Tag I: Die stille Tschechienschindlerkříniceschlucht
(bitte nur weiterlesen, wenn Sie das schnell fehlerfrei aussprechen können)
Samstag, 16:22, Varnsdorf, staré nádraží (Alter Bahnhof), Tschechien, Ústecký Kraj (Region Aussig), Kilometer 0 Ich steige aus der Trilex-Regionalbahn und schaue mich um. Varnsdorf klingt deutsch. (Gleich zwei Vokale, viel zu viele für Tschechien!) Aber das Dorf sieht eher tschechisch aus und ist es auch. Dennoch war die Fahrt im Deutschlandticket enthalten. Der Zug (der nur alle zwei Stunden fährt) macht nämlich aus Deutschland einen Bogen durch einen Zipfel Tschechiens und endet dann wieder in einem deutschen Dorf. Nirgendwo verschmelzen die beiden Nachbarländer so stark wie hier. Das führt zu skurrilen Bahnhofsnamen wie Varnsdorf - pivovar Kocour (Brauerei Kater).
16:44 Wie immer: Nichts ist so anstrengend wie der Aufstieg vom Bahnhof zur Quelle.
Noch gefährlicher wird diese Straße, wenn Sie ein Wildschwein sind.
17:02, Studánka, 514 m ü. NN, Kilometer 3,7 Ein rostiger Zaun und die weiße Kirche des Franz von Assisi zeigen: Ich habe den höchsten Punkt erreicht. Der Name bedeutet "Brunnen", denn von überallher fließt das Wasser runter. In die eine Richtung zum Zlatý Potok (Goldener Bach), der über die Mandava/Mandau und die Oder in der Ostsee landet. Und die andere Seite der Wasserscheide, in Richtung Nordsee, schaue ich mir jetzt genau an.
August 1812 Im Krieg checkt Napoleon in diesem Quellendorf im Gasthaus ein. Vermutlich war er sehr durstig.
17:08 Die Straßen werden immer kleiner, die Aussicht immer besser.
17:15 Ich tauche ein in den Wald.
17:18, ca. 506 m ü. NN, Kilometer 5,7 Da ist ja endlich der Abzweig zur Lichtung mit der Quelle. Anders, als man annehmen dürfte, entsteht der Fluss Kirnitzsch (auf Tschechisch Křínice) nämlich nicht ausschließlich aus dem umherfliegenden Speichel von Menschen, die seinen Namen aussprechen (egal, in welcher Sprache).
Vor wenigen Jahren wurde die Quelle noch von einer Rasthütte beschattet. Davon ist nur noch das Betonpodest übrig. Engagierte Einheimische haben die baufällige Hütte zerlegt und im Wald unter Aufsicht der Feuerwehr kontrolliert verbrannt. Die neue Hütte lässt noch auf sich warten.
17:23 Ein alter Tscheche radelt vorbei und erzählt mir von die Hütten-Historie dieses Ortes. Er macht mich auch auf die anderen Quellen aufmerksam, die ich sonst womöglich übersehen hätte.
17:26 Quelle Nr. 2 liegt ein paar Meter tiefer natürlicher im Gras. Das Wasser kommt kurz hinter dem rostigen Zaunring (ganz rechts) wieder aus dem Boden und vereint sich mit den anderen Quellen (ganz links). Unter all dem Grün ist der Bach praktisch nicht zu sehen.
17:28 Quelle Nr. 3 liegt ganz hinten am Ende eines sehr zugewucherten Pfads.
"Pass auf die Zecken auf!", ruft es mir hinterher.
Mehrere Quellen sind ja an sich nichts ungewöhnliches, aber ich habe noch nie drei gesehen, die so klar getrennt dicht beieinander liegen und dermaßen gleich aussehen. Alle drei sind ein total stiller, schwarzer Teich in einem Ziegelring und einem rostigen Zaun. Trinkwasser abfüllen würde ich darin eher nicht. Diese Tinte ist einer der saubersten Flüsse Sachsens?
17:32 Der feuchte Waldweg lässt sich gut fahren. Die Kirnitzsch links in ihrem versteckten Moostal ist kaum zu erkennen. Aber hey, der braune Straßengraben, eine Art sehr lange Pfütze, landet bestimmt auch irgendwann im Fluss.
17:40 Kurz wird die Kirnitzsch zu einem Teich angestaut, dann lande ich wieder auf der Straße.
