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Flüsse

Noch mehr Radreisen

11 November 2022

Nordsee: Von Varel nach Bremerhaven

Wieso heißt der Jadebusen eigentlich Jadebusen? Die Antwort habe ich auf einer kurzen Brücke überquert: Er wurde nach dem Flüsschen Jade benannt.


Das war im Grunde das einzig Interessante an der Hauptstraßen hinter Varel. Obwohl nee, da war noch ein Haus, das zum Zweck des Küstenschutzes enteignet werden sollte. Zumindest wurde das auf den zahlreichen Bannern und Plakaten angedeutet, die das Gebäude und den Zaun zierten. Ich meine auch ganz vage herausgelesen zu haben, dass der Eigentümer die Enteignung eventuell nicht so richtig gut fand. Um dagegen vorzugehen, hat er sein Haus dermaßen zugebannert, das es als solches nicht mehr zu identifizieren ist.

Dann verändern sich mehrere Dinge auf einmal und machen den Rest der Strecke viel besser:
Erstens wechselt meine Fahrtrichtung von Osten nach Norden.
Zweitens wechsle ich vom Einzugsgebiet der Jade ins Gebiet der Weser. (Bis 1644 mündete hier ein Arm der Weser direkt ins Meer.)
Drittens wechsle ich vom Rand der ostfriesischen Halbinsel auf die Halbinsel Butjadingen. (Der Name bedeutet jenseits der Jade. Butjadingen ist außerdem der Name einer Gemeinde, zu der so gut wie alle Dörfer auf der heutigen Strecke gehören. 1362 war Butjadingen nach einer Sturmflut sogar mal kurz eine Insel.)
Viertens wechsle ich vom straßenbegleitenden Radweg zu schönen Deichradwegen.
Fünftens taucht an diesen Deichen in regelmäßigen Abständen eine besondere Küstenlandschaft auf.

Besondere Küstenlandschaft Nr. 1 ist das Schwimmende Moor. Das ist wirklich einzigartig: Beim Bau der Deiche musste das Moor 1725 leider draußen bleiben. Wenn die Flut kommt, hebt sie alle Pflanzen an und setzt sie später wieder ab. Erstaunlicherweise kommt die Natur mit diesem ewigen Hoch und Runter klar.

Der erste Teil des Deichradwegs sollte "mindestens bis 2020" wegen Bauarbeiten gesperrt sein. Nun ist 2020 ja schon ein bisschen her, allerdings fühlt es sich nicht so an - weder, wenn man Nachrichten schaut, noch auf besagtem Radweg. Er war zwar geöffnet, bestand aber aus holprigem Kies mit dem einen oder anderen Bagger.

Als ich wieder von Mieskies zu Asphalt wechselte, wollte ich endlich so richtig Tempo aufnehmen. Das war eventuell nicht so schlau, denn am Wegesrand waren zwei Reiterinnen unterwegs, bei denen prompt die Pferde durchgingen. Upsi.

Die Halbinsel Butjadingen hat ungefähr dieselbe Form wie ein deformierter Pilz. (Also im Prinzip so ähnlich wie die ostfriesische Halbinsel, aber bei der ist der Pilz dermaßen dick, dass er nicht mal mit viel Phantasie als solcher zu erkennen ist.)
Nun hatte ich den kurzen Pilzstengel erklommen und fuhr an der Unterseite des Pilzhütchens bis zum Preußeneck. Das ist quasi die untere Ecke des Pilzhütchens. Im Sommer legt dort eine Fähre nach Wilhelmshaven ab.
Sofort fiel mir das Leuchtfeuer Preußeneck ins Auge, ein eigenartig konstruierter Leuchtturm. Je weiter ich nach Osten radle, desto moderner werden anscheinend die Leuchttürme. In seiner Mitte schlängelt sich eine Wendeltreppe nach oben, die war aber leider verschlossen.

Stattdessen habe ich die Aussicht auf dem Deich von Tossens genossen. Da konnte ich fast den kompletten Jadebusen überblicken. Am gegenüberliegenden Ufer rauchen die Schornsteine und ragen die Kräne von Wilhelmshaven in den Himmel. Auf meiner Seite befindet sich dagegen Deutschlands erster Babystrand. Die Klettergerüste sind zwar nicht so hoch wie die Schornsteine, produzieren dafür aber auch weniger Rauch.

Tossens ist ein Heilbad und Ferien-Vergnügungsort, der von einer Centerparcs-Ferienanlage dominiert wird. Da werden auch Wattwanderungen angeboten. So ein stundenlanges Matschgestapfe wäre ja nicht das, was ich in solch einer künstlichen, sterilen Ferienwelt erwartet hätte, doch selbst ein Centerparc muss sich seiner Umgebung ein Stück weit anpassen.

Eine andere Besonderheit dieses Parks sind brutale Betonrutschen, die ihre Badegäste mit branchialer Wildheit durch tiefe Fliesenschluchten reißen und an einer Stelle überschlagen lassen.

Das tolle an Butjadingen ist: Ich darf hier ziemlich lange außendeichs (so nennen es die Wegweiser) radeln.
Die Hafenanlagen von Wilhelmshaven verschwinden hinterm Deich (im Bild). Wenige Meter später tauchen in der entgegengesetzten Richtung noch größere Kräne am Horizont auf - das ist dann wohl Bremerhaven, die andere Havenstadt, die das Wort Hafen nicht richtig schreiben kann. Riesenkräne am Horizont begleiten mich also praktisch den ganzen Tag.

