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Flüsse

Noch mehr Radreisen

09 November 2022

Nordsee: Von Esens nach Wilhelmshaven

Von Esens wollte ich auf dem kürzesten Weg zur Nordsee zurückkehren. Die Straße war weitgehend leer. Nachdem ich alle Häuser hinter mir gelassen hatte, ragten eigentlich bloß noch ein Funkmast und der Deich am Horizont in den Himmel. Alles andere war grün und platt. Am Ende der Straße habe ich erstmal versehentlich ein Privatgrundstück durchquert, um den Deich zu erreichen. Ein pflichtbewusster Hund wies mich lautstark auf die Eigentumsverhältnisse hin.

Der Nordseeküstenradweg verläuft häufig abseits der Küste im Binnenland, direkt am Meer gibts oft nur eine Variante. Und selbst die befindet sich hinterm Deich ohne Meerblick. Ein Wassergraben trennte den Radweg vom endlosen platten Grün und den Gehöften, die sporadisch darin wuchsen.

Schön und gut, diese Bauernhöfe sind ja ganz idyllisch, aber eigentlich wollte ich doch zur Nordsee. Ich hatte mir vorgestellt, den ganzen Tag am Meer zu radeln und langsam den Übergang von Flut zu Ebbe mitzuerleben. Diese Vorstellung wurde von der Realität weggespült.

Zielstrebig stiefelte ich durch den Deich hinauf, um zumindest einen Blick aufs Meer zu werfen. Der Deich bestand aus schlammigem Gras und grasigem Schlamm. Nach wenigen Schritten sah mein Schuh aus, als wäre ich schon am Meer gewesen und hätte spontan eine Wattwanderung eingelegt.

Das schlammige Gras auf dem Deich wird von schreckhaften Schlammschafen gemäht. Die müssen vor furchteinflößenden rasenden Radfahrern geschützt werden. Deshalb ist Radfahren verboten. Die hiesigen Schafe sind anscheinend viel sensibler als ihre Kollegen bei Norddeich, die mit Radfahrern praktisch auf Kuschelkurs gehen.

Nach einer Weile stieß ich doch auf einen Weg ohne Verbotsschild zur anderen Seite des Deichs und wagte einen Versuch. Die wenigen Schafe standen eh weit vom Weg entfernt. Das Asphalt war stark zum Wasser hin geneigt, wo die graue Nordsee lustlos auf ein paar Steine klatschte. Idyllischer Meeresstrand sieht anders aus. Komische Betonpickel und trockenes Gras erschwerten meinen Weg.

Irgendwann war der Weg vollständig vom Gras bedeckt und ich musste umkehren. Auch mein zweiter Versuch, am Meer zu radeln, blieb erfolglos. Okay, gut, ich habs ja verstanden, ich fahre innen am Deich. Meh, da hat mir der deutsche Ostseeradweg echt besser gefallen.

 

Na schön, immerhin kann ich in den Ortschaften einen Meerblick erhaschen. Das hier ist die Küste der Siele, alle Orte enden auf -siel. Neuharlingsiel begrüßte mich mit blauen Straßenlaternen und ein bisschen Strand. Trotz des Wetters kam minimales Urlaubsfeeling auf.

Ein kleines Mädchen grüßte mich im Vorbeifahren mit einem extrem langgezogenen "Mooooooiiiiiiin". Entweder litt es an einer Sprachstörung oder ich bin so schnell gefahren, dass ich eine temporale Verzerrung der Realität verursacht habe.

Neuharlingersiel hat ein Buddelschiffmuseum, das saisonbedingt oder coronabedingt oder vielleicht auch für immer und ewig geschlossen war oder an jemanden verkauft und neueröffnet wird, das Internet war diesbezüglich wie so oft äußerst widersprüchlich. Schade, insbesondere das 60-Liter-Flaschenschiff hätte ich mir gern angeschaut. Das einzige Buddelschiff des Museums, das ich gesehen habe, befand sich in diesem Bullauge hinter einer Straßenlaterne und wartete geduldig, was in Zukunft mit ihm geschehen würde.

Sternengucker und nächtliche Fotografen sollten hier in die Fähre steigen: Die Insel Spiekeroog hat sich auf solche Gestalten der Nacht spezialisiert, indem sie ihre Lichtverschmutzung extra niedrig hält. Leider ist sie voraussichtlich die erste, die durch den Klimawandel verschwinden wird.

Zu jeder Siel-Ortschaft gehört standardmäßig eine Art Kanal (die Sieltiefe) mit historischen Fischerhäusern und Segelschiffen. Auf dem Kanal steht ein Sperrwerk (das Siel).

Als ich zum nächsten Siel geradelt bin, habe ich Ostfriesland verlassen. Ich befand mich zwar geographisch gesehen noch auf der ostfriesischen Halbinsel, aber kulturell gehört das letzte Drittel der Halbinsel nicht zu Ostfriesland, sondern Wangerland, und wer etwas anderes sagt, könnte einen Ostfriesen oder Wangerländer eventuell schwer beleidigen. Klingt komisch, ist aber so.

