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Flüsse

Noch mehr Radreisen

25 April 2022

Havel: Von Ankershagen nach Klein Quassow

Havelgeschwafel I: Die Quellenstelle
Es ging immer nur ums Parken - Lasst uns Seen zählen - Wo der Glaube Wasserscheiden versetzen kann - Der geheime Appsumpf - Schwaan, leg an - Im Katzionalpark - Brücke der Furcht - Ein feindseeliges Gewässer

Es war einmal eine kleine Festung. Sie lag am Mittelmeer in der heutigen Türkei. Im Laufe der Jahrtausende wuchs sie zu einer mächtigen Handelsstadt heran. Aber die Bewohner hatten ein Problem: Immer wieder parkten unerlaubt griechische Schiffe direkt vor ihrer Einfahrt. Die Griechen behaupteten, sie wären auf den Platz angewiesen, um Schutz vor Stürmen und Felsen zu finden. Unverschämtheit! Ergebnis: Krieg, Zerstörung der Stadt, eine Verfilmung durch Wolfgang Petersen und ein kleiner Spielplatz in Mecklenburg-Vorpommern, auf dem Kinder zu trojanischen Pferdeäpfeln werden. Moment, was?

Weil der legendäre Krieg um das trojanische Parkverbot erzählerisch nicht genug hermacht, wurden nachträglich attraktive Göttinnen, goldene Äpfel, Superkräfte, Liebeszauber, Wahrsager, ewige Männerfreundschaft und Holzpferde hinzugedichtet. (Zumindest ist das eine Theorie.) Mit allen Protagonisten (außer dem Holzpferd) kann man im Heinrich-Schliemann-Museum telefonieren. Selbstverständlich mit einem richtig alten Telefon, wie es schon damals in der Antike benutzt wurde (rechts im Bild). Wobei sich das Gespräch dann doch als recht einseitiger Monolog erweist.
Tausende Jahre später wurde Heinrich Schliemann geboren. Er war der Sohn eines Pfarrers mit Alkoholproblem und ist in diesem Museum aufgewachsen, welches damals ein Pfarrhaus und noch nicht mit drei Millionen Texttafeln über sein künftiges Leben tapeziert war.

Der kleine Heinrich machte gern Ausgrabungen in den Mecklenburger Hügelgräbern. Außerdem liebte er die Sagen von Troja. (Diese Sagen hatte der Dichter Heinrich Voss übersetzt, der ein halbes Jahrhundert vorher im selben Dorf als Hauslehrer im Schloss unterrichtete. Zufälle gibt's.)
Deshalb fasste Heinrich Schliemann folgenden Plan: Er wollte Troja ausgraben - und beweisen, dass es den Trojanischen Krieg wirklich gab.
Aus Geldmangel musste er das Gymnasium abbrechen und wurde stattdessen Händler. Es folgen so viele Lebensstationen, dass ich unmöglich alle aufzählen kann. Er lernte zig Sprachen, lebte in zig Ländern von Kalifornien bis St. Petersburg, machte ein Vermögen und heiratete eine Russin und eine Griechin (nicht gleichzeitig, obwohl... Affären hatte er auch).

Dann wandte er sich seinem Kindheitstraum zu und buddelte praktisch jede Stadt aus, die in griechischen Sagen je vorkam, unter anderem Mykene (hier als sehr schwieriges Murmelspiel dargestellt). Anhand der Ortsbeschreibungen in Homers Sagen entdeckte er sogar die korrekte Stelle, wo Troja stand. Beim Graben verfehlte er die richtigen Mauern jedoch um wenige Meter und fand ein Troja, das sogar noch älter war als das aus der Sage. Diesen Irrtum hat er Jahre später sogar mehr oder weniger eingestanden, obwohl Fehler eingestehen nicht so seine Stärke war. Der Typ war halt mehr Abenteurer als Wissenschaftler.

Das Museum war erstaunlich gut besucht, aber nicht so richtig interaktiv. Nur in der hintersten Ecke des Dachbodens gibt ein Zimmerchen, das... "Hui, hier hat sich der Museumspädagoge aber ausgetobt.", kommentierte ein Besucher. Der Museumspädagoge hätte sich aber auch überlegen können, dass Spielstationen für Kinder und lange Anleitungen für Erwachsene keine optimale Kombination sind. Welcher Zehnjährige liest sich einen langen fachsprachlichen Text durch, um zu erfahren, wie er als Archäologe Fundstücke in ein x-y-Koordinatensystem eintragen kann? (Okay, außer mir, als ich 10 war.)
Dafür war das Schliemann-Museum warm, trocken und kuschelig. Was auf die Welt außerhalb des Museums so was von nicht zutraf. Doch irgendwann war der letzte Text gelesen und die letzte Bockwurst im Museumscafe verzehrt. Was nun? Was wollten wir in diesem ekelhaften Wetter da draußen nochmal machen?

