Die Bergbayerngrenze I
Länge: 55 km (+25 km von Bad Neustadt/Saale +2 zum Skulpturenpark +4,2 km nach Königshofen)
Grenzquerungen: 2 (+4 auf den Gedenkstätten)
Bundesländer: Bayern/Thüringen
Seite: Ost, außer am Anfang und Ende
Erkenntnis: Das Grüne Band ist bunt.
Ich hatte folgenden Plan: In drei Tagen die Innerdeutsche Grenze zu Ende fahren. Einem bayrischen Busfahrer in Bad Neustadt gefiel dieser Plan ganz und gar nicht. Er fuhr an einem anderen Bussteig ab und hielt dort exakt 0,3 Sekunden, sodass ich keine Chance hatte, hinüberzulaufen. Der nächste Bus nach Fladungen kam erst gottweißwann, und deshalb begann diese Tour erstmal mit 25 Extra-Kilometern vorneweg. Das ist nicht im engeren Sinne motivierend. Nicht mal dann, wenn die 25 Kilometer an den idyllischsten Wiesen und Wassermühlen im Ilstal vorbeiführen. Aber egal, legen wir los.
So sehen Fladungen und die Berge der letzten Tagesetappe übrigens ohne Nebel aus.
Seit der letzten Tagestour am Eisernen Vorhang ist der Frühling ausgebrochen. Zu dieser Jahreszeit wird aus dem Grünen Band das Gelbe Band: Die ganze Grenze war bedeckt von Löwenzahn. Peter fände das sicher lustig. Ab und zu blühten auch andere Blumenarten - aber ausschließlich gelbe. Irgendwie müssen die Grenzanlagen den Boden so verändert haben, dass darin Blumen mit anderen Farben nicht gedeihen können. Mysteriös.
Das erste Dorf heißt Weimarschmieden und enthält Bayerns nördlichstes Gasthaus - verschlossen. Genau wie, Spoileralarm, auch alle anderen bayrischen Gasthäuser an der Grenze. Zünftig essen gehen war auf dieser Tour nicht drin.
Nach ein paar Wegwindungen wechsle ich nach Thüringen rüber. Ein Dorfbewohner hat sich einen alten Grenzpfosten geschnappt und mit einer eher düsteren Flagge kombiniert.
Fast jedes Dorf hat einen Dorfbrunnen (auch hier blühen die obligatorischen gelben Blumen). Manche plätschern vor sich hin und laden ein, die Wasserflasche aufzufüllen. Andere enthalten kein Trinkwasser und werden außerdem gut bewacht.
In Hermannsfeld haben sich die Löwenzähne zu einem Fußballspiel versammelt. Über ihnen verläuft die Grenze über den markanten Dachsberg. Wie komme ich da denn hoch? Ich wanderte den erstbesten Feldweg hinauf, der sich schnell in einer grüngelben Wiese verlor. Erst auf dem Gipfel begriff ich, dass ich auch den kürzeren Kolonnenweg von der anderen Seite hätte nehmen können.
Der Chorleiter Gotthilf Fischer stellte gern überall auf der Welt Friedenskreuze auf: In Washington, Rom, Jerusalem und... äh, Hermannsfeld in Thüringen.
Warum ausgerechnet dieses Grenzdorf? Zum einen wurden in Hermannsfeld besonders viele Familien zwangsausgesiedelt, nämlich 18. Zum anderen stand hier schon mal ein gigantisches Holzkreuz, das zu einer Wallfahrtskirche auf einer Insel gehörte. Weder Kreuz noch Kirche noch die Insel existieren noch - der komplette See musste 1800 zugeschüttet und beackert werden, um eine Hungersnot zu verhindern.
Weil das erste Friedenskreuz offenbar umgekippt ist, stellte Fischer gleich noch eins auf (Jeder nur ein Kreuz gilt hier nicht). Auf den Querbalken pinselte er 1991 die Worte Frieden sei der Welt beschieden. Mit der ganzen Welt hat das noch nicht geklappt, aber zumindest Hermannsfeld blieb seitdem friedlich.
Der Nachbar des Kreuzes ist weniger friedlich: Ein Grenzturm starrt finster auf das Land hinaus. Sein Eingang ist zwar verschlossen, doch an diesem Führungsturm klebte zusätzlich ein Anbau, sagt das Schild. Meinen die etwa die Tür dort in den Gruselkeller, die... offen steht? Ui, soll ich da wirklich reingehen? Mitten in der Löwenzahn-Idylle tat sich auf einmal ein Eingang in einen Horrorfilm auf. Das bedrohliche Lüftungsrohr scheint mich anzustarren. Es erinnert entfernt an eine Schwallbrause aus dem Schwimmbad, doch statt Wasser würde ich eher erwarten, dass dort Blut herauskommt.
Naja, den runden Betonkeller hatte ich dann doch recht schnell durchquert. Nach zwei Räumen folgte eine dicke Panzertür mit vier verschiedenen Riegeln, die sich nicht öffnen ließ. Aber wer will solch eine schwer gesicherte Tür auch öffnen? Das ist schließlich die Stelle, an der im Horrorfilm alles schiefgeht.