1863, Krasná Lípa (Schönlinde), Kilometer 8,8 (boah, bin ich langsam) Die Kirnitzsch fließt mitten über den Marktplatz, der ja immerhin nach ihr benannt wurde (Křínické Náměstí). Die putzige kleine Brücke des Heiligen Jan spannt ihren Bogen darüber, um sie herum steht ein Statuen-Quartett der Heiligen Nepomuk, Joseph, Katharina und Barbara. Tschechen mögen Heilige.
5.6.2010 Die Kirnitzsch fließt längst unterirdisch, doch die alte Brücke wurde trotzdem restauriert. Feierlich enthüllt man die neuen vier Statuen der Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft.
Nicht ohne Grund singt schließlich der Musiker Pokáč über sein Volk: "Uns berührt kein Glaube besonders, unser einziger Gott: Jágr, Jaromír [ein Hockeyspieler]."
17:50 Ich mag Krasná Lípa. Der Marktplatz ist ein ganz gut geratener, gemütlicher Kompromiss aus Straße, Parkplätzen und Bäumen. Vor der Nationalpark-Ausstellung verkünden Poster, welche Wellness-Anwendungen das Hotel nebenan bietet.
17:55 Hinter dem Stadtzentrum fließt die Kirnitzsch in grauen Mauern durch schöne Parks und Industriegebiete.
17:57 Moment mal, was stand da auf dem Schild vor der Ruine? Schindlerová Pletárna? War das etwa hier, wo Oskar Schindler mit den geretteten Juden...? Nee, das war Brünnlitz in Mähren.
1854 Stefan Schindler war ein ganz normaler Strumpffabrikant, der, soweit bekannt, keinerlei Juden rettete und sich hier schon 90 Jahre vorher ansiedelte, ohne zu wissen, dass er damit 170 Jahre später einen Radtouristen etwas enttäuschen würde.
ca. 1250 Deutsche Siedler bringen das Fachwerk aus dem Westen mit. Es spart Holz und man kann mehrstöckige Häuser bauen.
Wie schon erwähnt: Nirgendwo verschmelzen die beiden Nachbarländer so stark wie hier. Aber Fachwerk mit der slawischen Blockstube (Roubenka) zu verschmelzen, ist gar nicht so leicht, denn die Holzfasern verlaufen und verziehen sich ganz unterschiedlich.
ca. 1790 Dorfhandwerker entwickeln eine endgültige Lösung: Das Umgebindehaus a.k.a. Podstávkový Dům. Oben ist Fachwerk (oft hinter Schiefer versteckt), das unten nur von ein paar senkrechten Balken getragen wird. Die untere Blockstube steht unabhängig vom Rest, verziert mit schicken Streifen und hölzernen Bögen. Culturclash completed!
18:05 Wieder werden die Straßen kleiner, ein Auto kommt nur noch alle 10 Minuten. Einmal überquere ich eine provisorische Baustellenbrücke, die wie eine Eisenbahnbrücke aussieht. Natürlich kommt gerade dann ein Auto, als ich ein Foto machen will.
1745, Dixmühle, Kyov Der Sage nach will Müllerknappe Pumphut die Müllerstochter rumkriegen. Pumphut setzt schwarze Magie ein. Müllerstochter setzt Gottesfürchtigkeit ein. Es ist sehr effektiv, Pumphut flieht.
18:16 Und ich tauche endlich ein in den Nationalpark und das Kyjovské Údolí. Kyov klingt wie Kiew, aber der deutsche Dorfname lautet Khaa und das Tal heißt dementsprechend Khaatal. Der Fluss wechselt abrupt von Granit zu Sandstein, und die Talform von V zu U. Spoiler: U ist besser!
An den letzten Häusern gucken schon die ersten Felsen raus.
18:18 Die sich rasant vermehren! Höher und höher ragen die graubraunen Mauern auf, geschichtet in dicke Blöcke. Jetzt weiß ich wieder, warum ich diesen kleinen Fluss so gern fahren wollte. Die Kirnitzsch ist elbsandsteiniger als die Elbe selbst!
18:19 Junge Spaziergänger kommen mir entgegen - gibt es einen besseren Ort, um einen warmen Samstagabend zu verbringen? Doch die Schlucht leert sich bereits.
18:20 Der Wald ist noch feucht vom letzten Regen, dementsprechend zeigt der Zeiger der Waldbrand-Warntafel auf niedrig.