Ach ja, den Havelradweg. Na guut, wenns denn sein muss... los gehts.
Die Havel stammt aus unterirdischen Wasserschichten in Endmoränen - mit anderen Worten, sie kommt unter einem Haufen Sand raus. So entstehen drei Seen mit hervorragender Wasserqualität.

Havelsee Nr. 1: Bornsee

 

Havelsee Nr. 2: Trinnensee

Um die Havelquellseen führt ein Radweg namens, ähm, Um die Havelquellseen. Dort soll man einen Eindruck erhalten, wie die Havel aus Sand und Seen entsteht. Von den Seen habe ich nicht so viel mitbekommen, dafür aber umso mehr vom Sand - den konnte ich unter den Rädern ganz intensiv erleben. Auch geriet ich in intensiven Kontakt mit der heimischen Fauna (Mücken.) Dieser Waldweg fährt sich furchtbar und ist und völlig zu Recht kein Teil des richtigen Havelradwegs. Zu seinen Nebenwirkung zählt intensives Jucken und Fluchen.

Havelsee Nr. 3: Mühlensee

Diese drei Seen waren also mal die Havelquelle. Doch dann kamen ein paar Mönche, die Wasser für ihre Mühle brauchten. Sie bauten einen Damm, schnitten die Havel ab und verschoben mal eben die Wasserscheide von Nordsee und Ostsee mitten auf dieses Foto.
Doch die Mönche hatten den moorigen Boden nicht berücksichtigt. Ihr Damm hat folgende Gemeinsamkeit mit Menschen, die bei solch ekligem Wetter Fahrrad fahren: Er ist nicht ganz dicht. Ein kleines bisschen Havelwasser sickerte schon bald durch.

Es landet in einer herzförmigen Schale. Sie wurde aus einem einzigen riesigen Stein angefertigt und eignet sich damit nicht als Campingschale für eine Radtour.
Diese "verdammte" Quelle wurde 2007 angelegt. Dazu gehört ein Kreis von Steinen, welche die Namen aller Städte an der Havel tragen. (Hat sich da jemand von der Elbquelle inspirieren lassen?) Findlinge, Sand, ein See und nicht funktionierende Infrastruktur (also der Damm) - gibt es eine passendere Quelle für Mecklenburg-Vorpommern?

Die Havel ist sofort ungewöhnlich breit - das meiste Wasser kommt erst hinter der Steingutschale aus dem Boden. Sie schlängelt sich still durch einen beigefarbenen Sumpf mit dem Namen Diekenbruch. Gleich nebenan schlängelt sich ein Weg durch den Wald. Er besteht aus überraschend stabiler Erde, die selbst bei diesem nassen Wetter sicheren Halt bot. Diesen hübschen Weg hat unser Vater mit seiner App entdeckt.

Bikeline hingegen schickt die Radler weitab vom Fluss durch die Ulmenallee von Piverstorf. Wer genau diese Parkanlage gepflanzt hat, ist unbekannt - fest steht nur, dass hier schon im 18. Jahrhundert irgendwelche Pflanzen standen, die mit Absicht da hingepflanzt wurden. Wer die Renovierung des verwilderten Parks bezahlt hat, ist hingegen historisch überliefert - die EU wars.
Laut meiner Schwester ist die Ulmenallee "cool, aber auch irgendwie gruselig". Was würden wohl die anonymen adligen Sponsoren oder die EU-Kommission zu diesem Urteil sagen?

Nicht weit von der Quelle steht diese malerische Ruine eines Gutshauses. Zumindest vermute ich, dass es ein Gut war. Das Mauerwerk ist auf keiner Karte verzeichnet. Das Schild verrät nur, dass es verboten ist, auf die Mauern zu klettern.

In den Dörfern der jungen Havel blüht ein umfangreiches Kleinunternehmertum mit bemerkenswert doofen Namen. Das hier ist noch nicht mal der dämlichste Name, den ich auf dieser Tour gesehen habe.

Egal, welchen Weg man wählt, irgendwann gerät die Havel aus dem Blickfeld und ist nur noch in Form von Seen zu sehen. Dafür sind es aber auch verdammt viele Seen. Ich zähle mal weiter, mal sehen, auf welche Zahl ich am Ende komme. (Winzige, namenlose Seen zähle ich nicht mit.)

