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Flüsse

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07 Mai 2022

Eiserner Vorhang: Von Salzwedel nach Wolfsburg

Die Altmark-Alleengrenze II

Länge: 97 km + 11 km Abreise nach Wolfsburg
Grenzquerungen: 6 +1 nach Wolfsburg (+2 zur Franck-Gedenkstätte)
Bundesländer: Niedersachsen/Sachsen-Anhalt
Seite: mehr Ost als West
Erkenntnis: Eine Grenze kann ihre eigene Unbeständigkeit nicht ausgrenzen.

Heute muss ich mich leider wieder von der Lüchower Landgrabenniederung verabschieden.
Statt der Dorfstraße zu folgen, habe ich ein Stück auf einem Pfad am Ufer der Jeetzel zurückgelegt.

Der Fluss brachte ins stille Wustrow - wo mich plötzlich ein elektrisierter Rollstuhl oder Liegerad oder was das auch war in halsbrecherischem Tempo überholte.

Dann musste ich auch wieder zurück nach Sachsen-Anhalt. Ob ich heute wieder so lange auf den alten Kolonnenweg fahren kann? Nee, gar nicht. Die Betonplatten verlieren sich nach wenigen Metern im Gras, und nur zwei Treckerspuren verbleiben als nicht wirklich historisches Zeugnis.

Stattdessen heißt es erstmal: Strecke machen. Asphaltierte Alleen in Sachsen-Anhalt brachten mich zielgerichtet nach Süden und entfernten sich gerne mal ein gutes Stück von der Grenze. Oft waren sie autofrei und gut befahrbar.

Das heißt nicht, dass hier überhaupt keine Relikte der Geschichte liegen, aber es sind eher Relikte zum Abnicken und Weiterfahren. Von diesem kleinen Grenzübergang ist nichts übrig außer einem weißen Dingsbums. Statt der Deutschlandflagge prangt dort heute das niedersächsische Ross drauf.

Der nächste Grenzfluss hat einen richtig dummen Namen: Die Dumme fließt zwar nur kurz auf der Grenze, beeinflusst die Landschaft aber im weiten Umkreis. Der Boden im Dummetal besteht aus kalkhaltigem Moor. Das Land wird seit der Wende noch weiter renaturiert, indem alte Flussarme angeschlossen und Findlinge reingelegt werden - hoffentlich nicht per Handarbeit! Sonst wäre das eine sehr anstrengende Renaturierung.

Diese Grenzsoldatenkaserne steht immer noch leer und wurde nicht zum Mietshaus oder Reiterhof umgebaut. Das ist mittlerweile eher die Ausnahme, so jedenfalls mein Eindruck.

Bei Schnega wird das Land immer hügeliger. Graue Grenztürme schießen immer wieder aus den Wiesen wie rechteckige Giftpilze. Heute liegen sie mitten in landwirtschaftlichen Nutzflächen. Man kann sich ihnen gar nicht nähern, ohne eine Tonne Dreck an den Füßen mitzunehmen.

Genau so sieht es auch bei den vielen Hügelgräbern aus. Mannomann, sind das viele Hügelgräber. Und alle sind auf der Karte verzeichnet, manche haben sogar ihre eigenen Wegweiser. Wozu, wenn es absolut keinen Weg gibt, um sich ihnen zu nähern?

Anstelle von Kühen und Schafen beobachteten mich heute Truthähne. Das amerikanische Thanksgiving-Gericht wird nun im Ostblock gezüchtet. Gibt es ein eindeutigeres Zeichen, wer den Kalten Krieg gewonnen hat?

Jedes Dorf ist mit einer süßen Feldsteinkirche ausgestattet und irgendeiner Art von Stein, Klotz oder Turm, der an die Gefallenen der Weltkriege erinnert. Die Opfer des Kalten Krieges sind da nicht enthalten. Im Vergleich zum Bau der Dorfkirche ist der ja noch gar nicht so lange her.

Die Fachwerkhäuschen haben eher ungewöhnliche Farbtöne wie Pfefferminzgrün.
 