Harlesiel ist deutlich kleiner, hier bin ich einfach fix über das Sperrwerk gesaust, das den Fluss Harle sperrt. Ein kleines, aber durchaus imposantes Bauwerk.


Naja, vielleicht sind meine Ansprüche auch einfach gesunken, weil bisher nicht so viel Interessantes zu sehen war. Was nicht daran lag, dass ich nicht danach gesucht habe. Nanu, was ist denn das auf dem Deich? Neugierig stapfte ich einen Betonweg in einer nicht enden wollenden Spirale hoch, und was erwartete mich oben - abgesehen von Schafen?

Eine formschöne Welle aus Beton, ein Kunstwerk halt. Sie steht in einer Kreis aus etwa fünfzig Infotafeln. Hm, okay, wow.


So langsam verstehe ich, warum die Hauptroute ganz woanders verläuft, nämlich weitab der Küste durch Jever. Aber immerhin eine tolle Stelle gab es dann doch noch auf dieser Strecke: Die nordwestliche Ecke der ostfriesischen Halbinsel in Schillig.
Die Wiesen am Strand waren zum Teil überflutet, und die Spazierwege hatten sich in kleine Kanäle verwandelt. Dieses grüne Wasserland hat mich ein bisschen an die Naturschutzgebiete von Fehmarn erinnert.
Nicht im Bild: Direkt hinter dem Deich befindet sich ein recht modernes Hotel, eine kleine Brücke befördert die Gäste über die Straße direkt auf den Deich.

Schillig sieht zwar nicht chilliger, aber deutlich moderner aus als die ganzen Siel-Dörfer. Der dürre Leuchtturm erstrahlt in sprödem Beige, und davor ragt eine bizarre schwarze Parabel in die Höhe. Offensichtlich hat der Sauron beschlossen, auf seine alten Tage ein Strandhotel zu eröffnen und sich architektonisch nicht nur an seinem Dunklen Turm, sondern auch am Warnemünder Teepott orientiert.


Es folgen noch zwei Siele: Horumersiel besteht aus adretten Handelshäusern und einem hölzernen Aussichtsturm. Der war weder corona- noch saisonbedingt geschlossen, vielmehr ist irgendjemandem aufgefallen, dass dieser Turm baurechtlich gar nicht erlaubt ist.

Ab jetzt umrunde ich den Jadebusen. In dieser Bucht darf ich endlich ganz offiziell ans Wasser beziehungsweise an den Schlamm, wenn gerade Ebbe ist.
Hätte ich diese Radtour vor Jahrhunderten gemacht, könnte ich von hier aus geradeaus zur Weser radeln, aber seitdem haben ein paar Sturmfluten die Bucht namens Jadebusen geschaffen.

Am historischen Sielhafen von Hooksiel habe ich mir ausnahmsweise Mühe gegeben, ein kreatives Foto zu schießen. (Sorry, wird nie wieder vorkommen.) Das Boot im Vordergrund ist bloß Blech-Deko auf einer Mauer. Im Hintergrund liegt unter anderem das Mudderboot, das bis 1956 den Hafen von Schlamm befreite.

Wegen der Hafenanlagen von Wilhelmshaven durfte ich auf den letzten Kilometern nicht mehr ans Meer. Stattdessen bin ich im Zickzack in die Stadt und zugleich in die Nacht hineingeradelt. Weil mich der Wetterbericht dreist über die Windrichtung angelogen hatte, war ich spät dran und ziemlich erschöpft. Eigentlich wollte ich noch weiter nach Varel, aber daraus wurde nichts.
Na schön, dachte ich, dann lege ich nach diesem windigen, kalten Nordseetag zumindest noch einen Stopp in der Therme ein. Kurz darauf sah ich, dass die Warteschlange vor dem Schwimmbad fast bis nach Oldenburg reichte. Seufz, na schön, dann nehme ich halt doch den früheren Zug. Heute läuft es wohl einfach nicht.

Bisher hatte ich über Wilhelmshaven nicht viel Schmeichelhaftes gehört, aber die Einfahrt in die Stadt hat mich positiv überrascht. Okay, da waren viele Hauptstraßen, aber auch jede Menge Parks mit Spielplätzen, einer Windmühle und... huch, wo kommt den plötzlich dieser dicke Burgturm her?

Je näher ich dem Stadtzentrum kam, desto mehr weiße Villen ploppten links und rechts vom Park auf. Besteht die Stadt etwa aus diesen Dingern?

Nein, die Innenstadt selbst war dann doch nichts Besonderes. Okay, wo ist jetzt der Bahnhof? Der müsste doch eigentlich direkt hier sein, oder? Ist es das Haus da? Nein, da stehen nur die Namen von irgendwelchen Geschäften dran.

Um es kurz zu machen: Es war doch dieses Haus. Die Wilhelmshavener haben ihren Bahnhof in einer Shoppingpassage versteckt. Ich musste mein Rad mitten durch die Mall schieben (was eigentlich verboten war), um das Geheimgleis zu erreichen.
Was für eine komische Stadt.



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