Havelsee Nr. 4: Dambecker See
Havelsee Nr. 5: Röthensee (im Bild)

Auf diese beiden Seen schauten wir von oben herab, während wir Dünen aus Sand, Betonplatten und Nadelwäldern überquerten. Eigentlich schön hier, aber brr... ist das kalt, schnell weiter!


Havelsee Nr. 6: Käbelicksee

Am nächsten See liegt der Bahnhof Kratzeburg, die vermutlich unbedeutendste Bahnstation auf der Strecke Rostock-Berlin. Wir hatten die Wahl, ob wir hier starten oder von Waren kommen. Die Wahl fiel auf Kratzeburg, weil der Weg so insgesamt kürzer ist und wir Waren schon kennen. Dafür mussten wir die ersten Kilometer doppelt fahren.


An der nächsten Hauptstraße sahen wir die Havel zum zweiten Mal in Flussgestalt. Sie ist unterwegs zum

Havelsee Nr. 7: Granziner See


Was hat die Havel mit der Moldau gemeinsam? Beide sind in erster Linie kein Fahrradfluss, sondern ein Paddelfluss. Kanufahrten auf der Havel sind eindeutig beliebter als Radtouren, ich kenne mehrere Leute, die das schon gemacht haben. Kein Wunder, auf dem Boot sieht man einfach mehr vom Fluss. Der Nachteil ist, dass man erst einsteigen kann, sobald der Fluss breit genug ist. Na so was, anscheinend ist das längst der Fall! Immerhin steht hier eine Lorenbahn, auf der die Paddler ihre Boote bequem zum Wasser schieben können. So was hätte ich bei meinen Paddelreisen manchmal gut gebrauchen können (ja, ich fahre nicht immer Fahrrad, nur fast).

Am Ende der Gleise ist für die Loren Endstation - Umsteigemöglichkeiten zum

Havelsee Nr. 8: Pagelsee (im Bild)
Havelsee Nr. 9: Zotzensee

Bäume mit total vielen Misteln drin flankieren das stille Wasser. So ist die Havel gut am Horizont zu erkennen, egal ob in Fluss- oder Seeform. Mit dieser Aussicht radelten wir auf einem gemauerten Feldweg quer durch ein Naturschutzgebiet.


In diesem Sumpf soll ein Beobachtungsstand für Fischadler stehen. Auf die Fischadler war ich schon gespannt, aber ich konnte nicht mal den Beobachtungsstand finden. Stattdessen haben wir einen brütenden Schwaan entdeckt, der sich als eleganter weißer Federdonut über seinen Eiern einkuschelte. Schwäne sind in jedem zweiten Stadtpark zu finden, aber ein Schwanennest habe ich noch nie gesehen.


Als nächstes wird die Havel tiefschwarz und verschwindet in einem finsteren Hohlweg. Sie steuert aber nicht Mordor an, sondern

Havelsee Nr. 10: Jäthensee
Havelsee Nr. 11: Jarnelsee


Es folgen wieder ein paar Dörfer. Sie bestehen aus ungewöhnlich spitzen Kirchen, Kopfsteinpflaster und einer gewaltigen Holztafel. Willkommen am Tor zum Müritz-Nationalpark! Zum Nationalpark-Zentrum rechts war in jedem einzelnen Dorf zu lesen. Hä, wie kann denn jedes Dorf das Tor zum Nationalpark sein? Ach nee, ist schon richtig, wir fahren halt immer am Rand des Parks entlang.
Im Nationalparkdorf Blankenförde beeindruckt die Natur mit zwei besonders zutraulichen Exemplaren der Hauskatze. Während wir eine Snackpause einlegten, parkte ein Auto auf der Wiese, eine Familie stieg aus und sofort waren die beiden Katzen zur Stelle. Nach ausgiebigem Streicheln fuhr die Familie wieder weg. Sind die etwa nur wegen der Katzen hergefahren? Egal, jetzt sind wir dran!


Hinter einer Bootsanlegestelle folgen

Havelsee Nr. 12: Görlowsee


Havelsee Nr. 13: Useriner See

Dieser See ist besonders groß und langgestreckt. Hier teilt sich die Havel in den großen Havelkanal und eine kleinere Havel. Der Kanal ist mit einer neuen, knallroten Brücke ausgestattet, die sich hervorragend eignet, um unten irgendwo über dem Wasser herumzuklettern und Mütter in Panik zu versetzen.


Die kleinere Havel kommt etwas später aus dem See raus. Früher hat sie hier mal eine Wassermühle angetrieben. Der Useriner See ist übrigens der erste See, an dessen Ufer wir so richtig ein Stück fahren konnten, wenn auch auf der Straße.