Ich mache eine seltsame Beobachtung: Die Felsen strahlen Kühle und Wärme zugleich aus. Sie haben die Sommerhitze aufgesogen und geben mir etwas davon ab, und zugleich wabert auch eine leichte feuchte Kühle der letzten Regenfälle zu mir hinüber. Es ist unglaublich angenehm, vielleicht die angenehmste Luft, die ich jemals verspürt habe. Diesen Effekt kann keine Therme, die ich kenne, hervorrufen - auch nicht das Spa-Hotel von Krasná Lípa oder die Toskana-Therme neben der Mündung der Kirnitzsch.
27.4.2024, 14:15 Feierlich eröffnen die Kyover den restaurierten Wanderweg mit neuem Naturlehrpfad, dessen Stationen Čertův Kámen (Teufelsstein) oder Dřevo mluví (Holz spricht) heißen. Die Informationen erhält man größtenteils über QR-Codes, obwohl der Handyempfang immer schlechter wird.
Permanent bewegen sich die Sandsteine um Bruchteile von Millimetern. Heißt, irgendwann fällt auch mal was runter. So entstand zum Beispiel diese wunderschöne Schutthöhle aus dicken Brocken, die die Kirnitzsch sogar dazu verführt, etwas zu rauschen. Die Höhle heißt Weinkeller, weil sich da drin im Winter Eiszapfen in Flaschenform bilden.
Der Wolfsbach nebenan bildet im Winter sogar richtige Eisgrotten.
18:43 Sonst bleibt der Fluss eher ruhig und sieht gar nicht so anders aus als vor der Schlucht. Einmal bildet er ein rundliches Becken, das verdächtig nach einem unterirdischen Einsturz aussieht (nach allem, was ich im Harz darüber gelernt habe).
18:49 Gelbe Flecken säumen die Felswände, als hätte die Natur Grafitti draufgesprüht. Dass die tschechischen Flechten grelle Farben bevorzugen, weiß ich schon aus dem Riesengebirge, aber hier nimmt das nochmal größere Ausmaße an.
Auf den Wiesen wachsen seltene Orchideenarten. Hach, so schön natürlich... wie es scheint, ist es hier nun auch wieder nicht.
1800 Im Kirnitzschtal wächst ein bunt gemischter Urwald. Fichten leben nur ganz unten am Fluss, wo es dunkler und kühler ist.
ca. 1900 Menschen holzen den Urwald ab und pflanzen überall frische Fichten zum Fällen.
2000 Der Nationalpark wird gegründet, und der Fichtenwald allmählich wieder in einen Mischwald umgewandelt. So was geht nur allmählich. Leider.
2017 Die Hitzewelle lässt den Fichten mit ihren flachen Wurzeln nur noch wenig Wasser. Der Borkenkäfer sieht seine große Chance gekommen und rasiert alles ab.
2018 Panisch holzt der Nationalpark die toten Flächen ab, um den restlichen Wald vom Borkenkäfer abzuschneiden. Es bringt: Nichts.
2024 Der Nationalpark lässt die toten Bäume liegen, damit zumindest noch die anderen Tierarten was davon haben. Immerhin ist die Monokultur nun weg, und früher oder später wird daraus der gewünschte Mischwald wachsen. Bäume werden nur noch nah an den Wegen entfernt.
So schlimm wie im Harz sieht es nicht aus, allerdings bin ich ja auch unten im Tal und habe nicht ganz den Überblick.
19:06, Tschechien Zeit, sich einen Überblick zu holen! Ich radle einen tschechischen Waldweg hoch. Jap, viele Baumleichen, aber die Felsschlucht ist nicht wirklich zu erkennen. Schade, dann doch lieber von unten.
1630, Vlčí Deska (Wolfsplatte), Tschechien, Kilometer 20,6 Ein Typ namens Jan ist in diesen Wäldern wohlbekannt, trifft bei einem Spaziergang zwei Wölfe und stirbt. Wenn du hier vorbeikommst, bete für seine Seele! So ähnlich steht es in gereimter Form auf einer hölzernen (Wolfs)Platte. Ansonsten ist die Stelle nur an ein paar hölzernen Bohlen zu erkennen, eine besondere Aussicht herrscht hier auch nicht.
Würde ich hier weiterfahren, käme ich zum Waldgasthof Tokán auf einem Gipfel, die mir der alte Mann heute morgen empfohlen hat. Aber diese Schleife auf der tschechischen Seite ist deutlich länger.
