen Ufer fährt doch schon eine Bahn? Anscheinend zu weit entfernt, sodass einst eine weitere nötig war. Von der einen Bahnbrücke ist nur das Skelett übrig, die andere wurde zum Radfahren nachgebaut. Die Uhr am alten Bahnhof funktionierte immer noch und zeigte mir an, dass ich schon viel zu viele Stunden durchnässt wurde. Brücken, Hecken und Gräben, alles schimmerte patschnass und mein Poncho arbeitete am Limit, damit es mir nicht ähnlich erging.

Auf einer Schlammwüste am Wegesrand wurde 1866 Geschichte geschrieben: Preußen verleibte sich während der Schlacht bei Langensalza mit einem großen Haps das Königreich Hannover ein. Selber schuld: Was waren diese Hannoveraner auch so kackfrech, sich im Bundesrat gegen Preußen zu stellen?

Das war der vorletzte Schritt, um kurz danach in Hradec Králové auch Österreich zu schlagen und den Deutschen Bruderkrieg zu gewinnen, und dann im nächsten Krieg auch Frankreich, um dann in der Euphorie des Sieges einen gesamtdeutschen Staat zu gründen. (Sorry Hannover, aber ohne Krieg wär das halt nicht gegangen, weil, is halt so.)
Das Schlachtfeld ist heute so schlammig, man könnte fast ein Heavy-Metal-Festival darauf abhalten.

Von da aus bin ich der Bahntrasse zur zweiten richtigen Unstrut-Stadt gefolgt. Das sind zwar ein paar Extrakilometer Umweg, dafür finde ich dort vielleicht einen Unterstand.

Die Kurstadt Bad Langensalza ist eine verbesserte Version von Mühlhausen. Die Fachwerkbalken und die graue Stadtmauer sehen sich sehr ähnlich, aber alles ist noch nasser, schöner und bunter gestaltet. Zum einen durch die Farben der Fassaden.

Vor allem aber wegen der Blumen. Überall strecken Rosen und andere bunte Gewächse ihre Blüten in den Himmel und gönnen sich eine ordentliche Portion Regenwasser. Die Stadtmauer ist zwar an sich auch grau, aber das fällt kaum auf, wenn sie von so viel Grün und Rot (plus ein paar braune Bretter-Anbauten) umgeben ist. Nebenan fließt ein verzweigter Wassergraben, sogar mit Kreisverkehr.  Irgendwo müssen schließlich die Kurgäste spazieren gehen, nachdem sie sich in den Schwefelquellen vollgeschwefelt haben. Die ganze Stadt sieht aus wie ein frisch gewaschener Garten, der Regen spült den Staub ab und bringt die Farben erst so richtig zum Leuchten.
Es gibt definitiv schlechtere Orte, um draußen bei Regen unterwegs zu sein.
Rings um die Altstadt verbergen sich größere Gartenanlagen. Manche kosten Eintritt, der Natur!Garten (nur echt mit dem Ausrufezeichen) dagegen ließ mich gratis eintreten reinschwimmen.

Außer den Preis für zwei Stück Kuchen. Ups, jetzt habe ich doch Geld ausgegeben.
Dort wuchern Pflanzen, die typisch für einen Bauerngarten aus der Region sind, ungezwungen vor sich hin. Ganz überraschend entdeckte ich sogar die einzige Möglichkeit, die Stadtmauer zu besteigen. Auf dem Wehrgang verbarg sich ein kleines gemütliches Zimmer mit Sesseln. Ohne irgendwas zu verkaufen, ohne irgendeinen anderen erkennbaren Zweck, als irgendjemandem, der sich in diese Ecke des Gartens verirrt, ein gemütliches Zimmer zu bieten.
Ich glaube, ich mag Bad Langensalza.
Und das nicht nur, weil das WLAN am Markt WLANgensalza heißt.

Aber Vorsicht! Nicht die Tür auf der anderen Seite des Zimmers öffnen, dort lauern Bienen. Oder auch nicht, denn die haben sich bei dem Wetter alle in ihren Kasten zurückgezogen, den man sogar aufklappen und begutachten kann. Mit Glasscheibe dazwischen, versteht sich.

Jetzt bricht die Unstrut durch Felsen aus Muschelkalk. Behauptet ein Schild, viel Felsiges habe ich aber nicht gesehen. Obendrauf liegt nämlich ein bisschen Erde mit Magerrasen. Klingt eher mau, aber manche magersüchtigen Blumen wie zum Beispiel Orchideen fühlen sich gerade da pudelwohl.
Ich hatte meinen Magen in Langensalza gut gefüllt, den Regen nahm ich kaum noch wahr, ich fuhr nur noch weiter. Inzwischen musste ich öfter mal Straßen durch Städtchen benutzen, kein genussvoller Abschnitt, sondern eher einer zum Durchrasen.

Oder?
Trübselige Felder im Regen, Straßen und verstreute Bäume, das klingt nun echt nicht sonderlich sehenswert. Aber dann, ein paar Kilometer vor der Gera-Mündung, geschah etwas Erstaunliches.

Hinter den Wolken leuchtete immer noch die unsichtbare Sonne. Und auf einmal erstrahlte Thüringen in Farben, die vollkommen... künstlich aussahen. Mit einem Foto lässt sich das kaum einfangen, aber all das Grün und Gelb der Felder, das leichte Rosa in der Ferne am Himmel, alles erschien mir viel zu grell, um echt zu sein. Okay, wenn ich es so formuliere, klingt es gar nicht mal so gut. Dabei hatten sie etwas Verzaubertes, diese seltsamen Stunden im Regen. Die ich nie gesehen hätte, hätte ich den Wetterbericht nicht ein wenig zu... wohlwollend interpretiert.
Wes Anderson sollte seinen nächsten Film im verregneten Nordthüringen drehen.