In diesen Räumlichkeiten wurde ein Notfall-Trupp NVA-Soldaten frisch und kühl gelagert. Ihnen stand unter anderem eine Minenbrücke auf einem speziellen Anhänger zur Verfügung. Damit konnten sie den Minenstreifen überqueren und hinterher noch aus einem Stück bestehen (ein Zustand, den nicht nur Soldaten sehr zu schätzen wissen).
Im nächsten Wald verfolgten mich ganze vier kläffende Köte an ihrem Zaun entlang - die lärmenden Erben der DDR-Grenzhunde sind immer noch aktiv.
In Henneberg versteckte sich ein berühmter Flüchtling namens Friedrich Schiller im Osten, als ihm Arrest drohte - er hatte sich für einen Tag der Wehrpflicht entzogen, um die Premiere seines Stücks anzusehen.
An dieser öden Henneberger Kreuzung wollte ich einen Abstecher zum nächsten Mahnmal unternehmen. Hui, der Waldweg sieht ganz schön steil aus, ich stelle das Rad lieber ab und laufe das Stückchen zu Fuß.
Doofe Idee.
Das steile Stück war superkurz, und der Rest war so gut wie gerade und überraschend lang. Tja, dann habe ich jetzt halt eine Wanderung eingelegt. Schließlich verläuft hier sogar eine kleine Wanderroute entlang der Grenze, der Friedensweg.
Nach vielen Schritten erreichte ich die ersten Ausläufer des Skulpturenparks Deutsche Einheit, einem Grenz-Mahnmal der völlig anderen Art. Hier stehen keine abstrakten Formen aus rostigem Stahl (naja, fast keine), sondern ein gewaltiges Chaos an knallbuntem Zeug. Der Künstler Herbert Fell hat verschiedene Bauherren beauftragt und auch selbst mit angepackt, um all das Zeug auf den Hügel zu schaffen. Ein Feld der Fahnen, verschiedenste Tore, Statuen, Figuren, Galgen, Feuerstellen, Grundgesetze, verschiedene Versionen der Deutschland- und Europahymne, Mauerstücke... das meiste hat natürlich mit dem Kommunismus zu tun. Oder dem Nationalsozialismus. Oder Europa. Oder Frieden.
1999 wurde hier zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls ein hölzerner Reichsadler angezündet. Aus der Asche erschien der metallene Reichsadler, der hier bis heute steht (rechts hinten). Ich wusste gar nicht, dass unser Staatswappen eigentlich einen Phönix zeigt!
Die Funken schlugen zum Glück nicht auf die Goldene Brücke über. Das ist ein golden angemalter Holztunnel, der sich mit den Demonstrationen in Leipzig beschäftigt, welche die DDR zu Fall brachten. An die Wand wurden scharfe Spitzen genagelt, mit denen die LKWs der Polizei ausgestattet waren. Danke, dass nichts passiert ist! Vermutlich ist dies das einzige Mahnmal, bei dem sich kritische Künstler bei DDR-Entscheidungsträgern bedanken. Aber schon zu recht: Wären die Spitzen im Zuge einer "chinesischen Lösung" eingesetzt worden, dann gäbe es heute an dieser Stelle vielleicht noch echtes Blut statt roter Farbe.
Ein umgeworfener Stuhl erinnert an die gewaltsame Vertreibungen a) der Protestanten durch Fürstbischof Julius Echter 1585 und b) der Grenzbewohner während der Aktion Ungeziefer 1952. Die unterschiedlich langen Stuhlbeine sollen ihre unterschiedlichen Lebenswege symbolisieren. Offiziell sollten in Henneberg nur Ausländer, nicht behördlich Gemeldete und Straftäter ausgesiedelt werden. In Henneberg traf das auf exakt 0 von all denen zu, die 1952 unsanft geweckt und rausgeworfen wurden. Stattdessen hatten diese Menschen eine der folgenden Verfehlungen begangen: Verwandte im Westen besucht (was praktisch jeder tat), selbstbewusst aufgetreten, Westsender gehört, nonkonform gedacht, zu viel Geld als Bauer verdient und nachts Leute über die Grenze geschmuggelt. Letzteres haben aber nur ein paar wenige Einwohner gemacht.
Im Hintergrund ist der ehemalige kleine Grenzübergang von Henneberg zu erkennen.
So, jetzt aber zügig weiter! Apropros zügig: An der Talsperre Schwickershausen bin ich unter der Auto- und Eisenbahn (zwischen Rentwertshausen und Mellrichstadt) hindurchgeradelt. Die Bahntrasse ist eingleisig: Im Osten wurde das zweite Gleis als Reparationsleistung von den Sowjets abgebaut und im Westen, weil es sich marktwirtschaftlich nicht gerechnet hat.
Das verbliebene Gleis ist dasselbe, das mich heute morgen zu jenem unglückseligen Start nach Bad Neustadt gebracht hatte. Aber ist ja egal, jetzt läuft es gut, was soll noch schiefgehen?