19:18, Tschechien/Deutschland Also fahre ich stattdessen über die Kirnitzsch, die inzwischen zum Grenzfluss geworden ist. Moosbewachsene Brücken verbinden die Ufer und sind inzwischen so ziemlich die einzigen markanten Orientierungspunkte.
bis 1945, Zadní Doubnice (Hinterdaubitz), Tschechien In nur sechs Häusern leben die Einwohner von Holz und Fisch.
19:28, Niedermühle, Sachsen, Deutschland Auf deutscher Seite folge ich dem Fluss noch, solange es geht. An der abgenutzten gelben Niedermühle geht es nicht mehr. Nur die Kirnitzsch, die ein kleines Betonwehr runterrauscht, kann weiter.
19:29, Deutschland Ein kaum erkennbarer Pfad führt über die Holzbrücke zurück nach Tschechien und rauf zur Wolfsplatte. Ein anderer Wanderpfad folgt dem deutschen Ufer, aber der ist gesperrt. Es besteht "konkrete Lebensgefahr", dass einem Bäume auf den Kopf fallen können.
Davor hatte mich der Alte schon heute morgen gewarnt: Vor wenigen Tagen erst habe ihn ein 15 Zentimeter dicker Stamm um wenige Meter verfehlt. Ich fasste spontan den Vorsatz, meinen Helm erst im Zug in Bad Schandau wieder abzunehmen. Aber es waren ja glücklicherweise zwei sehr windstille Tage.
19:44, Deutschland So oder so muss ich das Tal verlassen. Der deutsche Waldweg schraubt sich überraschend einfach an einem Nebenbach hinauf, dessen Tal sich dann zu einer Art Alm öffnet. (Kann man das auch in Mittelgebirgen sagen? Egal, es ist definitiv eine.)
1660-1913, Hinterhermsdorf, Sachsen, Deutschland, Kilometer 24,1 Die Hinterhermsdorfer haben nie Angst zu verdursten. Ihr Schöpfbrunnen schöpft aus einer Lehmschicht über dem Sandstein, und das heißt, die Quelle liefert immer genug Wasser.
2005 Auch wenn es inzwischen Leitungen gibt, haben sie ihren Brunnen zum Gedenken daran restauriert. Und vergittert, sodass niemand mehr vom frischen Lehmwasser profitiert.
20:02 Hinter Hinterhermsdorf ist der Ausblick auch sehr hübsch.
Tja, auch wenn der Fluss so kurz ist, heute werde ich es nicht mehr ans Ziel kommen, dafür hat die Bahnfahrt einfach zu lange gedauert (inklusive zwei Stunden Verspätung). Hinterhermsdorf ist eigentlich der einzige Ort, wo ich übernachten könnte, überall sonst ist Nationalpark. Doch ich fühle mich nicht müde und verspüre wenig Lust, den Hügel dort hinten bis zur Schutzhütte raufzuradeln.
20:04 Zurück in den Wald! Ich passiere mehrere Nationalparkplätze, ein Nationalpark-Klohaus und überhaupt eine Menge Zeug, das unmissverständlich klarmacht, dass hier ein Nationalpark beginnt und ab hier bitteschön gewandert, auf manchen Wegen noch geradelt, aber (mit einer Ausnahme) kein Auto gefahren wird.
20:15 Nur weil mein Waldweg nicht im Kirnitzschtal verläuft, heißt das nicht, dass es an Sandstein mangelt!
20:22 Ich biege auf einen anderen Waldweg ab. Zunächst unterscheidet er sich nicht groß vom anderen, außer dass er sogar noch verschnörkelter läuft und die Bäume seltsam angefressen sind.
Diese Sackgassen-Serpentine bringt mich runter zum unbestrittenen touristischen Highlight der Kirnitzsch.
20:27 Wer hier arbeitet, darf mit dem Auto bis zu diesem Punkt fahren und es parken.
Danach muss aber auch er laufen, anders geht es schlecht. Und das nicht nur, weil hier die Kernzone des Nationalparks beginnt. Was für ein cooler Felseinschnitt!
Und gleich ist auch der Fluss wieder da.
1586, Kahnfahrt Obere Schleuse, Deutschland, Kilometer 27,8 Das wertvolle Holz der Sächsischen Schweiz ernährt jede Menge Holzfäller. (Nein, nicht indem die das Holz essen, Sie Holzwurm!) Die Kirnitzsch ist zum Transport aber meistens zu schwach. Sie musste stärker werden. Die erste einfache "schlysse in der Kirnitz" reicht dafür nicht.