Die nächste Stadt empfing mich wieder mit einem Park, diesmal ein etwas unkomplizierter als in Langensalza: Bäume, Gras, zwei Holzbrücken, fertig.

Sömmerda klingt nach einem IKEA-Sonnenschirm, der Name kommt aber von den Sümpfen rundherum und müsste deswegen theoretisch mit dem Wort Unstrut verwandt sein. Die Stadt ist eine Nummer kleiner, was mir aber nur recht ist - diesmal muss ich keinen Umweg fürs Stadtzentrum machen, Kirche, Markt und Rathaus liegt gleich am Weg und sind in einem Bogen fix umrundet. Ein bisschen erinnert mich der Markt an Malchin, Neubrandenburg und andere Städte in MV aus der Kategorie Naja.

Die Stadtrunde dauert drei bis fünf Jahre länger, falls man sich vornimmt, unterwegs sämtliche Details der Statuen bewusst wahrzunehmen. Man trifft nämlich die drei Göttinnen Minerva (zuständig für Krieg, Frieden, FKK, Aufklärung und Pädagogik), Pomona (zuständig für Früchte) und Fortuna (zuständig für Schicksal). Und jede Göttin ist umgeben von einem, tja, nennen wir es mal Wirrwarr der Stadtgeschichte.
Im Falle von Fortuna kommt das Wirrwarr direkt aus ihren Hörnern geschossen. Sowohl nette Sachen als auch Horrorgestalten, so ist das halt mit dem Schicksal.

Und der mit Abstand größte Brocken, der je aus ihrem Horn auf Sömmerda niederkam, trug den Namen Nikolaus (von) Dreyse. Dieser Tüftler fand eine Sache total unpraktisch: Dass man bei Gewehren immer noch hinter die Patrone extra ein Zündhütchen stopfen muss. Das Zündhütchen ist quasi so was wie das Streichholz im Gewehr, das das Schwarzpulver anzündet.
Schon sein Meister hatte damit experimentiert, das "Streichholz" direkt an die Patrone dranzukleben. Er benutzte dazu eine Pille aus Knallquecksilber. Ein Hebel haute volle Kanne auf das explosive Knallquecksilber drauf, was ungefähr so sicher war, wie es klingt.
Nikolaus fand Jahre später heraus, dass sich das Knallquecksilber viel besser anzünden lässt, wenn eine Nadel reinsticht. Also baute er Nadeln in seine Gewehre rein und bäm (wortwörtlich) war das Zündnadelgewehr geboren. Die Soldaten mussten viel weniger Zeug in die Gewehre stopfen und konnten mehr Zeit mit schießen verbringen - zum Beispiel auf die Hannoveraner in der Schlacht bei Bad Langensalza. Am Ende töteten sie mit der neuen Waffe sogar die Kleinstaaterei Deutschlands und erbeuteten ein Deutsches Kaiserreich (wobei Historiker inzwischen denken, dass die gute Organisation und nicht die neuen Waffen den Ausschlag bei Bismarcks Reichseinigungskriegen gegeben hat).

Die Waffenfabrik in Sömmerda wuchs immer weiter, Nikolaus Dreyse erjagte sich mit seinem Gewehr sogar ein schickes Von für seinen Nachnamen. Der geadelte Erfinder bekam eine Statue, in der er mit weisem Blick einem Soldaten das Gewehr erklärt, und die stünde da sicher heute noch, hätte seine Fabrik nicht lange nach dem Tod des Erfinders Waffen für zwei Weltkriege produziert, die (im Gegensatz zu ein paar ganz normalen Nachbarschaftskriegen und ein bisschen Kolonialisierung im 19. Jahrhundert) nach allgemeiner Ansicht zu weit gingen.
In der DDR wurde der Name totgeschwiegen, die Fabrik rüstete auf Büromaschinen und Computer um, weil diese Geräte nur selten Menschen töten und folglich besser fürs Image sind. Inzwischen hat Dreyse wieder eine Statue. Diesmal ist er dargestellt als weiser Opa in griechischer Toga, der mit Spielfiguren spielt, die so aussehen wie die beiden Skulpturen des ursprünglichen Denkmals.

Dreyse benutzte für seine Gewehrfabrik die Wasserkraft der Dreyse-Mühle (ganz links).
An dieser Stelle eine kurze Übersicht über einige Wassermühlen an der Unstrut.

Rund um Sömmerda wird die Strecke wieder schöner, mehr Uferwege, weniger Dorfstraßen. Eine Konstante an diesem Tag waren auch irgendwelche Schläuche zum Fluss hin, mit denen vielleicht noch Sturmwasser abgepumpt wurde.
Und endlich, endlich hatte auch der Regen gestoppt. Jawoll, mein Poncho hat durchgehalten, ich bin noch halbwegs trocken und der Himmel reißt endlich auf. Dann kann ich morgen doch noch weiterfahren.

In der Abenddämmerung ragten zwei Hügel links und rechts vom Fluss auf. Diese Landschaft trägt den absonderlichen Namen Hohe Schrecke. Ich sehe mit Schrecken, nun endet das Becken! Thüringen kann einfach nicht lange flach bleiben.

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