Tag II: Die stille Deutschlandkirnitzschschlucht
3:00, Kahnfahrt Obere Schleuse, Deutschland, Kilometer 27,8 Ich habe den Fledermäusen lang genug zugesehen. Ohne körperliche Aktivität werde ich nun doch müde, also fahre ich lieber die lange Serpentine wieder hoch, zurück zur Kreuzung und den verschnörkelten Waldweg entlang.
So eine Nacht durchmachen ist nur was für Touren mit einer einzigen Nacht, bei der am nächsten Morgen nur noch wenige Kilometer übrig sind. Und selbst dann reicht es erstmal damit, war ja nur ein Experiment.
3:29, Deutschland, Kilometer 30,1 Ich darf wieder nach unten ins Kirnitzschtal radeln. Ich schaue erstmal ein Stückchen nach links und stoße zuerst auf den Wanderweg, der aus Richtung der Neuen Bärenhöhle kommt.
3:31, Deutschland/Tschechien Und dann auf die letzte Brücke nach Tschechien. Einen Kilometer später verlässt die Grenze den Fluss und steuert auf einem deutlich direkteren Weg die Elbe an.
4:00, Deutschland Ich warte eine Weile, bis es hell wird, ab hier möchte ich alles erkennen können. Der Nebel gibt zögerlich den Blick frei.
16. Jahrhundert (vermutlich), Deutschland Die Marienquelle wird gefasst. Man nennt sie heute so, weil über der Quelle eine Nische im Fels lag, in der irgendwas gestanden haben könnte, zum Beispiel ein Marienbild. Oder vielleicht auch was komplett anderes.
So wirklich viel weiß man über die Quelle nicht. Aber sie sieht wesentlich quelliger aus als die Kirnitzschquellen.
1612, Niedere Schleuse Die erste Version der zweiten Schleuse entsteht. Das Wasser fließt in der Mitte durch die Wasserpforte und an der Seite durch die
Wilde Flut. Obendrauf steht ein Häuschen, in dem die Floßhaken aufbewahrt wurden. Damit wurde das Holz zum Verschließen bewegt, und bei Bedarf auch der Kurs der vorbeikommenden Flöße korrigiert. Noch heute schützt sie im Notfall vor Hochwasser.
4:37 Felswand an Felswand ragt in meinen Weg rein. Im Zwielicht der Morgendämmerung wirken sie beinahe wie riesige, faltige Gesichter. Eine Art Mount Rushmore im Profil, bei dem sich die Präsidenten alle mit Blick auf den Fluss hingelegt haben (nicht die im Foto, ich konnte das nicht richtig fotografisch einfangen).
4:48 Die Kirnitzsch hat derweil ihre wildeste Passage.
5:00 Ich komme auf einer Straße heraus.
5:05 Aber das heißt nicht, dass jetzt Schluss mit spektakulärem Stein ist. Im Gegenteil! Nun, wo das Tal und der Weg etwas breiter sind, ragen auch die Felswände noch imposanter auf. Das komplizierte Muster aus verwachsenen Steinblöcken und Platten bildet manchmal richtige kleine Terrassen, auf denen Wiesen und Bäumchen gedeihen.
5:08 Aber nun stehen auch immer öfter Häuser im Tal. Es handelt es sich praktisch nur um alte Mühlen, die Zimmer und Restaurants für Wandertouristen anbieten.
5:23 Denn auch wenn das Tal nun immer öfter in seinen Schleifen Platz für eine flache Wiese lässt, so richtig viel Landwirtschaft geht da nicht.
5:29, Lichtenhainer Wasserfall, Kilometer 42,1 Ab diesem Gehöft müssen sich die autolosen Wanderer nicht mehr mit Bussen begnügen, hier hält die Kirnitzschtalbahn. Puh, von hier zum Tal-Highlight bei den Booten und zurück ist es schon eine ganz schöne Strecke. Es gibt aber noch andere Strecken - so unübersichtlich viele, dass sich ein Grundbesitzer genötigt sieht, seine ganz private Steintreppe mit
Privat - Kein Wanderweg! zu markieren. Zugegeben, sie sieht auch echt nach einem Wanderweg aus. Eine Strecke führt zum
Kuhstall - eine Berghütte, offenbar das deutsche Äquivalent zum Tokán auf der tschechischen Seite.
