Ems-Tag IV
Der angebaggerte Kanal - Die Kanalleesation des Emsradwegs - Wasserfall Handrührgerät - Noch ein falscher Name - Die Stadt der Singles - Techno-Verse frei nach Goethe - Rundkurs um ein verblüffend optimistisches Loch - Die grüne Stadt am Wasser - Ganz große Kunst - Regenuntergang - 0S - Die stille Stadt der Schwebebahn - Wie der Transrapid indirekt bewirkt hat, dass ein Haufen Fahrgäste am Samstagabend wie blöde auf eine hässliche Glastür starren
Mensch, dachte ich, als das 873. strahlende Rapsfeld an mir vorbeizog, die Emslandschaft ist schon ziemlich gleichförmig. Kurz hinter der Quelle sieht das ziemlich genau so wie hier. Als ich gestern die Mittelgebirgsschwelle überschritten habe, war das null zu merken.
Als hätte die Ems meine Gedanken gehört, vollführte sie sofort ein paar Waldkurven mit einem kleinen Steilufer. Immerhin. Trotzdem ist jeder andere Fluss dieser Größe, den ich kenne, abwechslungsreicher.
Dann habe ich erneut den Dortmund-Ems-Kanal überquert. Er war übersät mit einer dicken Baustelle aus Baggern und Kränen. Wird denn überall an diesem Kanal gebaut? Ist ja fast wie eine deutsche Autobahn.
Dahinter vereinigt sich der Kanal mit der Ems. Anschließend kommt noch die Große Aa dazu, die ich auf einer eigenartigen Brücke mit zwei Geländern überquert habe. Auf den letzten Kilometern haben sich viele Nebenflüsse, die aus irgendeinem Grund alle Aa heißen, der Ems angeschlossen, sodass sie richtig dick geworden ist. Wobei der Kanal vermutlich das meiste dazu beigetragen hat.
Wenige Minuten später verabschiedet sich der Kanal wieder, und dieses Spiel wiederholt sich ab jetzt ständig. Normalerweise würde man so was Ems-Seitenkanal nennen, aber der Dortmund-Ems-Kanal behält seinen Namen.
Hier habe ich einen Abstecher auf die Halbinsel zwischen Ems und Kanal unternommen, weil ich mir einen Wasserfall anschauen wollte. Was? Ein Wasserfall in diesem Flachland? Das musste ich mit eigenen Augen sehen.
Er heißt Wasserfall Hanekenfähr, obwohl die Autokorrekturfunktion meines Handys der Meinung ist, er hieße Wasserfall Handrührgerät. Das ist so ziemlich das einzige, was ich über diesen rätselhaften Wasserfall mit Sicherheit weiß. Er besteht aus zwei Teilen - was davon soll denn der eigentliche Wasserfall sein?
a) Zuerst rauscht die Ems ein Stauwehr runter. Dort fällt das Wasser wirklich nach unten. Trotzdem wäre nennt man so was normalerweise nicht Wasserfall - dann wären viele Flüsse geradezu übersät mit "Wasserfällen".
b) Anschließend schäumt der Fluss durch eine Barriere sehr großer Steine. Keine Ahnung, ob das auch künstlich angelegt wurde. Da gehts zwar auch steil runter, aber so richtig fallen tut das Wasser nicht. Dafür braust es so weiß und wild herum, als käme es gerade frisch vom Rheinfall runter. Zusammen mit dem Wehr ist das schon ein toller Anblick - immerhin spektakulärer als der Leinewasserfall. Ein bisschen zumindest.
Seit der Seitenkanal in der Nähe verläuft, kann ich auf wunderbar geraden Kanalalleen vorankommen. Ordentlich aufgereihte Bäume streckten ihre Äste über mein Haupt. Sie schafften es mehr schlecht als recht, den Nieselregen von mir fernzuhalten, und bewarfen mich im Gegenzug mit Blättern.
Am anderen Ufer ziehen Ziegelhäuser vorbei. Sie gehören zu Lingen.
Lingen liegt nicht an der Linge. Das ist schon die zweite Emsstadt, die nach dem falschen Fluss benannt wurde.
Wer ganz genau hinschaut und das andere Ufer konzentriert absucht, entdeckt auch das eine oder andere Industriegebiet. Dazu gehören auch zwei Atomkraftwerke. Das Kernkraftwerk Lingen wurde schon 1979 ausgeknipst und durch das (damals) supermoderne Druckwasser-Kernkraftwerk Emsland ersetzt. Der Druckwasserreaktor gehört zu den letzten drei aktiven Kernkraftwerken in Deutschland, Ende 2022 wird auch er abgestellt.
