Havelgeschwafel V: Das Mauergrauen
Durch den S-Bahn-Wald - Flussseen - Kanal der Lügen - Mein mitteilsamer Kerkermeister - Wer es geschafft hat, über die Havel und die Mauer zu entkommen - Kleingärtner des Kalten Kriegs - Baustellenirrfahrt - Die Hauptstadt - Zur gelben Schwaneninsel
Oder-Havel-Kanal und Havel vereinigen sich, fließen unter einer Eisenbahnbrücke durch und machen sich auf den Weg nach Berlin.
Nächster Halt: Borgsdorf. Ausstieg in Fahrtrichtung links.
Borgsdorf ist mit monumentalen Bahnschranken ausgestattet, die monumental lange unten bleiben, um monumental viele Züge durchzulassen. Zum Glück wird es nicht langweilig: Eine wartende Mutter beschrieb am Telefon monumental detailliert die Probleme ihres bettnässenden Kindes.
Auf halber Strecke entdeckten wir das Ufer der Havel wieder, kurz nachdem sie die ungefähr 879. Schnellstraße des Tages unterquert hatte. Und nun überrascht die Havel uns.
Havelsee Nr. 26: Nieder Neuendorfer See
Natürlich gab es auch Schiffe, die ihre Waren mit Absicht durch den Eisernen Vorhang bringen wollten. Die mussten so oder so durch die Kontrollstelle. Sie befand sich genau an dieser Stelle. Sehen Sie die kleinen Inselchen in der Havel? Das sind eigentlich versenkte Schiffe. Die wurden dort platziert, um diesen nassen Grenzübergang besser abzuriegeln und zu kontrollieren. Das wissen nicht mal viele Einheimische.
Die restliche Strecke macht weniger Spaß. Wenn ich sie mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre es: Baustellen. Im immerwährenden Kampf gegen den Berliner Wohnungsmangel wird gebaut, gebaut, gebaut. Wie bitte, ich soll auf die Baustelle abbiegen? Nein danke, so engen Kontakt mit dem Wesen Berlins brauche ich nun auch nicht.
hängt nur mit einem Ende an der Havel dran.
Umgeben von Wassergräben ragt am anderen Ufer ein Koloss aus Backsteinen auf, die Zitadelle von Spandau (hinten rechts, aufgrund ungünstiger Lichtverhältnisse sehr mies zu erkennen - vertrauen Sie mir einfach, die ist da). Die Festung wird vom gegenüberligenden Ufer aus bewacht von einer Armada aus Schwänen und Technomusik hörenden Jugendlichen.
Dachten Sie, wir wären mit den Havelseen durch? Von wegen, die Seensucht der Havel kennt keine Grenzen!
In Hennigsdorf beginnt die zweite Seenplatte der Havel. Die sieht ein bisschen anders aus. Die Seen sind sehr langgestreckt, man könnte sie auch einfach für einen sehr breiten Fluss halten - nur halt nicht für die Havel, denn die ist im Normalzustand viel schmaler. Bahngleise und Industrieanlagen säumen das Ufer, später werden sie von weißgelben Villen abgelöst. Nanu, auf der Regionalbahn steht irgendwas von Baden-Württemberg? Und da von Schleswig-Holstein? Die Züge sind aber weit vom Weg abgekommen. Ein Blick in den Radführer bringt Antworten: Hier produziert Bombardier, ein kanadisches Unternehmen, S-Bahnen, Triebwagen für Regionalzüge und Mittelwagen für ICEs. (Um einen kompletten Zug zusammenzupuzzeln, braucht es also noch andere Fabriken.) Auch während der DDR schmiedeten die Arbeiter hier Züge.
Nach ein paar Kilometern wiesen uns braune Wegweiser und orangefarbene Pfosten darauf hin, dass hier die Berliner Mauer verlief.
Wenn Frachtschiffe aus Osteuropa die Häfen von Ostberlin ansteuerten, mussten sie hier jedes Mal durch Westberliner Kontrollen. Für die DDR-Regierung war das höchst unpraktisch, weshalb sie einen Kanal nach Westen grub, um den Westen zu umgehen (klingt komisch, ist aber so). Sie nannten ihn Kanal des Friedens, obwohl es eindeutig ein Kanal des Kalten Krieges war. Diesen Kanal überquerte ich auf der sogenannten Brücke der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, obwohl es eindeutig eine Brücke der Ost-West-Feindschaft war. Ähnlich wie bei den DDR-Fernsehkanälen handelt es sich um einen Kanal der Lügen.
Woher ich das dann weiß? Tja, ich fuhr gerade nichtsahnend auf dem Radweg entlang, als neben mir plötzlich ein alter DDR-Grenzturm auftauchte. Dieser Grenzturm war ein besonders wichtiger Führungsturm. Er wurde frischem Aschgrau angestrichen und vollständig restauriert. Kaum hatte ich mein Fahrrad abgestellt, um einen Blick auf eine Infotafel zu werfen, da sprach mich auch schon jemand an.
"Kann ich Ihnen helfen?"