Aber auch hier an der Endstation wartet eine kleine Sehenswürdigkeit.
1830 Der Lichtenhainer Dorfbach bekommt auch ein aufziehbares Stauwehr. Alle halbe Stunde öffnet der zuständige "Wasserfallzieher" die Klappe und erzeugt einen künstlichen Wasserfall. Wozu? Na, weil die Sachsen genauso wie die Harzer wussten, dass so was Besucher anlockt.
1853 Hier steht (schon wieder) eine Rindenhütte, die aber durch ein Gasthaus im Schweizer Stil ersetzt wird. Schon damals ist es wichtig, dass es die Wanderer nicht zu anstrengend haben: Esel, Einheimische oder einheimische Esel schleppen die Gäste in Tragsesseln zum gewünschten Startpunkt ihres Spaziergangs.
1912 Die touristische Wasserfallschleuse ist nicht gut darin, zu verhindern, dass ein Wolkenbruch aus dem Gebirgsbach eine zerstörerische Dusche macht, der metertiefe Löcher in die Erde fräst und anderswo Geröllhaufen zurücklässt.
17.7.2021 Und auch in jüngerer Vergangenheit wurde der kleine Wasserfall in Mitleidenschaft gezogen. Wieder zerstört der Starkregen vieles, aber für den Wasserfall ist besonders kritisch, dass er das Staubecken mit Schlamm verstopft.
2023 Endlich sind alle Genehmigungen für die Wiederherstellung da und die Bauarbeiter rücken an, um alles wie vor 120 Jahren aufzubauen. Wenn schon historisch, dann richtig. Gar nicht so leicht, denn es gibt kaum Fotos aus der Zeit.
5:35 Die Felsen sehen schon so aus wie damals, der Ablauf wird auch dieses Jahr noch fertig, aber das Staubecken dauert noch etwas. Ein Banner bittet um Spenden, um die historische Wasserfallanlage wiederherzustellen.
Aber da fällt doch schon was runter? Gradlinig und unverdrossen rauscht ein Wasserstrahl von den fast schon tropisch mit Schlingpflanzen überwachsenen Felsen. Ganz ehrlich, mir wäre gar nicht aufgefallen, das das nicht der richtige Wasserfall ist - ich bin es gewohnt, dass sich hinter dem Wort Wasserfall komplett unterschiedlich große Sachen verbergen, und das ist bei Weitem nicht das kleinste Rinnsal, das ich unter dieser Bezeichnung entdeckt habe.
Aber natürlich auch nicht gerade das größte.
2024-2025 Der Wasserfall ist komplett fertig.
1850 Eine ähnliche Geschichte hat der Beuthenfall eine Haltestelle weiter. Sein Name kommt von den Beuthen, also Bienenstöcken, die die Bauern am Ufer platzierten.
5:43 Von der Straße aus gesehen sehe ich seinen Schleier nur dumpf im Schatten zwischen Bauruinen plätschern.
5:46 Erst als ich dem Wanderpfad ein Stück aufwärts folge, sehe ich ihn aus komplett anderer Perspektive, von oben und in der wuchernden Wildnis. Kaum zu glauben, dass das derselbe Fall ist wie auf dem vorherigen Foto.
Vorgestern hatte mich schon der Instagram-Kanal des Elberadwegs vor den Schienen der Kirnitzschtalbahn gewarnt. Vielleicht dachten die, ich fahre stromaufwärts.
5:52 Denn bergab ist das nicht das Problem, da befinde ich mich gemäß dem Rechtsfahrgebot nicht auf der Seite der Gleise.