Gleich nebenan wird geforscht, wie man mithilfe von Wasserstoff Stahl herstellen kann, ohne CO2 auszupusten. Und so geht es immer weiter, eine Technologie weicht der anderen (und netterweise wird dabei inzwischen nicht nur darauf geachtet, womit sich am besten Geld verdienen lässt). So sind die Menschen halt. Oder wie Goethe sagen würde:
Will ich zu meiner Technik sagen
"Dich lass ich so, du bist perfekt!",
dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann bin ich quasi schon verreckt.
Eines Tages wird man auch den Wasserstoff-Hochofen durch irgendwas anderes ersetzen. Es sei denn, er setzt sich wie so manche Erfindung gar nicht erst durch, aus Gründen, die nicht so richtig klar sind. (Ein gutes Beispiel dafür wartet am Ende dieser Etappe.)
Der Marktplatz von Lingen ist voll von weißen Bürgerhäusern mit Treppenstufen-Giebeln. Wie in Hameln haben die Häuser alle irgendwelche besonderen Namen, etwa das Haus Hellmann (da wird vermutlich Mayonnaise hergestellt) oder das Kievelingshaus.
Kievelinge sind unverheiratete Söhne des Bürgertums, die 1372 einen feindlichen Angriff auf die Stadt abgewehrt haben. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wurde Lingen von so vielen verschiedenen Ländern beherrscht, dass die Kievelinge total verwirrt waren und nicht mehr wussten, wer eigentlich der Feind ist, und deshalb machen sie jetzt einfach Stadtführungen für alle Fremden. Das ist auch weniger gefährlich.
Auf dem Weihnachtsmarkt (2G) können die Besucher vor historischer Kulisse eislaufen. Zu essen gibts allerdings ausschließlich Bratwurst. Wie ich auf dieser Tour festgestellt habe, ist das kulinarische Angebot der Weihnachtsmärkte in Nordwestdeutschland bedauerlich kurz. Backbananen, Langos und andere Spezialitäten des Südens oder Ostens sind den Leuten in Lingen wurst.
Ich bin viel am Kanal gefahren, weil der Ems-Radweg sowieso nicht direkt am Fluss entlangführt. Irgendwann habe ich den Kanal aber doch verlassen, weil ich ein anderes Gewässer erkunden wollte. Es wurde quasi nur für den Fall gebaut, dass die Ems versagt und nicht genug Kühlwasser liefert, obwohl sie inzwischen echt groß geworden ist.
Dann können sich die Gaskraftwerke und das Atomkraftwerk Lingen am Speicherbecken Geeste bedienen (was sie etwa im Sommer 2018 großzügig taten).
Der graue, gut gefüllte Speichersee hat ungefähr die Form einer Vakuole (falls Ihnen das noch was aus dem Biounterricht sagt). Er ist umgeben von Wald, dann folgt ein ganz steiler Damm, auf dem es sich bei Schnee bestimmt prima rodeln lässt. Wer dieses grüne Gebirge bezwingt, darf zur Belohnung auf einem Asphaltweg den ganzen See umrunden und dabei rätseln, ob das Grau dahinten noch zum Speichersee oder schon zum Himmel gehört. Bei diesem Wetter sieht der See alles andere als einladend aus, wie ein leeres Loch im Land. Das andere Ufer ist kaum zu erkennen, das wiederum erinnert mich an das Meer.
Ein Geländer und eine Betonmauer schützen den See vor unerwünschten Badegästen. Nur zweimal werden sie durchbrochen: Für einen Bootshafen und für ein Strandrestaurant mit Badestelle. Der Regen prasselte inzwischen stärker nieder. Auf dem Sandstrand standen Tische, dazwischen wummerte fröhliche Musik in der Hoffnung, dass sich hier bald Gäste einfinden würden. Das nenne ich Optimismus.
Zwischendurch bin ich eine Weile der Hauptstraße gefolgt. Eines der Dörfer verkaufte recht ungewöhnliche Weihnachtsbäume: Sie waren etwa 30 Zentimeter hoch, doppelt so breit und hatten Blätter statt Nadeln. Lassen sich die Leute hier etwa eine gestutzte Hecke als Tannenbaum andrehen?
Irgendwann durfte ich zurück ans Ufer und durchquerte
Meppen, die zweite Stadt des Tages. In der sogenannten grünen Stadt am Wasser münden zwei Drittel des einzigartige Flusses
Hase über den Kanal in die Ems.
Dann schickte mich der Radweg auf einen Umweg durch ein Naturschutzgebiet namens Borkener Paradies. Dort sollte sich das Veersener Wehr befinden. Dieses Nadelwehr wurde 1899 zusammen mit dem Dortmund-Ems-Kanal gebaut. War der Wasserstand zu hoch, dann zog das Wasser automatisch an zwei Drähten, die das Wehr mit einem Haus verbanden. Sofort kam der Wehrmeister raus und zog meisterhaft eine der vier "Nadeln" (die eigentlich fette Balken mit Haken dran waren) raus, damit mehr Wasser abfließen konnte.