Die nächste besondere Küstenlandschaft ist der Langwardener Groden. Im Prinzip ist das eine Sumpfsalzwiese mit vielen seltenen Vogelarten drin. Sie erstreckt sich zwischen zwei Deichen, damit ist der Groden vom Festland und vom Meer abgeschnitten. Trotzdem sieht die Wiese zwischendurch fast wie ein Wattenmeer aus, so richtig mit Matsch und dicken Prielen. An einer Stelle verwandelt sich der Pfad in eine Holzbrücke, damit die Besucher trockenen Fußes durchkommen und die Tiere nicht in menschlichem Fußschweiß schwimmen müssen.

In Feddewardersiel wollte ich mir ein regionales Mittagessen mit Sielblick gönnen. Es bestand logischerweise aus Fisch - und ostfriesischem Tee, ungeachtet der Tatsache, dass ich mich nicht mehr in Ostfriesland befand. In Ostfriesland benötigt man zum Teetrinken mehr Geschirr und Besteck, als ich bei einer vollen Mahlzeit zu Hause verwende: Teekanne, Teekannendeckel, Teewärmerdingsbums mit Kerze drin, Tasse, Untertasse, Löffel, Kandiszuckerbehälter, Kandiszuckerbehälterdeckel, Kandiszuckerzange, Sahnekanne, Sahnekelle und eine mysteriöses superflaches teekannenförmiges Schüsseluntertassenoderwasauchimmerteil (das ich als einziges nicht benutzt habe).
Wie genau und in welcher Reihenfolge das alles zusammengepuzzelt werden sollte, musste ich mir selbst erschließen (die Strecke am Teemuseum Norden bin ich nämlich erst später gefahren). Eine Gebrauchsanweisung wäre ganz nützlich gewesen. Als ich die Sahne auf den Tee goss, entstanden Kringelmuster. Das sah so hübsch aus, das muss eindeutig richtig gewesen sein.

Der Skulpturenpfad, den ich schon auf der letzten Etappe entdeckt habe, ging den ganzen Tag über weiter. Endlich weiß ich, wohin die Kunstwerke verschwunden sind, die ich damals am Skulpturenpfad an der Werra nicht gefunden habe: Ein Hochwasser muss sie über die Weser bis nach Butjadingen gespült haben.
Das Kunstwerk Holzkoralle beispielsweise ist ein löchriges Stück Treibholz und soll darauf aufmerksam machen, dass durch den globalen Handel und Klimawandel exotische Holzwürmer unkontrolliert einwandern. Glaube ich. Auf der Texttafel stand nur eine konfuse, stichpunktartige Aneinanderreihung von Worten. Der Text ist wohl auch Kunst.

In Burhave verschwindet ein Teil der Nordsee in einem eingezäunten Bereich, in dem man keinesfalls eine Wattwanderung unternehmen darf. Es fließt durch die Dünen und speist ein einzigartiges Naturfreibad namens Nordsee-Lagune. Das dürfte das einzige Schwimmbecken Deutschlands sein, in es Ebbe und Flut gibt. Im Frühling war es noch geschlossen.

Dafür ist der Wattsteg das ganze Jahr über geöffnet. Wem selbst eine kurze Wattwanderung zu gefährlich oder matschig ist, der darf auf diesem Steg einige hundert Meter ins Wattenmeer spazieren. Und sollte er sich spontan umentscheiden, kann man auf vielen kurzen Treppchen vom Steg zum Watt oder zurück auf den einigermaßen sauberen Steg wechseln.
Wohlgemerkt: Einigermaßen sauber, mehr nicht, denn dieser Matsch gelangt überallhin, so ähnlich wie Sand in der Wüste. Selbst romantische Liebes- oder Hassbotschaften werden in Burhave nicht etwa mit Grafitti oder Edding verkündet, sondern mithilfe des nachhaltigen Schreibgeräts Schlammiger Finger aufs Holz gepinselt.

Der allerletzte Abschnitt verläuft dann außen am Deich - aber hinter einem Industriegebiet. Sollen bei Hochwasser die Fabriken absaufen? Nee, wahrscheinlich gibts da noch einen zweiten Deich. Der Weg ist wieder mal total mit Stroh bedeckt. Zwischenzeitlich gab es nur eine ganz schmale Rinne, in der ich einigermaßen fahren oder zumindest schnell schieben konnte. In dieser Rinne waren diverse Spaziergänger, Radler und kleine angeleinte Hunde unterwegs, was wiederum bedeutete, dass ich dort nicht die ganze Zeit unterwegs sein konnte, sondern anderen Spaziergängern, Hunden und Radlern ausweichen musste.
Naja, trotzdem hat mich die hübsche Halbinsel Butjadingen insgesamt positiv überrascht. Die Ostfriesische Halbinsel kann hier noch ein bisschen was dazulernen, was Radwege angeht.

Als Ausgleich für das Stroh hatte ich einen wunderbaren Blick über die ebenso breite wie hohe Skyline von Bremerhaven. Von hier aus sieht die Stadt sogar ein ganzes Stück beeindruckender aus, als sie eigentlich ist. Dicke Containerschiffe ziehen auf die Ozeane hinaus und suchen ihr Glück im krisengebeutelten Welthandel.
Der Mündungstrichter der Außenweser zieht sich immer enger zusammen, aber bevor daraus ein richtiger Fluss wird, nehmen die Radfahrer die Fähre von Nordenham-Blexen nach Bremerhaven. Joa, und ab jetzt besteht die niedersächsische Nordseeküste im Prinzip nur noch aus den riesengroßen Mündungen der Weser und Elbe. Dementsprechend geht es auf dem Weser- und Elberadweg weiter.

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