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10 August 2023

Hardau: Von Uelzen nach Hösseringen

 Lüneburger Elbnebenfluss #1a: Die Hardau

Diese kleine Strecke gehört zum Lüneburger-Heide-Radweg und ist gleichzeitig eine Variante vom Ilmenau-Radweg und vom Weser-Harz-Heide-Radweg. (Ja, ich weiß, gähn, nicht gerade der spannendste Einstieg.) Ich dachte mir: Ich mache heute den Rest vom WHH-Radweg und vorneweg eben das hier. Nichts Böses ahnend stieg ich in Uelzen aus dem Zug und düste durch den Stadtpark runter in den Wald, wo die Ilmenau aus Gerdau und Stederau entsteht. Auf einer Holzbrücke zeigt sich die breite Gerdau in voller Pracht mit treibendem Grünzeug. Wer hätte gedacht, dass Schlammbraun so beeindruckend aussehen kann? Nun, die Sommersonne hat natürlich viel dazu beigetragen.

Diesmal bog ich auf einen anderen Pfad ab. Es war kein guter Pfad. Während die Metronom-Züge auf bequemen Bogenbrücken dahinbrausen, holperte ich über Bruchstücke von Ziegeln, die jemand unter einer Schmutzschicht versteckt hat - etwas Ähnliches kannte ich schon von der Ilmenau.
Und auch die Gerdau zeigt ein Steilufer, das verdächtig an die Ilmenau erinnert. Es wird von Wurzeln und Farnen zusammengehalten. Besonders stabil sind die Wurzeln der Schwarzerle, weil sie wie Palisaden aufgebaut sind. Die Farne lassen mich nicht durch, bei den Wurzeln dagegen kann ich zum Wasser runtersteigen. So richtig viel erkenne ich nicht, aber irgendwo da hinten müsste die Hardau in die Gerdau fließen. Ab jetzt folgt der Radweg der Hardau.

Der erste Ort an der Hardau heißt Holdenstedt. Während das Schloss stolz seine Ziegel, Balken und weißen Rechtecke präsentiert, um vielleicht jemanden ins Heimatmuseum zu locken, sind die Bauernhäuser völlig versteckt. In Holdenstedt ist Dornröschen keine Adlige, sondern eine ganz bodenständige Bauerntochter, deren Familiensitz von undurchdringlichen Hecken zugewuchert wurde. Vermutlich als Fluch, weil ihre Eltern Schottergärtner waren damit den Zorn einer Fee namens Ulf Soltau auf sich zogen.

Die nächsten zwei Kilometer gehen übers Feld, aber immerhin ist noch so viel Schatten da, dass mir ein wenig Sonnencreme übrigbleibt. Der Weg ist fest gepflastert, das war aber nicht immer so. Einst war hier nur eine Piste im Dreck. Steinerne Straßen gab es höchstens mal im Sumpf oder wenn es eine Brücke oder einen Hügel hochging. Irgendwann wollten die Bewohner dann doch lieber alles pflastern und zertrümmerten die Findlinge aus der Eiszeit zu kompakten Kopfsteinen. Sie zögerten auch nicht, sich bei uralten Hügelgräbern zu bedienen. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie hier bei einer Fahrt übers Kopfsteinpflaster empörte Geister aufscheuchen.

Welches Wort kommt Ihnen bei dieser Brücke in den Sinn? Vermutlich nicht Fernverkehr, oder? Dabei diente die Brücke in Holxen genau dazu: Post und Handelswaren reisten an dieser Stelle von Braunschweig nach Lüneburg. Zumindest bis 1840, also lange, bevor irgendein Mensch auf der Welt eine Autobahn oder ICE-Trasse über die Hardau hätte bauen können.
Genau genommen war diese steinerne Brücke von 1833 schon Hightech-Infrastruktur und quasi vergleichbar mit einer Autobahn. Jedenfalls für die Menschen im Mittelalter. Die mussten sich nämlich noch mit einer Furt aus Steinen im Wasser begnügen, die man in Holxen ebenfalls nach wie vor bewundern kann (nicht im Bild).