Als nächstes musste ich irgendwie über die stark befahrene Hauptstraße von Brome kommen. Die Brohmer nutzen ihre wiedergewonnene Reisefreiheit besonders laut und intensiv per Auto aus. Die Kleinstadt lag zwar im Westen, war aber in drei Himmelsrichtungen vom Eisernen Vorhang umgeben. Im Wald ist heute noch ein heller Streifen zu erkennen, der Brome wie ein Lasso umschlingt.

Zur Stadt gehört auch eine schlichte Burg in Weiß. Burg Brome ist 800 Jahre alt und war mehrfach gesichert: Zuerst die Burgmauern, dann ein Wassergraben, dann ein Fluss und schließlich kam von drei Seiten noch der Eiserne Vorhang hinzu.
Dass Grenzen oft gerade denen schaden, die eigentlich geschützt werden sollen, stellte der Burgherr Fritz von der Schulenburg bereits 1548 fest: Die einzigen Todesopfer, die seine Verteidigungsanlagen je forderten, waren seine beiden Söhne, die im Graben ertranken.

Auch die Dörfer Zicherie (West) und Böckwitz (Ost) sind etwas ganz Besonderes: Sie liegen direkt nebeneinander. Das Grüne Band ist im Prinzip nichts weiter als eine größere Wiese im Ortskern. Zwar gehörte Zicherie zu Hannover und Böckwitz zu Preußen, aber trotzdem haben sich die Bewohner schon immer eher als ein gemeinsames Dorf angesehen. Deswegen wurde Zicherie-Böckwitz im Kalten Krieg Klein-Berlin genannt.

Südlich des Doppeldorfs fiel mir ein Grenzturm mit zwei Besonderheiten auf: Zum einen ist die unterste Etage komplett eingebuddelt, zum anderen befindet sich in diesem Erdwall auch ein Stellplatz für Armeefahrzeuge (links). Das Garagen-Loch ist komplett mit Lochplatten verkleidet. Die Inneneinrichtung des Turms wurde kurz nach der Wende gestohlen. Besichtigen kann man ihn trotzdem, dazu muss man aber einen Termin mit dem Museumsverein machen.

Der Turm ist Teil des Grenzlehrpfads Zicherie-Böckwitz. Auf den schicken Holzschildern wird nur sehr knapp erklärt, was genau da nachgebaut wurde ("Streckmetallzaun Grenzsicherung hier ab 1968"), damit die Leute gefälligst auch den Eintritt fürs nahe Museum zahlen.
Dafür hat der Pfad aber eine Besonderheit: Er zeigt die Grenze in chronologischer Reihenfolge. Nirgendwo sonst kann man so gut direkt nebeneinander sehen, wie sich der Zaun verändert hat.

Aus dem Geschichtsunterricht hatte ich es ungefähr so im Kopf: 1962 wurde die Mauer hochgezogen, die sah so aus wie auf diesem einen Schaubild vom Bundesgrenzschutz (das bis heute buchstäblich immer verwendet wird) und so blieb die dann auch. Wenn man bedenkt, dass die DDR teilweise noch gar nicht im Geschichtsunterricht vorkommt, ist das natürlich nicht schlecht.
Aber man lernt nie aus. Ich war ziemlich überrascht, wie sehr sich die Grenze im Kalten Krieg verändert hat. Eigentlich ist sie die ganze Zeit gewachsen. 1962 war nur ein besonders auffälliger Zeitpunkt, weil die Berliner Mauer so schnell hochgezogen wurde.

Phase 1 (ab 1952, teils schon ab 1945): Stacheldrahtzaun

Den kann jeder leicht mit einer Gartenschere durchknipsen, wenn nicht gerade zufällig eine Patrouille vorbeikommt. Der Zaun stand direkt auf der Grenzlinie, sodass man danach sofort in Freiheit war. In Zicherie-Böckwitz gab es wegen der Nähe zum Dorf stattdessen einen Bretterzaun.

Phase 2: Doppelter Stacheldraht mit Minen dazwischen

Immer noch kein allzu großes Hindernis. Die Wahrscheinlichkeit, auf eine Mine zu treten, ist dann doch nicht so hoch.


