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Flüsse

Noch mehr Radreisen

03 November 2022

Ems: Von Westbevern nach Salzbergen

Ems-Tag III

Die fremde Stadt des Fahrrads - Der Egal-Kanal - Angebaggert von einem Huhn  - Ein ungewöhnlich großzügiges Museum, sofern man das überhaupt als Museum bezeichnen kann - Was Sandlandschaften verschönert und was sie vorübergehend verhässlicht - Die Stadt der Handwerker - Fahrradfreunde und Fahrradfeinde - Der falsche Name - 1S - Massive Überinterpretation eines Weihnachtslieds - Noch mehr Megamühlen - Nebeluntergang

Ich war ganz besonders neugierig auf die Stadt Münster, denn das gilt ja quasi als das andere Göttingen, eine junge Fahrrad- und Studentenstadt, nur teurer. Da ich mich dort nur eine Stunde aufgehalten habe, kann ich mir natürlich nur ein begrenztes Urteil erlauben, wo es sich besser radeln lässt. Dieses begrenzte Urteil lautet: Gleichstand.
Ich habe den Eindruck, dass die Münsteraner deutlich platzsparender als die Göttinger sind - dabei haben sie in Münster eigentlich mehr Platz. Das Fahrrad-Parkhaus am Bahnhof wurde zum Beispiel kurzerhand unter die Erde verlegt.
Göttingen hat am Rande der Innenstadt sowohl einen Fahrradschnellweg als auch einen Spazierweg auf dem Stadtwall. Die Münsteraner haben beides kombiniert. Das Ergebnis lässt sich auf jeden Fall sehen, ich konnte die Altstadt superbequem umrunden.
Doch wer sich in einer Fahrradstadt von derartigen Prestige-Radwegen entfernt, sieht ein durchwachsenes Bild: Mal wird den Radlern eine extraflache Rampe aufgebaut, damit sie ein Kabel überqueren können, ein andermal ist der Radstreifen verblasst und übermalt.

Ansonsten sieht Münster ganz anders aus: Die Münsteraner haben ihre zerbombte Altstadt nach dem Krieg wieder aufgebaut, aber dabei handelt es sich nicht um schiefe Fachwerkhäuschen, sondern große graubraun aufragende Bürgerhäuser mit Arkaden und stufenförmigen Giebeln, die recht harmonisch in ähnlich gefärbte neuzeitliche Shoppingcenter übergehen.
Mir hat Münster durchaus gefallen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, komme ich gern mal wieder.

Münster liegt nicht direkt am Emsradweg, sondern am Dortmund-Ems-Kanal-Radweg. Der führt (wie der eine oder andere vielleicht schon vermutet) am Dortmund-Ems-Kanal entlang und verbindet (kaum zu glauben, aber wahr) Dortmund und die Ems.

Nördlich von Münster trifft der Dortmund-Ems-Kanal zum ersten Mal auf die Ems. (Spoiler: Nicht zum letzten Mal.)
Jetzt müsste doch eigentlich bald mal der Kanal kommen, oder... nanu? Sollte da nicht Wasser drin sein?


Nein, sollte es nicht. Das ist die Historische Kanalüberführung (links), die tatsächlich ganz schön historisch aussieht. Sie wurde 1899 gebaut, ähnelt aber mehr einer dieser mittelalterlichen Steinbrücken.
Inzwischen hat der Kanal eine moderne Überführung bekommen, damit er über die Ems rüberkommt. Dazu musste er seine Route ein bisschen verändern. Die alte Überführung überführt bloß noch Fußgänger und Emsradler. Wenig später überqueren die Radler auch den Kanal auf einer Brücke, die nicht nur deutlich weniger schön, sondern weniger angenehm zu fahren ist - weiße Bauzäune lassen nur einen winzigen Streifen zur Überquerung übrig.

An diesem Wendepunkt mündet die Werse und die Ems wechselt die Richtung. Sie fließt ab jetzt nach Norden und durch Niedersachsen. Naja, streng genommen ist das hier noch nicht Niedersachsen, aber in meinem Kopf gefühlt schon. Was wohl daran liegt, dass man hier überall mit dem Niedersachsen-Ticket hinkommt.

Im nächsten Dorf wird die Straße neu geteert. Das geht etwas langsam voran, da auf der Baustelle ausschließlich Hühner arbeiten.