In Holxen schmiegen sich die Geestrücken (das ist vermutlich irgend ne höhere Stelle, was in dieser Gegend nicht allzu viel heißt) ganz eng an den Fluss, der daraufhin schmaler und steiler unterwegs ist. Das macht die Stelle nicht nur gut geeignet, um den Fluss zu überqueren, sondern auch, um den Fluss arbeiten zu lassen. Hardau, mach gefälligst Mehl! Ach was, du kannst auch direkt Grütze daraus mahlen! Und den Flachs darfst du auch gleich zerkloppen, damit wir Klamotten draus machen!
Das letzte Mühlrad aus der Mühlengruppe hörte 1950 auf zu arbeiten. Mittlerweile hat es eine Familie wieder in Gang gebracht. Hardau, mahl gefälligst... äh, eigentlich haben wir gerade nichts zum Mahlen, also dreh einfach schön das Rad zur Deko!

Was kann die Hardau sonst noch? Wäsche waschen! Naja, wobei, die eigentliche Arbeit haben die Mägde gemacht, nicht der Fluss. Sie mussten das ganze Zeug in Lauge einweichen, zum Fluss karren und mit absurden Werkzeugen auf ihre Kleidung einprügeln. Erst im letzten Schritt hat die Hardau dann ein bisschen mitgeholfen und die Lauge ausgespült. Man könnte das Wasser theoretisch auch nach Hause schleppen, aber ganz ohne Wasserleitung war diese Variante sogar noch anstrengender. Stattdessen trafen sich halt alle Frauen am Montag zum gemeinsamen Waschprogramm Wringen und Singen (Dauer: mehrere Stunden, Temperatur: saukalt, Schleudern: nein) an der Waschbank (Energieeffizienzklasse unbekannt). Zur Erinnerung an diese harte Arbeit wurde die Bank originalgetreu wieder aufgebaut.
So also wusch man Wäsche im... finstersten Mittelalter? Nope, bis Anfang der Fünfziger. Erst dann kamen Wasserleitungen, und in den 60ern dann die ersten halbautomatischen Waschmaschinen (anfangs teilten sich mehrere Familien eine).

Damit wären wir auch schon in Suderburg, der einzigen... ich will jetzt nicht sagen Stadt... aber auf jeden Fall dem einzigen Ort mit Bahnhof an der Hardau. Suderburg hatte wirklich mal eine Burg. Von der ist nur noch ein dicker, wuchtiger Feldsteinturm übrig, und der gehört inzwischen zu einer Radwegekirche namens Remigius. Der Rest der Kirche besteht aus Ziegeln und Balken: Die Suderburger stellten fest, dass zerkloppte Findlinge auf ihren Einfahrten besser aufgehoben sind als in ihren Mauern. Die Steine drücken sich mit der Zeit von selbst auseinander und verbrauchen viel zu viel Mörtel.

Außerdem hat Suderburg einen Stoppomaten. Das irgend so ein Automat, der die eigene Zeit beim Radfahren misst. Aber nur, wenn man nach einer ganz bestimmten 10-Kilometer-Runde nach Suderburg zurückkehrt. Das hatte ich eigentlich nicht geplant. Trotzdem sollte ich kurz darauf nach einer etwas anderen 10-Kilometer-Runde nach Suderburg zurückkehren. Aber nicht mit einer Geschwindigkeit, die der Automat hätte messen können.
Ein Zentrum im eigentlichen Sinne hat Suderburg nicht. Wo sich die meisten Häuser konzentrieren, bleibt es dörflich ruhig. Das Rathaus und die Supermärkte findet man aufgereiht und auseinandergezogen entlang der ewig langen Straße zum Bahnhof.

Südlich von Suderburg traf ich auf einen Höhenzug namens Lüß. Er bildet die Wasserscheide zwischen Weser und Elbe. Heißt das, die Hardau ist gleich zu Ende? Nee, sie schlängelt sich seitlich vorbei, mitten durch einen üppig grünen Erlenbruchwald. So ein Wald stand hier schon vor 100 Jahren. Kaum zu glauben, dass hier zwischenzeitlich alles trockengelegt, gefällt, gedüngt wurde, Gräben und Rinnen angelegt, damit die Hardau ihr Viehfutter berieselt - nur um die Rieselwiesen komplett zu löschen und wieder einen Erlenbruchwald zu installieren.
Wunderbar hier, und sogar die Mücken halten sich halbwegs zurück (jedenfalls empfand ich das so, da ich kurz vorher in Mecklenburg war). Ein Vogel namens Zilp-zalp zirpt vor sich hin. Wenn ich nur nicht so tierisch langsam wäre... Wenn ich hier zu lange bleibe, ziehen mich womöglich die sagenhaften Erlenfrauen (die Goethe zu einem männlichen Erlkönig machte) in den Sumpf.
Warum schleift mein Rad so? Ich versuche, das Schutzblech wegzubiegen. Vergeblich. Naja, über den Steg muss ich eh erstmal schieben. 