Phase 3 (ab 1966): Streckmetallzaun mit Minen

Die meisten Flüchtlinge sind trotzdem lieber mit der S-Bahn nach Westberlin gefahren, das war sicherer und bequemer. Deswegen wurde zuerst 1962 die Berliner Mauer hochgezogen. Daraufhin bestand die beste Option darin, den Stacheldraht durchzukipsen. Also war der nun die größte Schwachstelle und musste ersetzt werden.
Eine Betonmauer wie in Berlin wurde in der Nähe von Ortschaften gebaut, aber für die komplette Grenze war das zu teuer.

Der Großteil der Grenze bestand deshalb aus Streckmetallzäunen. Das sind Metallplatten, in die man winzige rautenförmige Löcher stanzt und das Ganze dann in die Länge zieht. (Das verbraucht weniger Material als eine normale Metallplatte und man kann durchgucken, aber es ist fast genauso stabil.) Der Zaun ließ sich nicht durchschneiden. Klettern konnte man nur mit einer Räuberleiter, einer richtigen Leiter oder Kletterhaken mit Seil. Und selbst dann war man noch im DDR-Territorium, der Zaun stand ein Stück vor der Grenze.
Auch Grenzpatrouillen und Beobachtungstürme gab es jetzt in viel größerem Ausmaß.

Nur mit den Minen lief es nicht so gut. Die ersten Minen waren aus Holz und verrotteten schnell. Aber auch die Plastikminen machten Probleme. Bei starkem Regen waren sie leichter als der nasse Boden und wurden sonstwohin geschwemmt, auch auf westdeutsches Gebiet (weshalb das Grüne Band bis heute nur als "praktisch minenfrei" gilt). Es war unvorhersehbar, ob am Ende ein Grenzsoldat, ein westdeutscher Spaziergänger, ein Reh oder niemand drauftrat. Nicht wenige Flüchtlinge hatten Glück und traten auf keine Mine. Trotzdem wurden viele tragisch verletzt oder getötet, also sollte man die wohl auch nicht zu sehr ins Lächerliche ziehen.
Dann verpflichtete sich die DDR im Helsinki-Protokoll blöderweise auch noch, die Minen an den Grenzen zu entfernen. Ein Ersatz musste her. In Helsinki hatte ja keiner gesagt, dass sie die Minen nicht durch etwas viel Schlimmeres ersetzen durften.

Streckmetallzaun, Minen und eine Selbstschussanlage im Grenzlandmuseum Eichsfeld

Phase 4 (ab 1971): Streckmetallzaun mit Selbstschussanlagen

Die Minen wurden also durch etwas ersetzt, das überhaupt nicht lächerlich war, sondern extrem verstörend. Den Selbstschussanlagen (alias Splitterminen) konnte kaum jemand entkommen. Der Zaun war bedeckt mit diesen Trichtern des Grauens. Wer den Zaun bestieg, berührte unweigerlich einen der vielen Drähte. Aus mindestens einem Metalltrichter schoss ihm dann eine Ladung Metallsplitter aus nächster Nähe an. Die Drähte mit einem Stock aus der Ferne auszulösen, brachte auch nichts. Sie mussten schon richtig belastet werden. Selbst diejenigen, die es in ein westliches Krankenhaus schafften, konnten oft nicht gerettet werden - die kleinen Splitter waren zu schwer herauszuoperieren.

aufgeschnittenes Selbstschussanlagen-Modell im Grenzmuseum Schifflersgrund

Phase 5 (ab 1983): Grenzsignalzaun

Dann geschah etwas Unerwartetes: Die Grenze wurde wieder ein kleines bisschen humaner. Michael Gartenschläger hatte sein Leben gegeben, damit die DDR die Selbstschussanlagen abbaute. Die Führung war damit nur einverstanden, weil sie inzwischen den Hinterlandzaun alias Grenzsignalzaun entwickelt hatte. Sobald ein Flüchtling diesen Zaun überquerte und glaubte, er sei schon im Westen, ging ein Alarm bei den Grenzsoldaten ein. Die fingen den Flüchtigen, bevor er den richtigen Zaun erreichte. Hinzu kamen an vielen Stellen Hundelaufanlagen.
Fluchten wurden dadurch ebenso effektiv verhindert, aber zumindest gab es weniger Tote.