Sand ist ein ständiger Begleiter der Ems. Immer macht mich die Karte auf Naturschutzgebiete oder Dünen aufmerksam und leitet mich da durch, damit ich auch mal was anderes sehe als Äcker. Die erste Sandschaft (die sogenannten Bockholter Berge) wurde gerade aufgebaggert und sah dementsprechend aktuell nicht so dolle aus. Die Baustelle soll die Bockhokter Baggerberge auf nicht näher erklärte Weise erweitern.

Auch an der Ems wurde irgendwas gebaut oder gestaut, so ganz habe ich das auch nicht verstanden. Die Baustelle bildet irgendwelche Erdhaufen-Inseln und lässt den Fluss breiter und wieder schmaler werden. Von der Uferpromenade in Greven konnte ich das genau sehen. Das ist ehrlich gesagt auch schon der interessanteste Anblick in Greven.
Die Uferpromenade brachte mich zum Schwimmbad. Hinter den Fenstern schwammen Leute, direkt darunter fand gerade ein Fußballspiel statt. In Greven tobt das Leben!

Die zweite Sandschaft (Wentruper Berge) bietet Büsche statt Bagger, das ist doch schon mal eine Verbesserung. Ein Meer stachliger Ranken hat den Boden um mich herum eingenommen, nur der Radweg ist frei.

Kurz darauf stieß ich auf einen kleinen Parkplatz mit einem Haus, dahinter scheint sich eine Art Freilichtmuseum zu erstrecken. Ein Mann kam gerade heraus, schließt es ab und fährt mit dem Auto weg. Sieht ganz so aus, als wäre dieses Museum, oder was auch immer das ist, geschlossen.
Oder?
Ich entdecke nirgendwo eine Absperrung oder ein Schild mit Öffnungszeiten oder so. Zögerlich betrete ich den Pfad. Als ich am Zaun vorbeikomme, bittet mich ein Schild, doch bitte alles pfleglich zu hinterlassen und keine Pflanzen aus dem Kräutergarten auszureißen. Sonst nichts.
Meine Karte sagt, dass ich mich auf dem Sachsenhof befinde. Die westfälischen Städte in der Gegend sind praktisch alle aus einem Hof entstanden. (Für das große Münster brauchte es mehrere Höfe.) Der Sachsenhof war die Keimzelle von Greven. In der Mitte stand ein großes Wohn- und Stallhaus für Menschen und Tiere. Rundherum liegen kleine Anlagen, wo die Sachsen alles mögliche gearbeitet haben. Ein extratiefes, halb in die Erde gebuddeltes Häuschen enthielt einen Webstuhl (weil die Feuchtigkeit gut zum Weben war, wusste ich auch noch nicht). Und das vorn im Bild ist so was wie ein erster Hochofen, um Eisen zu gewinnen.

Die Sachsen kamen so um das Jahr 500 hierher. Die Römer hatten damals schon Taxameter, während auf dem Sachsenhof noch nicht mal Pflüge benutzt wurden, das war für die schon zu viel Hightech. Wer den deutschen Rückstand in der Digitalisierung für schlimm hält, kann froh sein, dass er damals kein Sachse war.
Um den Hof zu bauen, mussten die Sachsen erstmal das Land erobern. Das war nicht so schwierig, denn hier lebte vorher quasi keiner. Wenn doch nur alle Eroberungen der Geschichte so friedlich verlaufen wären.
Dieser tiefe Frieden hat offenbar die Jahrtausende überdauert und liegt noch heute wie ein sanfter Schutzschirm über der Anlage. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso die nachgebauten Anlagen nicht von Vandalen (nein, nicht denen von der Völkerwanderung) verwüstet wurden. Man kann einfach so rein und sich anschauen, was da so alles nachgebaut, angepflanzt und an die Infotafeln geschrieben wurde. Auch ein Rastplatz für Radler gehört dazu. Solch ein aufwändiger Nachbau kostet sonst immer was.

Die Ems habe ich nur gesehen, wenn ich sie überquert habe. Das geschah ziemlich oft. Auf der Brücke schält sich meistens schon der Kirchturm des nächsten Dorfes aus dem Nebel. Einmal geriet ich in eine Geschwindigkeitsmessanlage, die mir 15 km/h bescheinigte.