Am Lüß zweigt auch der Räberspringbach ab. Die Menschen haben ihn für eine recht ungewöhnliche Aufgabe ausgehoben: Die Vermeidung von Inzest. Bitte was?

Denn kurz darauf blockiert ein kleiner grüner Grasdamm den Bach und staut die Hardau zum nördlichsten Stausee Deutschlands.
1967 stellten die Leute fest: Och, die Wiesen sind so nass, da kann man eh nix anbauen. Also lass einen See machen, damit wir es hier schön haben. Wir schütten da einfach Lehm und Erde zum Damm auf, dann passt das. Strom aus Wasserkraft, Hochwasserschutz, Trinkwasser? Brauchen wir alles nicht, wir wollen doch bloß einen See zum Angeln, Schwimmen und Tretbootfahren. So entstand der nördlichste, bescheidenste und unauffälligste Stausee Deutschlands. Sobald der kleine Damm aus dem Blickfeld verschwindet (also sehr bald), ist die Wasserfläche von einem ganz normalen Waldsee nicht zu unterscheiden.
Für die Bachforellen macht es aber einen großen Unterschied. Sie werden seitdem in zwei Gruppen getrennt. Oberhalb vom Stausee leben die Forellen aus dem Hause Targaryen, die kaum noch Partner zum Fortpflanzen haben. Schon in den 80ern entdeckte man inzestuöse Fische mit Missbildungen. Bleibt also zu hoffen, dass der umgeleitete Räbenspringbach seitdem ein paar frische Gene reingespült hat.

Der Stausee gehört schon zu Hösseringen. Argh, ich komme kaum noch voran, wieso schleift das so? Mit Mühe holperte ich an den Gräben entlang auf der Suche nach der Dorfmitte. Die Hardau ist hier mit einem Kneippbad ausgestattet.

In Hösseringen stand mal ein Landtag. Das klingt ungefähr so glaubwürdig wie das mit der Fernverkehrsbrücke vorhin, stimmts? Und es ist genauso wahr. Hier versammelten sich 1532 zum ersten Mal die Adligen aus dem Fürstentum Lüneburg, um die Tagesordnung durchzugehen. Statt in einem supermodernen Parlament mit verschiebbaren Sitzen ließen sie sich einfach unter freiem Himmel nieder. Kein Wunder: Es gibt echt schlechtere Orte, um unter freiem Himmel zu sitzen. Am Dorfteich ragen restaurierte Bauernhäuser in die Höhe, ein Brunnen sprudelt und mitten im See chillt ein weißes Holztürmchen auf seiner Insel. Perfekt für ein Picknick!

Die Sache mit dem Landtag inspirierte die Nazis dazu, einen germanischen Gedenkstein aufzustellen und den Landtagsplatz neu zu dekorieren. Und im Jahre 1975 inspirierte er die Hösseringer dazu, Bauernhäuser aus den letzten 400 Jahren komplett am Stück heranzukarren und zum Freilichtmuseum zusammenzupuzzeln.
Ich konnte mir das nicht anschauen, denn gerade hatte ich ganz andere Probleme. Mein Hinterrad hat mittlerweile eine Form angenommen, die gut zu einem Ei oder vielleicht einem germanischen
Landtagsplatz passt, aber nicht zu irgendetwas, das sich drehen sollte.
Eigentlich wollte ich jetzt quer durch den Wald zum Weser-Harz-Heide-Radweg rüberfahren, stattdessen wurde mir klar: Ich kann froh sein, wenn ich es zum übernächsten Zug zurück nach Suderburg schaffe. Ein Gutes hat das immerhin: Der Waldweg rüber zum WHH soll schon 2017 kaum befahrbar gewesen sein. Wer weiß, was mir da erspart geblieben ist.

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