1667 Unten an der Elbe wird immer mehr Holz gebraucht! Die Adligen in Dresden wollen heizen (und in Meißen demnächst auch noch Porzellan brennen)! Kein Problem, es ist genug Holz da, aber wie soll man die fünf Meter langen Stämme nur runterschaffen? Deswegen baut man Schleusen aus Holz, die eigentlich so was wie Staumauern sind, aber trotzdem aus irgendeinem Grund Schleusen genannt werden. Bei Bedarf kann man die Kirnitzsch auf 700 Meter anstauen, Holzflöße reinlegen und bequem runterspülen. So entsteht ein... naja, Stausee ist wohl übertrieben, aber gestaut ist die Kirnitzsch auf jeden Fall. So wird die Kirnitzsch zum wichtigsten Floßfluss in Sachsen, obwohl sie an sich für Flöße gar nicht geeignet ist.
1813 Die ersten Wanderwege, Geländer und Treppen werden angelegt.
1816 Die Schleusen bestehen jetzt aus Stein, Holz ist schließlich zum Verkaufen da! Aber weil die Straßen immer besser ausgebaut werden, wird die Flößerei unwichtiger.
1879 Der Vaterländische Gebirgsverein Saxonia hat eine andere Idee: Die Menschen wollen offensichtlich diese Felsen sehen. Aber nicht alle wollen wandern. Warum also nicht die Schleuse benutzen, um Touristen dieses schwer zugängliche Tal zu zeigen? Die Einnahmen gehen komplett an die Unterstützungskasse für Waldarbeiter und den Hilfsfonds für Arme. Die ersten Touristenboote sind ein voller Erfolg und staken bis heute Gäste auf der Grenzlinie herum. Also, nicht genau dieselben Boote natürlich. Hoffe ich.
1888 Neben den Holzbooten entsteht ein kleines Gasthaus, die Rindenhütte.
2008 Die muss natürlich immer mal neu gebaut werden, aber sie wird trotzdem weiter mit Rinde verkleidet, is halt Tradition. Daneben steht ein uralter Briefkasten, der bloß einmal am Sonntag geleert wird, also seien Sie darauf vorbereitet, dass Sie früher zu Hause sein werden als Ihre Postkarten.
20:35 Ist das Tal wirklich so schwer zugänglich, dass es Boote braucht? Stromaufwärts ja, da kommt ja der gesperrte Weg mit den fallenden Bäumen von der Niedermühle an. Aber stromabwärts wandert es sich eigentlich ganz gut. Das Rad muss ich natürlich zurücklassen.
Der Pfad windet sich durch das Grün, weder ganz unten am Fluss, noch ganz oben auf den Felsen. Hin und wieder berührt er den Abgrund zum Wasser, ansonsten ist er aber ziemlich harmlos und herrlich. Inzwischen schälen sich dicke Säulen aus den Felswänden und treten noch einmal besonders hervor.
1931 Aus diesem Jahr stammt die aktuelle Betonversion der Schleuse.
20:47, Obere Schleuse/Staumauer, Deutschland/Tschechien Zwar wird die Stelle, wo die Boote ablegen, meistens Obere Schleuse genannt. Aber die eigentliche Schleuse kommt erst ein paar hundert Meter später und macht aus der Kirnitzsch einen kleinen Wasserfall. Um sich den von oben anzuschauen, windet sich eine Abzweigung nach unten.
20:54 Zwei andere winden sich nach oben. Die lange ist in der Karte als
bequem markiert, die andere als
eng. Welche habe ich wohl genommen? Natürlich die Stahltreppe, die sich direkt an den dicken Felsturm schmiegt. Sie ist steil, aber auch nicht enger als der Pfad, oder?
20:55 Keine Sorge, es wird noch eng! Die letzten in den Stein gehauenen Stufen enden an einer Felsspalte. In die wurden hölzerne Stufen reingeschraubt, die ungefähr so groß sind wie ein Buch (aber zum Glück fester). Ein Geländer gibt's nicht, wer zur Seite kippt, berührt eh direkt die Felswand. Wer dagegen nach hinten kippt... also, nach hinten sollte ich lieber nicht kippen.
Ganz, ganz am Ende kann ich nach der einen oder anderen Windung das Ende als Lichtpunkt erahnen. Na schön, also rein da.
20:56 Der Aufstieg ist an sich nicht schwer, doch ich fühlte ich mich schon sehr seltsam, mit eingezogenem Kopf in dieser steinernen Hülle. Für Klaustrophobiker ist dieser Weg wahrscheinlich ungefähr das, was das Rindfleischettikettierungsüberwachungsaufgebenübertragungsgesetz für Hippopotomonstrosesquippedaliaphobiker darstellt. Oder eine Reise durch Brandenburg für Agoraphobiker.