Die nächste Stadt heißt Emsdetten. Weil der Ackerboden nicht viel hergibt, lebten da schon immer viele Handwerker. Die stellten sowohl Wannen, mit denen Getreide gesiebt wurde, als auch Polypropylen, mit dem der Reichstag verhüllt wurde, her. (Zugegeben, dazwischen lagen ein paar Generationen.)
Der Radweg hat mir allerdings nichts von der Stadt gezeigt, sondern nur das Naturschutzgebiet der Emsauen. Von der Ems ist da kaum was zu sehen. Sie fließt in einigen Metern Abstand und ist total zugewachsen.
Früher gab es hier keine Brücken, sondern sieben Fähren. Manche gehörten der Gemeinde, andere der Kirche. 1953 wurde die vorletzte Fähre stillgelegt, weil sie total abgewrackt war und keiner mehr damit fahren wollte. Den Bewohnern des Emslands scheinen ihre alten Fähren sehr wichtig zu sein: An der ganzen Ems gibts ungewöhnlich viele Hinweistafeln, die erklären, was für Fähren hier früher fuhren.

Die nächste Brücke sieht besonders eindrucksvoll aus. Da steige ich doch gern ab und schiebe ein bisschen, um sie zu bewundern.

Die Brücke entlässt mich in die dritte Sandschaft (Elter Dünen), die mit seltsamen Industrie-Ruinen und einer erstaunlich großen Heidefläche am interessantesten ist.

Hier befindet sich die letzte der sieben Fähren, die heute noch fährt - zumindest in den Sommermonaten, momentan ist sie im Winterschlaf. Schade. Wobei, ich wäre eh nicht damit gefahren, denn am anderen Ufer ist weder der Emsradweg noch sonst irgendwas. Aber immerhin ist das die einzige handbetriebene Fähre auf der Ems, wär schon interessant zu sehen, wie die fährt.

Erst Heide, und jetzt auch noch eine militärische Sperrzone? Bin ich etwa wieder bei der Emsquelle gelandet?
Ganz wichtig: In dieser Sperrzone darf auf keinen Fall gepinkelt werden. Ein Zusatzschild erweitert das Pinkelverbot auch für Frauen. Man könnte dabei Munition treffen.

In den westfälischen Städten sind die Fahrradstreifen komplett zugeparkt. So extrem habe ich das selten gesehen. Die Nähe zur Fahrradstadt Münster hat offenbar keine große Ausstrahlungswirkung.

Die größte und wohl auch schönste Stadt auf diesem Abschnitt heißt Rheine. Die Altstadt besteht vorwiegend aus graubraunen Sandsteinhäusern, quasi ein kleineres Münster. Die Hase-Ems-Tour verbindet Rheine mit Osnabrück.
Ich weiß auch nicht, wer auf die glorreiche Idee gekommen ist, eine Stadt an der Ems Rheine zu nennen, aber welch ein Glück, dass dieser Typ nicht noch mehr Städte benannt hat. Sonst hieße Fulda wahrscheinlich Donauwörth.
Andererseits: Emse gibt auch nicht wirklich einen tollen Namen ab. Das klingt eher nach irgendeiner abwertenden antiquierten Bezeichnung für Frauen.

Auch Rheine hat einen Uferweg, diesmal ist der aber deutlich urbaner. Ich bin an einem Shoppingcenter vorbei- und unter der Fußgängerzone durchgeradelt. Dort fand bereits der Weihnachtsmarkt statt. Mit den Weihnachtsmärkten ist das in diesem Jahr bekanntlich etwas schwierig. In Rheine hat man sich ein ganz besonderes Corona-Konzept einfallen lassen: Hier gilt nicht etwa 3G oder 2G, sondern 1S. Heißt: Der Weihnachtsmarkt besteht aus einem einzigen Stand. Dieser steht auf der Brücke über der Ems und verkauft in Baileys-Likör gebrannte Mandeln, die im Umkreis von 18,7 Kilometern extrem verführerisch duften. Was auch erklärt, warum trotzdem fast so viele Leute herumliefen wie auf einem normalen Weihnachtsmarkt.
Die Ludgerusbrücke war lange Zeit die einzige Brücke der Stadt und zugleich wichtigster Schutz (bei einem Angriff leicht zu verteidigen) und Einnahmequelle (Zoll). Erst 1828, als beides nicht mehr so richtig funktionierte, traute sich zum ersten Mal jemand, ein Haus am anderen Ufer zu bauen.