Phase 6 (geplant für das 21. Jahrhundert): Grenze 2000

Diese Entwicklung wollte die Regierung fortsetzten: Zur Jahrtausendwende sollte ein perfekter Grenzsignalzaun entstehen, damit jeder Flüchtige rechtzeitig aufgespürt wird und kaum noch geschossen werden muss. Neue Technologien sollten das möglich machen: Infrarotschranken, Vibrationsalarmanlagen und Mikrowellen (nein, den Grenzsoldaten sollte damit kein Essen aufgewärmt werden).
Das Projekt Grenze 2000 war ziemlich... ambitioniert, wenn man bedenkt, dass die DDR eh schon pleite war und jedes Jahr eine Milliarde für die Grenze zum Fenster hinauswarf. Deshalb verhinderte eine gewisse Revolution auch die Umsetzung der Hightech-Grenze. Wer sie ansehen will, muss in das Paralleluniversum reisen, wo die polnische Serie 1983 spielt und der Eiserne Vorhang noch steht.


Nur wenige Meter entfernt fiel jemand der Grenze zum Opfer, als sie gerade mal in Phase 2 steckte. Der Journalist Kurz Lichtenstein gehörte zur seltenen und seltsamen Gruppe derer, die sich vom Westen der Grenze näherten und dafür ihr Leben ließen. Gleichzeitig gehörte er zur ebenso seltenen und seltsamen Gruppe der offen DDR-kritischen Kommunisten. Nach dem Krieg baute er im Ruhrgebiet die KPD wieder auf. 1961 sprach er an dieser Stelle von der Westseite mit Erntearbeitern der DDR, als ihn eine Kugel traf. Die Soldaten wurden sofort befördert.

In Jahrstedt brauchte ich mehrere Anläufe, um die richtige Abzweigung zu finden. Immerhin habe ich dabei eine Katzenruine und eine Fliesenfassade entdeckt sowie einen Spaziergänger mit Hund durch meine ständigen Wendemanöver völlig verwirrt.

Mitten durch Jahrsau plätschert die Ohre, die sich gern mal komplett unter Herbstblättern versteckt. Nicht so schüchtern, du spielst in der nächsten Landschaft eine Hauptrolle!

Ganz genau, es beginnt schon wieder eine neue Art von Flachland: Der Drömling ist ein großes Gebiet aus Niedermooren. Friedrich der Große befahl, das Areal zu entwässern, Gräben zu schaufeln und Pappeln an jedem Graben zu pflanzen. Und egal wie sehr die DDR den Grenzstreifen abschottete, wie intensiv sie den restlichen Drömling bewirtschaftete, während die BRD erste Naturschutzgebiete errichtete - im Prinzip sieht das Land der tausend Gräben immer noch so aus, wie es der Alte Fritz wollte. Betonwege führen mitten hindurch, Betonrohre sorgen dafür, dass sich die Gräben immer weiter verzweigen und vermehren. Auf dem Wasser vermehren sich Schwäne, neben dem Wasser Kühe. Wunderbar, das ist mal wieder eine Strecke, die Freude macht.

Nur die Gutshöfe sind nicht mehr ganz im bezugsfertigen Zustand (dafür aber im bewuchsfertigen).

Einer der Gräben im Drömling ist ein kleines bisschen größer und länger als die anderen - er kann sogar richtig große Schiffe mitten durchs Land tragen. Deshalb nennt man ihn auch Mittellandkanal.

Die Hauptroute überquert den Kanal in Richtung Bahnhof Oebisfelde. Ich wollte aber mein Semesterticket benutzen und bin stattdessen der Alternative am Kanalufer nach Wolfsburg gefolgt. Die Stelle, an der Deutschlands wichtigste künstliche Wasserstraße den Eisernen Vorhang überquert, ist nicht besonders gekennzeichnet - das unterscheidet Wasserstraßen von trockenen Straßen. Wie die meisten Kanäle ist der Mittellandkanal mit einem netten Kiesweg ausgestattet. Stellenweise sogar mit zwei, von denen einer auf so einer Art Mini-Deich verläuft. Welchen man nimmt, ist völlig wurscht - der Höhenunterschied beträgt nicht mal einen halben Meter.


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