Wir könnten jetzt noch den Ausflug nach Neustrelitz machen, aber mööh... wir wollten nur noch ins Warme. Auf direktem Weg sind wir nach Klein Quassow abgebogen. Nur noch über die Brücke da und... Mist, Baustelle, alles gesperrt! Egal, wir wollen da jetzt rüber!
Klein Quassow besteht ausschließlich aus Hecken, Kleingärten und Gasthäusern. Heute Nacht schlafen wir am Ufer eines weiteren Havelsees. Den wollte ich mir abends auch noch ansehen. Doch das wurde schwieriger als erwartet.
Zuerst irrte ich durch das Labyrinth der Schrebergärten. Ah, an dem Tor da hängt ein hellblaues Holzschild, da steht Strand drauf, super! Ich begriff erst später, dass dieses Schild bloß maritime Deko war.
Kurz darauf kam ich an der Havel heraus. Okay, dachte ich, dann brauche ich nur noch dem Fluss zu folgen. Ich öffnete ein Tor und verschloss es brav wieder. Das soll man laut dem Schild unbedingt machen, damit keine Wildtiere durchlaufen.
Auch das machte mich noch nicht skeptisch.


Stattdessen marschierte ich mitten hinein in die Wildnis. Der Pfad verlor sich immer mehr im braunen Sumpf. Wo ist denn jetzt der verdammte See? Da drüben, wo das ganze Schilf steht? Irgendwann glaubte ich, schon weit draußen auf dem Wasser zu sein - ein Gefühl, dass sowohl Google Maps als auch der weiche Boden unter meinen Füßen bestätigten. Doch zu sehen war immer noch nichts. Schließlich blockierte ein Haufen Äste den kaum noch erkennbaren Pfad. Da kehrte ich endlich um.

Auf dem Rückweg kam ich am fiesen Holzschild vorbei und probierte noch mal die entgegengesetzte Richtung. Kurz darauf stand ich am Strand von Klein Quassow. Dieser Strand ist ausgestattet mit Bänken, einem großen Bootshafen und einem dieser uralten Klettergerüste aus bunten Eisenstangen. Und ja, sogar ein kleines Häufchen Sand befindet sich am Ufer und durchbricht den endlosen, dichten Ring aus Schilf. Dieser umgibt den

Havelsee Nr. 14: Großer Labussee

Der letzte See des Tages ist nur mit dem Havelkanal verbunden, der kleine Havelarm fließt außenrum. Die heutigen Havelseen waren alle nicht so richtig gut zugänglich, aber ich hatte nun wirklich nicht erwartet, dass ausgerechnet der See am schwierigsten zu finden ist, an dessen Ufer wir übernachten.
So, jetzt hatte ich es endlich geschafft. Und nun? Zum Baden war es eindeutig zu kalt, also blieben mir als mögliche Strandaktivitäten nur
  • frierend auf der Bank sitzen und
  • zurückgehen.


Wir hatten ein Zimmer in einem Gasthaus gebucht, dessen Eigentümer gerade erst gewechselt haben. Das konnten wir daran erkennen, dass die Antwort auf die meisten Fragen (zum Beispiel "Haben Sie Frühstück?") lautete: "Hmm... ist grad noch schwierig."
Nur die Antwort auf "Wo können wir die Fahrräder unterstellen?" lautete "Im Bootsschuppen". Heute Nacht sind unsere Räder von Kanus umzingelt, sogar über ihnen hängen Boote. Unser Schlafzimmer war glücklicherweise nicht so bootsbelastet.


Der Radfernweg Berlin-Kopenhagen macht unterdessen einen Schlenker nach Neustrelitz, für den Havelradweg ist das nur eine Variante. Neustrelitz befindet sich zwischen zwei hübschen Seen (keine Havelseen). Der Name wirft erst einmal die Frage auf: Gibt es auch ein Altstrelitz? Jup, gab es, und heute ist das einfach nur ein Neustrelitzer Vorort. Als dem Herzog von Mecklenburg-Strelitz sein Schloss abfackelte, baute er sich ein paar Kilometer weiter ein neues und eine Stadt gleich dazu, und die heißt dann halt Neustrelitz. Die Stadt zog viele Künstler an. Sie hat immer noch etwas Herzogliches mit ihren breiten Alleen, verschiedensten Statuen und dem labyrinthischen Schlosspark. Anders als in Karlsruhe liegt das Schloss nicht im Mittelpunkt der strahlenförmigen Straßen. Im Zentrum steht vielmehr ein runder Marktplatz mit Fontänen.
Was der Herzog von den Demonstranten mit russischen Flaggen gehalten hätte, die heute durch die Straßen ziehen, bleibt unbeantwortet.


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