Auf der Brücke spielte ein Mann Harfe. Wie schafft er das, ohne dass ihm die Finger abfrieren? Seine melancholische Melodie berührte irgendwas in mir. Auf einem gewöhnlichen Weihnachtsmarkt wäre diese Musik eher unpassend. Aber das ist kein gewöhnlicher Weihnachtsmarkt, kein gewöhnliches Weihnachten und kein gewöhnlicher Winter. Schon wieder, obwohl sich viele etwas anderes erhofft hatten. Und dieselbe europäische Novemberkälte, die mich trotz fünf Kleidungsschichten frösteln lässt, tötet in diesem Moment an unseren Grenzen Menschen. All das scheint in dieser Melodie mitzuklingen.
Wobei ich nicht weiß, ob der Harfenspieler das wirklich alles mitklingen lassen wollte. Wahrscheinlich nicht.

Hinter Rheine strömt die Ems durch eine ganz besonders große Mühle. Von den Mühlrädern ist nicht wirklich was zu sehen, aber an der Stelle, wo sich der Mühlenkanal wieder mit dem Hauptfluss vereint, entstehen ganz schön heftige Stromschnellen.

EMSSPORT verkünden die Buchstaben auf diesem komischen Käfig. Ich habe ja schon allerhand Trimm-Dich-Pfade und Freiluft-Fitnessgeräte in Parks gesehen - aber was bitte soll man in dem Kasten für Sport machen? Und warum steht davor ein Trampolin, das nicht elastisch ist?
Neugierig fahre ich heran - und stelle fest, dass ich mal wieder alles falsch verstanden habe. Es handelt sich um die Utensilien einer vergessenen Sportart, die sich nie durchgesetzt hat. Was daran liegt, dass es sie nie gab. Das ist ein Kunstwerk, das gegen krampfhafte Fitness und Leistungssport in der Freizeit gerichtet ist. Eine Botschaft, die ich voll und ganz unterstütze. Und jetzt schnell weiter, ich will heute unbedingt noch die 70 Kilometer nach Salzbergen schaffen!

Nördlich der Stadt bin ich ich an einem Kloster vorbeigefahren. Die Mönche hatten ihre eigene Saline und nannten sie Gottesgabe. Direkt dahinter folgt die Grenze von NRW nach Niedersachsen.
Die Felder und Wälder haben mich immer wieder an den zweiten sommerlichen Ems-Tag erinnert. Ein Asphaltweg schlängelt sich geschmeidig durch diese Landschaft.
Die Bäume befinden sich inzwischen fest in der Hand des Novembers - die meisten sind grau, ein paar andere noch orange.


Aber, was zum Geier, auf manchen Feldern scheint immer noch Sommer zu herrschen! Ich habe immer noch strahlend gelbe Rapsfelder, blau blühende Kornblumen und grasgrünen Rasen gesehen. Zwar deutlich weniger als während der letzten Tour, aber trotzdem nicht wenig.
Auf dem letzten Aussichtsturm des Tages hatte ich einen eigenartigen Blick: Auf dem einen Ufer herrschte Sommer, auf dem anderen Herbst.

Ein Landwirt erntete noch sein Getreide ab und schoss es in einem goldenen Strahl aus dem Mähdrescherrohr in einen Container.
Zielstrebig radelte ich auf Salzbergen zu und rechnete schon damit, den Sonnenuntergang am Horizont zu sehen. Doch es gab keinen Sonnenuntergang. Überhaupt nicht. Dafür war der Himmel einfach zu feucht. Stattdessen übernahm der Nebel die Aufgabe, den langsamen Übergang zur Dunkelheit zu überbrücken - er senkte sich über das Land und schien alles Licht aus der Landschaft herauszufiltern.
Ausgenommen natürlich künstliches Licht. Wobei ich diesbezüglich nicht viel zu bieten habe. Mist, mein Vorderlicht ist schon wieder kaputt.

Macht nichts, ich bin ja eh gleich in Salzbergen. Das Zifferblatt der Kirchturmuhr leuchtete mir entgegen und verriet mir, dass der nächste Zug sogar früher kommt als der Sonnenuntergang.
Die Stadt selbst ist ziemlich schmucklos, aber die Kirche ist ein Prachtbau aus strahlenden Spitzbögen.
 

Zufrieden schob ich mein Rad an der dekorativen Dampflok vorbei eine superangenehme Fahrradrampe hinunter und nahm mir schon vor, ein paar lobende Worte über diesen kleinen Bahnhof zu verlieren - da sah ich, dass die zweite Treppe zum Bahnsteig wieder nur mit diesen nutzlosen 0,2 Millimeter breiten Rampen am Rande der Treppe ausgestattet war. Dann also doch keine lobenden Worte. Stattdessen tadelnde. Die ich hiermit geschrieben habe.

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