Aus dem Geschichtsunterricht hatte ich es ungefähr so im Kopf: 1962 wurde die Mauer hochgezogen, die sah so aus wie auf diesem einen Schaubild vom Bundesgrenzschutz (das bis heute buchstäblich immer verwendet wird) und so blieb die dann auch. Wenn man bedenkt, dass die DDR teilweise noch gar nicht im Geschichtsunterricht vorkommt, ist das natürlich nicht schlecht.
Aber man lernt nie aus. Ich war ziemlich überrascht, wie sehr sich die Grenze im Kalten Krieg verändert hat. Eigentlich ist sie die ganze Zeit gewachsen. 1962 war nur ein besonders auffälliger Zeitpunkt, weil die Berliner Mauer so schnell hochgezogen wurde.
Phase 1 (ab 1952, teils schon ab 1945): Stacheldrahtzaun
Den kann jeder leicht mit einer Gartenschere durchknipsen, wenn nicht gerade zufällig eine Patrouille vorbeikommt. Der Zaun stand direkt auf der Grenzlinie, sodass man danach sofort in Freiheit war. In Zicherie-Böckwitz gab es wegen der Nähe zum Dorf stattdessen einen Bretterzaun.
Phase 2: Doppelter Stacheldraht mit Minen dazwischen
Immer noch kein allzu großes Hindernis. Die Wahrscheinlichkeit, auf eine Mine zu treten, ist dann doch nicht so hoch.
Phase 3 (ab 1966): Streckmetallzaun mit Minen
Die meisten Flüchtlinge sind trotzdem lieber mit der S-Bahn nach Westberlin gefahren, das war sicherer und bequemer. Deswegen wurde zuerst 1962 die Berliner Mauer hochgezogen. Daraufhin bestand die beste Option darin, den Stacheldraht durchzukipsen. Also war der nun die größte Schwachstelle und musste ersetzt werden.
Eine Betonmauer wie in Berlin wurde in der Nähe von Ortschaften gebaut, aber für die komplette Grenze war das zu teuer.
Der Großteil der Grenze bestand deshalb aus Streckmetallzäunen. Das sind Metallplatten, in die man winzige rautenförmige Löcher stanzt und das Ganze dann in die Länge zieht. (Das verbraucht weniger Material als eine normale Metallplatte und man kann durchgucken, aber es ist fast genauso stabil.) Der Zaun ließ sich nicht durchschneiden. Klettern konnte man nur mit einer Räuberleiter, einer richtigen Leiter oder Kletterhaken mit Seil. Und selbst dann war man noch im DDR-Territorium, der Zaun stand ein Stück vor der Grenze.
Auch Grenzpatrouillen und Beobachtungstürme gab es jetzt in viel größerem Ausmaß.
Nur mit den Minen lief es nicht so gut. Die ersten Minen waren aus Holz und verrotteten schnell. Aber auch die Plastikminen machten Probleme. Bei starkem Regen waren sie leichter als der nasse Boden und wurden sonstwohin geschwemmt, auch auf westdeutsches Gebiet (weshalb das Grüne Band bis heute nur als "praktisch minenfrei" gilt). Es war unvorhersehbar, ob am Ende ein Grenzsoldat, ein westdeutscher Spaziergänger, ein Reh oder niemand drauftrat. Nicht wenige Flüchtlinge hatten Glück und traten auf keine Mine. Trotzdem wurden viele tragisch verletzt oder getötet, also sollte man die wohl auch nicht zu sehr ins Lächerliche ziehen.
Dann verpflichtete sich die DDR im Helsinki-Protokoll blöderweise auch noch, die Minen an den Grenzen zu entfernen. Ein Ersatz musste her. In Helsinki hatte ja keiner gesagt, dass sie die Minen nicht durch etwas viel Schlimmeres ersetzen durften.
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Streckmetallzaun, Minen und eine Selbstschussanlage im Grenzlandmuseum Eichsfeld
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Phase 4 (ab 1971): Streckmetallzaun mit Selbstschussanlagen
Die Minen wurden also durch etwas ersetzt, das überhaupt nicht lächerlich war, sondern extrem verstörend. Den Selbstschussanlagen (alias Splitterminen) konnte kaum jemand entkommen. Der Zaun war bedeckt mit diesen Trichtern des Grauens. Wer den Zaun bestieg, berührte unweigerlich einen der vielen Drähte. Aus mindestens einem Metalltrichter schoss ihm dann eine Ladung Metallsplitter aus nächster Nähe an. Die Drähte mit einem Stock aus der Ferne auszulösen, brachte auch nichts. Sie mussten schon richtig belastet werden. Selbst diejenigen, die es in ein westliches Krankenhaus schafften, konnten oft nicht gerettet werden - die kleinen Splitter waren zu schwer herauszuoperieren.
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aufgeschnittenes Selbstschussanlagen-Modell im Grenzmuseum Schifflersgrund
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Phase 5 (ab 1983): Grenzsignalzaun
Dann geschah etwas Unerwartetes: Die Grenze wurde wieder ein kleines bisschen humaner.
Michael Gartenschläger hatte sein Leben gegeben, damit die DDR die Selbstschussanlagen abbaute. Die Führung war damit nur einverstanden, weil sie inzwischen den Hinterlandzaun alias Grenzsignalzaun entwickelt hatte. Sobald ein Flüchtling diesen Zaun überquerte und glaubte, er sei schon im Westen, ging ein Alarm bei den Grenzsoldaten ein. Die fingen den Flüchtigen, bevor er den richtigen Zaun erreichte. Hinzu kamen an vielen Stellen Hundelaufanlagen.
Fluchten wurden dadurch ebenso effektiv verhindert, aber zumindest gab es weniger Tote.
Phase 6 (geplant für das 21. Jahrhundert): Grenze 2000
Diese Entwicklung wollte die Regierung fortsetzten: Zur Jahrtausendwende sollte ein perfekter Grenzsignalzaun entstehen, damit jeder Flüchtige rechtzeitig aufgespürt wird und kaum noch geschossen werden muss. Neue Technologien sollten das möglich machen: Infrarotschranken, Vibrationsalarmanlagen und Mikrowellen (nein, den Grenzsoldaten sollte damit kein Essen aufgewärmt werden).
Das Projekt Grenze 2000 war ziemlich... ambitioniert, wenn man bedenkt, dass die DDR eh schon pleite war und jedes Jahr eine Milliarde für die Grenze zum Fenster hinauswarf. Deshalb verhinderte eine gewisse Revolution auch die Umsetzung der Hightech-Grenze. Wer sie ansehen will, muss in das Paralleluniversum reisen, wo die polnische Serie 1983 spielt und der Eiserne Vorhang noch steht.
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