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Noch mehr Radreisen

08 November 2022

Nordsee: Von Norddeich nach Esens

An den Mündungen der Ems, Weser und Elbe bin ich schon so viel vom Nordseeküsten-Radweg gefahren, da dachte ich mir, den Rest von Niedersachsen machst du auch noch.

Sobald ich die Hafenanlagen von Norddeich hinter mir gelassen hatte, erwartete mich das erste Schafsgatter. Willkommen zurück auf dem schrägen Riesenradweg! Heute hatte ich den besten Blick auf die Dünen der ostfriesischen Inseln. Ein bisschen gemein ist es schon, den Leuten diese Aussicht unter die Nase zu reiben, denn die Festlandküste besteht immer noch aus Steinen, Matsch, Wiesen und matschigen Wiesen. Nicht dass das immer schlecht aussieht, aber von echtem Strandurlaub ist es halt eine teure Fährfahrt entfernt.


Nach den ersten Kilometern musste ich zum offiziellen Radweg hinterm Deich zurückkehren. Dort ist kein Meer zu sehen, sondern entweder braune Felder (meh), Weiden (mäh) oder wogendes Schilf (oh, das ist hübsch). Doch egal, was die Aussicht bot, Grund zum Meckern hatte ich nicht. Das war mein einziger Fahrradtag an der Nordsee, an dem der Wind optimal von hinten wehte! Ich wurde rasend schnell.

Später durfte ich wieder vor den Deich fahren - aber was ist das? Inzwischen hat sich hinterm Deich eine enorme Wiese ausgebreitet. Dieses Land wurde vom Meer angeschwemmt und nennt sich Heller. Graue Pflastersteine brachten mich bis zum Rand des Hellers, am Meer entlang und irgendwann wieder zurück. Später kam ein zweiter Hellerweg, diesmal wiesen sogar die Fahrradschilder dahin.
Die erste Meter sind dermaßen verschlammt, dass sie anscheinend die meisten Wanderer und Radler abschrecken. Ich begegnete nur einem Traktor abseits des Weges und einem Fotographen, dessen Bild ich im Vorbeifahren störte.

Ach ja, und den Tieren natürlich. Seit einigen Kilometern sind es nicht mehr Schafe, die den Deich kurz halten, sondern braune Kühe, schwarzweiße Kühe und Graugänse. Ihre Eigentümer wohnen direkt in ganz wenigen traditionellen Höfen. Die standen früher auf einer Warft, aber inzwischen scheinen sie nicht höher zu liegen als das restliche Land. Müssen sie auch nicht, der Deich ist ja direkt daneben. Zusätzlich schützt sie ein Hufeisen aus Bäumen - zwar weniger vor Hochwasser, aber immerhin vor neugierigen Blicken. (Die größeren Hufeisen aus Windrädern sind in dieser Hinsicht weniger hilfreich.) Die Bauern haben vergilbte Schilder in den Heller gesteckt, auf denen erklärt wird, wie bio ihre Tierhaltung ist. Die Herde darf nicht zu groß sein und das Gras mähen sie erst ab Juli, um die Vogelnester auf dem Boden nicht zu zerstören.

Apropros Vögel: Zugvögel sind hier auch unterwegs. Sibirische und Grönländische Knutts machen hier zweimal im Jahr Pause. Das Bild auf dem Schild zeigt einen Vogel mit rosa Bauch, hm... ja, tatsächlich, die da hinten könnten untenrum rosa sein und oben eher braun, bingo!
Ein Schwarm Knutts futtert an dieser Watt-Tankstelle 200 000 Herzmuscheln und verdoppelt sein Gewicht. So viel schluckt nicht mal ein SUV.

Die Küste ist echt dünn besiedelt, es gab eigentlich nur zwei Ortschaften auf der Strecke, und beide hatten fast keine Häuser direkt am Deich.
In Neßmersiel verkehrt die Fähre nach Baltrum, der kleinsten ostfriesischen Insel. Obwohl das sogenannte Dornröschen der Nordsee als letzte ostfriesische Insel den Fremdenverkehr eingeführt hat und eher ein Geheimtipp sein soll, war noch im Oktober der ganze Parkplatz am Hafen voll - da standen mehr Autos als an der Fähre nach Langeoog!
Was auf diesem Bild aussieht wie ein natürlicher See, ist eigentlich eine raffinierte Konstruktion namens Spülbecken. Damit waschen die Ostfriesen nicht ihr Geschirr ab, sondern den Hafen. Bei Flut läuft das Becken voll. Dann wird es zugemacht. Sobald die Ebbe den Hafen ausgesaugt hat, geht die Klappe auf, der Inhalt des Spülbeckens rauscht durch den Hafen und nimmt alles angeschwemmte Zeug mit.
Solange die Ebbe im Spülbecken mit der Wucht eines Hochdruckreinigers und der Verspätung der Deutschen Bahn kommt, muss der Hafen niemals ausgebaggert werden.

In Dornumersiel kam ich auf einmal nicht weiter - überall Zäune. So ist sichergestellt, dass alle Kurtaxe zahlen für ein paar Quadratmeter aufgeschütteten Sand. Ich kam allerdings von der falschen Seite und hätte Kurtaxe zahlen müssen, um den Strand verlassen zu dürfen. Aber irgendwann entdeckte ich, dass die Leute am Imbiss ganz oben einfach am Drehkreuz vorbeigehen: Unter der Woche im Oktober darf man den Strand kostenlos verlassen, hurra!
Also schob ich mein Rad zwischen den Tischen hindurch und... ach was solls, ein Fischbrötchen wär jetzt genau das Richtige. So bezahlte ich letztlich doch für die Durchquerung dieses Nadelöhrs.

Das Örtchen Bensersiel ist eine Nummer größer und moderner. Neben dem obligatorischen Strand gibt es hier ein Freibad und eine Therme, außerdem legt hier die Fähre nach Langeoog ab. Die Abfertigungsgebäude auf beiden Ufern sind dermaßen repräsentativ, dass Verstehen Sie Spaß erfolgreich vortäuschen konnte, die Reisenden müssten hier die Grenzkontrollen der unabhängigen Republik Langeoog passieren.

Der Hafen wurde in die Sieltiefe reingebaut. Als ich diesem Kanal landeinwärts folgte, entdeckte ich einen hübschen Kiesweg nach Esens. Komischerweise hatte ich sogar jetzt noch Rückenwind. Ob das mal eine Bahntrasse war? Einerseits wird aus dem Kiesweg gegen Ende eine Straße, deren Verlauf auf der Landkarte ans einsame Esenser Eisenbahngleis anzudocken scheint. Andererseits: Würde die Bahn wirklich so präzise dem Wasser folgen?


Das Backsteinstädtchen Esens ist mit einer Kirche, einer Mühle und einem Schloss ausgestattet, denn diese Bestandteile sind für eine ostfriesische Ortschaft esensiell. Am Anfang der Fußgängerzone stehen drei extragroße Münzen herum. Die gehören keinem gigantischen Straßenmusiker, sondern erinnern daran, wie Esens das Recht bekommen hat, eigene Münzen zu prägen.
Angeblich kann man vom Kirchturm aus kostenlos die ostfriesischen Inseln sehen. Echt, von dem mickrigen Ding? Das wollte ich selber sehen. Doch in der Kirche stand ein wortkarger Wächter vor der Treppe.
"Kann ich noch hoch?"
"Nee, ab 20 vor nur noch runter, damit auch alle rechtzeitig wieder unten sind."
Ich war zwei Minuten zu spät.
Hab ich schon erwähnt, dass der Kirchturm mickrig war?

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