Auch zwischen Saale und Elbe sucht sich der Radweg Deutsche Einheit wieder seine eigene Route, die ich mit einem Stück Mulderadweg zu einer Tagestour verbunden habe.
Diesmal liegt auf der Strecke tatsächlich ein Ort, bei dem ich sagen würde: Das lohnt sich. Eine eher unbekannte Stätte deutscher Geschichte, bei der es schade wäre, wenn kein einziger Radfernweg dort vorbeiführen würde.
Aber der Reihe nach. Los geht es mit der Fuhne, ein Flüsschen, das sich im Norden Bernburgs gut versteckt der Saale anschließt.
Inmitten der gesichtslosen Äcker bietet die kleine Fuhne ein Multikulti-Nagetier-Biotop für Europäische Biber, böhmische Bisamratten und südamerikanische Nutrias.
Ein paar Schlösser säumen den Weg. Das weiße Schloss Biendorf ist wahrscheinlich das jüngste von ihnen, denn es stammt von 1927 - ein Ersatz für das komplett abgefackelte Original aus dem 18. Jahrhundert. Und was machen die Eigentümer damit, nachdem sie es so exakt aufgebaut haben? Sie bewahren darin die größte Fingerhutsammlung der Welt auf. Warum auch nicht.
Ein sehenswertes Stück deutscher Werbekunst ist auch diese Wegbeschreibung zu einem Metallhändler.
Zum größten Teil sah die Tagesetappe jedoch genau so aus.
Sogar die Fahrradboxen sind verziert mit einem Gesetz darüber, wann man das Vieh seines Nachbarn auf die Weide treiben darf (Landrecht III 37 § 2)
Ein Kinderspielplatz vermittelt den Ehrenkodex der Ritter, im Informationszentrum und in der Kirche gibt es Extra-Ausstellungen und sogar das Gasthaus heißt Zur Morgengabe (Geld, das der Ehemann seiner Frau am Morgen nach der Hochzeitsnacht zur freien Verfügung überlässt, damit sie abgesichert ist, falls der Ehemann zum Beispiel umkommen sollte).
Ein weiser Mensch sagte einst: "Benutze keine Abk.!"
D. ist e. Regel, d. ich heute nicht beherzigt habe - mit diesem Weg (Abk. Nr. 2) habe ich querfeldein ca. 5 km gesp.
Köthen liegt nicht nur mitten auf dieser Tagesetappe, sondern auch mitten in Sachsen-Anhalt, Deutschland und Europa. Ich hatte mir ein eher abgehängtes Städtchen im Nirgendwo vorgestellt und war dann doch überrascht, wie viel los war und wie viel Köthen zur deutschen Geschichte beigetragen hat: Musik von Bach, Gedichte von Eichendorff, Homöopathie und die mitteleuropäische Ornithologie. Und all diese Themen deckt das Schlossmuseum ab, wie ich erst jetzt lese - spannende Mischung eigentlich, schade, das muss ich vorher im Reiseführer irgendwie überlesen haben. Deshalb bin ich nur einmal durch die Fußgängerzone gerollt und habe die langweiligen und die historischen Gebäude angeschaut - für das Prädikat Sehenswertes Ortsbild reicht es jedenfalls nicht.
Nun aber zu jenem historischen Ort, den ich zum Glück nicht im Reiseführer überlesen habe: Reppichau. Von diesem kleinen Dörfchen hatte ich vorher schon mehrmals gehört, aber unter seinem mittelalterlichen Namen: Repkow. Genau genommen hatte ich von der Familie namens Von Repkow gehört, die über dieses Dorf herrschte. Diese sächsische Ritterfamilie kam von Ostwestfalen in die Sorbengau und entzog sich so auf eindrucksvolle Weise jeder Ost-West-Kategorisierung. Ihr Wappen war ein Rebhuhn mit goldenem Buch. Also eher: Kleine Fische. Bis ein Von Repkow namens Eike Von Repkow der vielleicht einflussreichste Jurist Europas wurde, obwohl er gar kein Jurist war. Wahrscheinlich wird es nie wieder ein Rechtsbuch geben, das solchen Einfluss hatte wie jene Graphic Novel namens Sachsenspiegel, die Repkow schrieb (mehr dazu, wie es dazu kam, hier).
Und ihm zu Ehren ist ganz Reppichau das einzige Jura-Freilichtmuseum in Deutschland. Nein, nein, warten Sie, ich weiß, für manche Menschen klingt das Wort Jura-Freilichtmuseum ungefähr so einladend wie Currywurstsmoothie, aber es ist wirklich ganz süß gemacht. Und gratis.
Also, im Prinzip wurden da einfach lauter Zeichnungen aus dem Sachsenspiegel und seinen Spin-Offs an die Wände gemalt. Ab und zu sind auch Skulpturen aus Holzplatten dabei, hier zum Beispiel ein Bild des Königs aus der Oldenburger Fassung des Sachsenspiegels. Ihre Majestät verhängt gerade die Reichsacht über jemanden. Heißt unter anderem: Sein Lehen geht zurück an den lokalen Adligen, sein Eigentum an den König (Landrecht I 38 § 2). Das erklärt dann auch, worauf der König gerade mit seinen Side Eyes schielt.
Das Dorf Reppichau ist selbst wie ein Buch, und zwar eine Graphic Novel mit schlichtem Einband, die immer schöner wird, je tiefer man hineinblättert.
Anfangs gab es gar keine Bilder, danach waren sie eher einzeln verstreut und ich dachte mir: Naja, unter dem Wort Freilichtmuseum hatte ich mir irgendwie mehr vorgestellt. Aber je tiefer ich in die Sträßchen von Reppichau vordrang, umso größer und eindrucksvoller umfing mich das Kunstprojekt Sachsenspiegel. Manchmal haben die Bilder einen Bezug zum Gebäude. Auf dem alten Badehaus (das damals gleichzeitig Arztpraxis war) wurde zum Beispiel auf maximal unerotische Weise die gutgläubige Wegnahme fremder Sachen in einem Badehaus (zum Beispiel Schermesser) gemalt (Landrecht III 89).
Aber am immersivsten wird der Spaziergang durch die Graphic Novel in diesem Innenhof, der komplett als Fachwerk-Burg gestaltet ist. Denn natürlich enthält das mittelalterliche Buch auch Paragraphen zu den mittelalterlichsten Bauwerken überhaupt: Wenn ein Burgherr ein Verbrechen begeht, wird seine Burg geschliffen und die Einwohner des Gerichtsbezirks müssen dabei helfen (Landrecht III 68 § 2, Bild unten links auf der Hauswand). Wird die Burg aber unrechtmäßig erobert, kann der Burgherr vor dem Richter eine "Ungerechtigkeitsklage" erheben, damit sie nicht geschliffen wird (Landrecht III 67, Bild oben rechts auf der linken Hauswand).
War sonst noch was? Ach ja, kurz vor Dessau liegt die Kühnauer Heide, die wie viele ostdeutsche Heiden auf sowjetische Panzerübungen zurückzuführen ist. Große Teile davon darf man wegen der Munition im Boden nicht betreten, aber auf dem Radweg am Rand kann man sie eigentlich auch sehr gut überblicken.
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