Dennoch: Die Straße ist schon echt eng. Immer wieder mahnt ein Schild, für die nächsten X Kilometer dem Gegenverkehr Vorrang zu gewähren und auszuweichen, wobei mit
Gegenverkehr hauptsächlich die Bahn gemeint ist. Zusätzlich klebt derselbe Text vorne auf den Zügen als großer Aufkleber. Aber das ist alles eher ein Problem für Autofahrer, Bergauf-Radler und überhaupt nur dann, wenn auf dieser Straße irgendetwas los ist.
6:07 Auf einer gemauerten Kirnitzsch-Insel zelten die Gäste friedlich auf einem Campingplatz. Erfreulich viele Zelte, den Anblick kenne ich sonst kaum noch!
Pfingsten 1898 Die Kirnitzschtalbahn besteht ihre Jungernfahrt und kutschiert seitdem Touristen in den vordersten Teil des Sandsteintals - schon diese Strecke ist einzigartig in Europa. Bis heute tauschen die Fahrer ganz oldschool Signalstäbe, um Unfälle zu verhindern.
6:12 Das ist nötig, denn es sie haben echt viele dieser gelben Straßenbahnwagen. Ich komme verblüfft am Depot vorbei. Fahren echt so viele gleichzeitig, oder haben die einfach nur sehr viel Reserve?
6:22, Bad Schandau Ich tauche ein in die ersten beigen Vorstadthäuser meines Ziels. Im Park stehen sogar noch zwei weitere Straßenbahnen.
Zu einem unbekannten Zeitpunkt findet eine Wassernymphe einen spielenden Jungen, der Angst vor ihr hat und ausrutscht. Sie fängt ihn auf und zaubert eine Meeresschnecke, um ihn zu überzeugen, dass sie nichts Böses vorhat. Mit Erfolg. So erzählt es jedenfalls der Brunnen auf dem Marktplatz von Bad Schandau. Vielleicht eine sehr subtile Werbung für die Kuranwendungen der Stadt, keine Ahnung.
6:25 Die Kirnitzsch hat ihr Tal verlassen und nutzt den neuen Platz für einen finalen Bogen um die Stadt und die Therme.
6:26, Bad Schandau, An der Bindung, Deutschland, 120 m ü. NN, Kilometer 50,8 Hinter einer Holzbrücke und ein paar letzten Hecken ergießt sie sich dann unspektakulär mit einem letzten Sprudeln in die Elbe. Die Stelle heißt
An der Bindung, weil hier im Bindehaus der kurfürstliche Bindemeister wohnte und überwachte, wie das ankommende Holz, dessen Spur ich bis hierhin gefolgt bin, zu größeren Flößen zusammengebunden wurde.
6:30 Der Elberadweg gibt sofort sein Bestes, mit einem schönen Uferweg durch den Kurpark mit nur kurzen Unterbrechungen.
Wohin nun? Die Kirnitzschtalbahn ist nicht mit anderen Zügen verbunden, der schnellste Weg rüber zum Bahnhof ist die Fähre.
6:40 Da die noch nicht verkehrt, radle ich ein Stück weiter zur großen Brücke, was eh nicht so viel länger ist.
6:57, Bad Schandau, Nationalparkbahnhof, Deutschland, Kilometer 54,5 Wie oft bin ich schon durch diesen Grenzbahnhof durchgefahren, auf dem Elberadweg sogar außen vorbei. Aber heute sehe ich den Bahnhof (und vorhin das dazugehörige Stadtzentrum) zum ersten Mal von innen. Was ich sehe, gefällt mir und ist von Kopf bis Fuß auf Wandern und Kur eingestellt. In der Bahnhofshalle liegt jede Menge Infomaterial, und ganz hinten ein Raum zum Inhalieren von Salz (aber mit sehr eingeschränkten Öffnungszeiten).
Ich steige in die stündliche S-Bahn (vom Zugtyp eher ein Regionalexpress) in Richtung Dresden. Das hier war definitiv eine gute Art, ein Wochenende zu verbringen! Aber nächstes Mal doch lieber mit normalerem Schlafrhythmus.
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