Der Stausee wurde übrigens erst 1968 angelegt, um die Felder der nicht ausgesiedelten DDR-Bauern zu bewässern.
Besonderheit Nr. 1: Ein Durchlasstor für die Soldaten im Grenzsignalzaun wurde komplett nachgebaut. Dazu gehört neben einer Warnlampe auch eine Stahlseilsperre - das Seil wurde zwischen zwei Steinen hochgezogen, falls jemand Unbefugtes durch das offene Tor rasen wollte.
Besonderheit Nr. 3: Der Geländestreifen aus West-Perspektive ist besonders anschaulich dargestellt. Es hängen sogar noch die originalen Warnhinweise des Bundesgrenzschutzes für westdeutsche Spaziergänger. Sie sind in trockenen Amtsdeutsch verfasst. (Jeder, der sich unmittelbar an der Grenze zur DDR aufhält, sollte sich deshalb sorgfältig vergewissern, wo die Grenze zur DDR genau verläuft, um sich oder andere nicht in gefährliche Situationen zu bringen.) Ob diese Sprache geeignet ist, um die Zielgruppe (leichtsinnige Idioten) anzusprechen? Da ist das schlichte Achtung Grenze! mit dramatischem Bild sicher effektiver.
Falls das Seil nicht rechtzeitig hochgezogen wurde, wäre Ihr Auto kurz darauf trotzdem kaputt gewesen - und außerdem nass, denn:
Besonderheit Nr. 2: Im KfZ-Sperrgraben befindet sich Wasser, weil er einen vergitterten Bach namens Bahra kreuzt.
Das genaue Gegenteil eines leichtsinnigen Idioten war der zehnjähriger Manuel, der im Jahre 2001 auf dieser Wiese spielte und eine Tretmine entdeckte. Er reagierte dermaßen ruhig und vernünftig, dass niemand zu Schaden kam, und rettete damit das Leben zweier Erwachsener.
Als ich wieder in den Westen gewechselt bin, fiel mir auf, dass die Hügel inzwischen viel flacher sind. Ich hatte die Rhön endgültig hinter mir gelassen und befand mich jetzt im sogenannten Grabfeld, ein etwas eigenartiger Name für eine Landschaft. Der Sage nach hatte eine Königin in der Region einen Ring verloren. Auf der Suche ließ sie das komplette Land umgraben, zack, schon hieß das Land Grabfeld. Als sie den Ring endlich fand, errichtete sie am Fundort aus Dankbarkeit einen Königshof, zack, schon stand da die Stadt Bad Königshofen im Grabfeld. Aber mache ich jetzt noch den Umweg, um mir diese Stadt anzugucken? Nein, entschied ich in Herbstadt, es ist spät, ich möchte noch etwas Strecke schaffen. Also weitaa... was ist denn jetzt los?
Folgendes war los: Meine Kette hatte keine Lust mehr. Das gerissene Miststück hatte Suizid begangen, weil es mit der Aufgabe überfordert war, eine Bodenwelle von etwa einem Meter zu überwinden.
Uff. Wo ist denn der nächste Fahrradladen? In Bad Königshofen, na so was. Die 4,2 Kilometer von Herbstadt nach Königshofen habe ich das kettenlose Rad geschoben.
Meine Chancen, dass die Werkstatt um die Zeit in einer solch kleinen Stadt noch geöffnet hatte, standen schlecht. Aber ich griff nach dem Strohhalm. Als ich mich dem Bikeshop Grabfeld näherte, stand die Tür tatsächlich offen. Sollte ich Glück haben? Es war zwar nicht der Werkstattbesitzer, der war während die nächsten Tage unterwegs. Aber seine Frau war nicht nur bereit, eine neue Kette zu verkaufen, sondern auch, einen anderen Fahrradmechaniker im Ruhestand aus dem Nachbarhaus herbeizuklingeln. Der allerdings auch nicht da war. Macht aber nichts, ich habe die Kette allein eingefädelt bekommen. Zwar nicht ganz perfekt, sodass ich die nächsten Tage nicht alle Gänge nutzen konnte. Aber immerhin.
Insofern eine klare Empfehlung an den genialen Bikeshop Grabfeld, der sogar erstklassigen Service leistet, wenn er eigentlich geschlossen ist. Danke!
An der Wallfahrtskirche von Grabfeld-Ipthausen befindet sich die größte bayrische Anlage mit Beos. Das sind unauffällige schwarze Vögel, die besser sprechen können als viele Papageien. Ein paar christliche Beos, die Psalmen rezitieren - das wäre jetzt genau das richtige zur Aufmunterung! Leider schliefen sie alle schon.
Mein Kettenproblem hatte freilich eine Kettenreaktion ausgelöst: Inzwischen dämmerte es dermaßen, dass ich die Suche nach einem guten Schlafplatz quasi halbblind durchführte. Bei Eyershausen bog ich planlos ab in einen Wald. Wie sich herausstellte, bestand der "Wald" zu je einem Drittel aus spitzen Dornen, eisigem Sumpfwasser und abgeholzten Baumstümpfen.
Alles in allem habe ich schon besser geschlafen.
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