Na gut, dachte ich, schließlich will ich an der Ems radeln und heute habe ich schon so viel abgekürzt. Also gucke ich mir das an. Ich hätte es aber auch lassen können - vom Wehr waren nur zwei olle Mauern auf beiden Seiten des Ems-Altarms übrig. Ein Blick auf das eigentliche Wehr bleibt mir verwehrt. Da waren selbst die kleinen Stromschnellen dahinter beeindruckender.
Der Umweg war ein Reinfall, also schnell wieder zurück zum Fluss. Am anderen Ufer ragt das sogenannte "größte Gemälde der Welt" in die Höhe. Laut Guinness-Buch der Rekorde ist das nur die größte Weltkarte der Welt, aber immerhin.
Als Leinwand dient ein alter Fabrikturm. Wie praktisch, dass der so groß ist und ich keinen Umweg dafür machen muss! Andererseits wäre das wohl ohnehin keine Sehenswürdigkeit, wenn es nicht so groß wäre.
In Haren steht seit 1872 eine Brücke. Der erste, der sie überquerte, war ausgerechnet der Fährmann, der an dem Tag in Rente ging und seine goldene Hochzeit feierte.
Im Vorbeifahren erblickte ich zwei andere Schiffe am Ufer, ein historisches Dampfschiff und ein modernes Ausflugsschiff. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass nur eins davon im Wasser lag.
Haren hat zwei besondere Bauwerke: Zum einen die weiße Kuppelkirche, auch bekannt als Dom des Emslands.
Zum anderen das Schloss Dankern. Das Schloss ist mittlerweile ein kleiner Freizeitpark, der aber immer noch denselben adligen Eigentümern gehört. Er hat eine Achterbahn, jede Menge Rutschbahnen, ein Freibad ohne jede Aufsicht und ein Mini-Riesenrad zum Selberdrehen, bei dem ein Kind in die Pedale treten muss.
Auch diesmal bekam ich den Sonnenuntergang nicht zu Gesicht. Diesmal schien es nicht, als würde der Nebel alles Licht ersticken, sondern vielmehr, als hätte der beständige Regen das Feuer der Sonne langsam, aber sicher ausgelöscht und die Welt in eine eiskalte Ödnis verwandelt. (Tut mir leid, wenn das jetzt ein ganz kleines bisschen deprimierend klingt.)
Die Dunkelheit brach herein - ausgerechnet jetzt, wo der Radweg endlich mal so richtig lange dem Flussufer folgte. In der Nähe der Schleusen standen zwar Straßenlaternen, aber die leuchteten alle aufs Wasser und waren offensichtlich nicht für mich gedacht.
Umso überraschter war ich, als ich trotzdem total viel sehen konnte - obwohl die feuchten Wolken den Himmel so zugestopft hatten, dass sich Mond und Sterne ebensogut in einem anderen Universum hätten befinden können. Noch lange nach dem Sonnenuntergang spiegelte sich das verbliebene Licht auf dem breiten, nassen Fluss und dem fast ebenso nassen Radweg. Als zwei feuchtglänzende Bänder wiesen sie mir den Weg durch die Finsternis und enthüllten die Konturen der restlichen Landschaft.
Das Städtchen Lathen erstrahlte in Weihnachtsbeleuchtung, doch die Lichter waren das einzige, was hier lebte. Offenbar hat man sich hier das Weihnachtsmarktkonzept von Rheine zum Vorbild genommen und verschärft - statt 1S gilt hier 0S.
Noch eigenartiger ist das Konzept des Bahnhofs. Ich will mich nicht beschweren: Eine flache Rampe und ein warmer Warteraum sind mehr, als ich in solch einem Örtchen erwartet hätte. Aber dennoch: Hä?
Die Tür wird aus Sicherheitsgründen erst nach Einfahrt des Zuges geöffnet, verkündet ein vergilbter Zettel auf der Glastür. Zu diesem Zweck sitzt im Nebenraum ein Mitarbeiter, der ein bis zwei Minuten vor der geplanten Abfahrt auf einen Knopf drückt. Im Warteraum drängen sich Menschen, die auf das erlösende Klacken warten, welches verkündet, das sich die Tür endlich für sie auftut.
Warum? Sind die Lathener Leute besonders leichtsinnig? Oder vermissen sie ihren Weihnachtsmarkt so sehr, dass sie sich deshalb reihenweise vor den Zug werden?
Zwar ereignete sich in Lathen ein Bahnunfall, bei dem 23 Menschen starben - allerdings nicht an diesem Bahnhof, sondern auf Deutschlands erster Teststrecke für eine Transrapid-Magnetschwebebahn. Die wurde bald darauf stillgelegt, weshalb ich mich mit der Westfalenbahn vorlieb nehmen muss. Der Transrapid ist bloß an einer Stelle überm Wald als grauer Schemen zu erkennen.
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