Im günstigen Eintrittspreis von 0 Euro ist ein gut informierter, ehrenamtlicher Museumsführer enthalten, der einem die Geschichte interaktiv erklärt.
"Mit einem privaten Boot konnte es leicht passieren, dass man aus Versehen mal die Grenze überquert. Wenn die Grenzpolizei Sie aufgespürt hat, wurden Sie hier eingesperrt und mussten erst mal ein paar Stunden warten." Klapp. Auf einmal schloss sich die Tür der Arrestzelle hinter mir, weil mir der Typ das einmal anschaulich vorführen wollte. Nur dass er aus den Stunden Sekunden machte.
Auf schmalen Treppen (die jedoch Luxus waren im Vergleich zu den Leitern im Grenzturm Kühlungsborn) stieg ich hinauf. Mit der Sprechanlage (unten links) wurden andere Türme angefunkt, und der Hebel (oben rechts) bewegt den großen Suchscheinwerfer auf dem Dach.
In der ersten Etage hängen Texttafeln mit den Geschichten jener, die in diesem Bereich nach Westberlin fliehen wollten. Viele versuchten es, obwohl ihre Chancen besonders schlecht standen. Sie mussten schließlich erfolgreich über die Mauer klettern und durch die Havel schwimmen. Der einzige, der Erfolg hatte, war ein Grenzsoldat, der sich im Gelände gut auskannte.
Im Hintergrund liegt übrigens
Havelsee Nr. 27: Havelsee (richtig einfallsreicher Name)
Übrigens stand an dem Ufer auch mal ein Schloss, das die Grenztruppen komplett abrissen, weil es die Sicht blockierte. Und es ist zu weit entfernt von den berühmten Potsdamer Parks, um wiederaufgebaut zu werden.
In diesen hübschen Nadelwald wurden Zauneidechsen umgesiedelt, die ein Bauprojekt von anderswo vertrieben hat. Hoch über der Havel fährt es sich hier superangenehm bis zu der Stelle, wo die Mauer den Fluss wieder verlässt.
Dort stehen die Kleingartenanlagen Fichtewiese und Erlengrund. Warum ich die erwähne? Weil es die Kleingartenanlagen mit der irrsinnigsten Geschichte in Deutschland sind.Diese Schrebergärten waren nämlich Westberliner Exklaven. Die "Erlengründer" trotzten sowohl dem Kommunismus als auch dem Kapitalismus: Zuerst kauften sie in den 1940ern ihre Gartenanlage, sodass jedem ein Sechstel gehörte, und bewirtschafteten alles ökologisch ohne fließendes Wasser und Strom. Und davon ließen sie sich auch nicht im Kalten Krieg, mitten im Auge des Sturms, abhalten. Sie mussten sich während der Öffnungszeiten per Sprechanlage melden, ihren Ausweis am Postenhäuschen vorzeigen. Dann kam ein Grenzsoldat, der sie über diesen Betonplattenweg zur Pforte führte. Wer Besucher mitbringen wollte, musste sie ein Jahr vorher anmelden. Die Havel floss gleich nebenan, gehörte aber nicht mehr zur Exklave - baden war also seit dem Mauerbau verboten.
Erst im Juli 1988 bekam Westberlin durch einen Gebietstausch das ganze Gebiet um die Kleingärten dazu.
Heute dürfen sogar die baden, die hier gar keinen Garten haben - gleich nebenan wartet ein kleiner Badestrand mit Restaurant. Rein da!
Immer wieder verschönern blaue Holzbrücken den Weg.
Immer wieder blockieren ehemalige Hafenbecken die Fahrt am Ufer der Havel.
Wer in diesem städtischen Durcheinander noch was von der Havel sehen will, sollte gut aufpassen und nicht die richtigen Abzweigungen verpassen. Das ist mir hin und wieder sogar gelungen.
In diesem Bereich verschwindet der Radfernweg Berlin-Kopenhagen auf seiner eigenen Route ins Zentrum.
Havelsee Nr. 28: Tegeler See
Havelsee Nr. 29: Spandauer See
In Spandau führt ein wunderschöner Uferweg an der Havel entlang. Dort hatte ich einen super Blick auf die Mündung der Spree. Gegenüber zweigt ein kleiner Kanal ab, der zwei Arme der Havel verbindet und so mal eben Berlin-Spandau in eine Insel verwandelt.
Diese Insel beinhaltet eine hübsche, gelb gestrichene Altstadt. Und hier endet erst einmal die erste Staffel unseres Havelgeschwafels. Fortsetzung folgt. Irgendwann. Das bedeutet, in ein paar Monaten oder auch in zehn Jahren, falls Sie mit der Zuverlässigkeit dieses Blogs noch nicht vertraut sein sollten.
Die Havelmauer
Länge: 7,6 km
Grenzquerungen: 1
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: Ost (wobei die politische Ostseite hier im Westen liegt)
Erkenntnis: Einen Kleingärtner kann vielleicht eine zu lange Hecke aus der Ruhe bringen, aber kein Kalter Krieg.
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