Dagegen ist das "Mauseloch" bei den Adersbacher Felsen gar nix! Nicht mal in den Alpen kann ich mich an so eine verrückte Treppe erinnern.
20:57, Hermanseck, Deutschland Der Gipfel sieht aus wie einer im Nordharz, ein Fels mit mehr oder weniger flacher Spitze, die rundherum mit Geländern gesichert wurde. Von dort reicht der Blick über die nächsten paar Biegungen des Tals zu ähnlichen, aber unbegehbaren Felstürmen. An der höchsten Stelle vom Hermanseck steht auch eine kleine Schutzhütte.
21:08 Ich kann nicht die ganze Wanderstrecke laufen, aber bis zur nächsten Besonderheit schaffe ich es noch. Ich merke aber, dass nicht alle Wanderer so gedacht habe: Der Pfad wird sumpfiger. Bäume liegen im Weg, Bäche rieseln darüber, und schiefe Holzstufen bringen mich runter in die Wolfsschlucht.
21:21, Neue Bärenhöhle, Deutschland Dennoch kann ich erfolgreich runter in die Neue Bärenhöhle steigen. Auf den ersten Blick sieht sie aus wie der
Weinkeller vorhin über der Kirnitzsch. Aber das hier sind nicht einfach Felsbrocken, die übereinander liegen, sondern schon ein richtiger Tunnel. In dem dann noch ein paar Felsbrocken übereinander liegen. Und ein Bach plätschert. Ohne Taschenlampe wäre ich da wohl nicht gut durchgekommen. Wölfe und Bären lassen sich nicht blicken.
21:23 Ich gehe zurück, ehe es dunkel ist. (Dafür kann ich mein Tempo gut genug einschätzen.)
21:42 Ich bin noch im Tageslicht zurück an der Bootsanlegestelle. (Ich sagte doch, ich kann es einschätzen.)
22:17 Die Kirnitzsch übertrifft nicht nur die Elbe an Sandsteinigkeit, sie kann es auch locker mit den Adersbacher Felsen in Tschechien (da gibt's auch Boote, der Vergleich liegt also nahe) aufnehmen... ah, Moment, gibt es hier eigentlich auch seltsam geformte Felsen mit bildlichen Namen? Ja, aber nicht ganz so viele wie in Adersbach. Da ist zum Beispiel der Löwe oder das Kamel, das auf dem Foto seine Höcker in den Nachthimmel streckt.
22:30 In der Kernzone des Nationalparks verbietet ein Schild das Schlafen im Freien. (Woanders in der Sächsischen Schweiz gibt es eine spezielle Form des Wildcampens, das
Boofen unter Felsvorsprüngen, vor allem beliebt bei Kletterern und an einigen Stellen legal.) Aber wo steht geschrieben, dass ich nicht die Nacht auf einer Bank verbringen, ein bisschen essen (ohne Feuer natürlich), lesen und die Schlucht auf mich wirken lassen kann?
22.7.2018, 21:00-6:00 Okay, vor sechs Jahren stand es mal geschrieben. Damals hat das Landratsamt pauschal ein Nachtwanderverbot verhängt, weil es sich nicht anders gegen die vielen illegalen Lagerfeuer zu helfen wusste. Aber nur vorübergehend, bis die Waldbrand-Warnstufe aufgehoben wurde.
23:00 Der Fluss und die Felswand gegenüber sind in Dunkelheit verschwunden, nur den Felsvorsprung an meinem Rücken kann ich noch sehen und fühlen. Dank ihm wird hier jedenfalls kein Baum auf mich runterfallen.
Seit Stunden befinde ich nun an diesem engen Touristenhotspot und bin keiner Menschenseele und keinem Menschenkörper begegnet. Mit einem sanften Flurren zischen geflügelte Wesen über dem Felsen hervor. Wie Vögel wirken sie nicht gerade - sind das Fledermäuse? Ab und zu platscht ein Fisch im Wasser, und ein Ast knackt, aber insgesamt ist die Flora und Fauna hier viel besser darin, die gesetzliche Nachtruhe einzuhalten, als der Mensch, obwohl der Mensch als einzige Spezies eine gesetzliche Nachtruhe erfunden hat. Ich fühle mich beinahe wie ein Ruhestörer, wenn meine Plastikflasche beim Trinken knackt.
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