Ereignisse einer Elster-Expedition
2. Tag: Die Elsterbrücken
Der zweite Tag meiner Reise beginnt in Adorf. Dieses stille Renaissancestädtchen lag noch im Schlummer, nur die aufgehende Sonne und der Bäcker beleuchteten den Marktplatz von zwei gegenüberliegenden Seiten.
Die Architektur deutet auf eine klassische Ackerbürgerstadt hin. Das bedeutet, die Bewohner hatten zwei Berufe: Vor der Stadt wurde gelandwirtschaftet, in der Stadt wurde gehandwerkelt. Eines Tages reisten die Venetianer nach Adorf und machten sie darauf aufmerksam, dass es noch eine dritte Erwerbsmöglichkeit gab: In der Elster lebten Perlmuscheln. Dankbar für den Tipp machten sich die Adorfer auf die private Perlenjagd, bis Kurfürst August die Sache auffiel, wie viel Geld das einbringt und er 1567 das gesamte Perlenbusiness verstaatlichte.
Ich setze meine Reise am Waldrand über den Schienen fort. Nur unscharf erkenne ich von hier den Halbrund-Lokschuppen mit 20-m-Drehscheibe. Hier befindet sich das einzige intakte Stellwerk im Vogtland. Zwar hat die Region durchaus viele Bahnstrecken, aber offenbar werden sie von woanders geregelt.
Hinter der Teppichstadt Oelsnitz beginnt die Talsperre Pirk. (Die Sachsen geben ihren Talsperren seltsam kurze Namen wie Pirk und Pöhn.) Der Stausee aus dem Jahr 1938 scheint weitgehend leer: Auf den ersten Kilometern erkenne ich nur eine farbenfrohe Flora am Seegrund, erst gegen Ende tauchen größere Pfützen auf. Viel sehen konnte ich von ihr aber zugegebenermaßen nicht, denn andere Gewächse verdeckten sie, und dann musste ich auch schon die Hügel und Dörfer hinauf.
Zurück unten im Tal entdecke ich eine Öffnung im Fels. Ich messe: Der Stollen ist fast 2 Meter hoch, 70-80 Zentimeter breit und 14 Meter lang. Die kleinen, groben Bearbeitungsspuren deuten darauf hin, dass das Stollenmundloch noch in ganz altmodischer Schwerstarbeit mit Hammer und Schlägel geschaffen wurde, schätzungsweise Mitte des 18. Jahrhunderts. Mehr als drei Bergleute können in dem engen Gang nicht gearbeitet haben.
Wonach haben sie gesucht? Der Diabastuff besteht aus Asche, Gesteinstrümmern und Schlacke - ein Werk der Vulkane, die im Oberdevon, vor 360 Millionen Jahren, ausgebrochen sind. Für versteinerte Asche besteht keine große Nachfrage auf dem Weltmarkt, doch ich weise auch Spuren von Eisenerz darin nach. Rund um Pirk befinden sich 21 solcher Überreste.
Aber Stauseen und Bergbau kommen nicht so häufig vor, dass sie typisch für die Elster wären. Abgesehen von Kurquellen gibt es noch eine Sache, die an der Elster besonders gehäuft auftritt: Brücken. Bogenförmige, große Steinbrücken, die alle irgendeinen Rekord aufweisen.
Die Autobahnbrücke Pirk macht den Anfang. Sie ist ein der größten Steinbogenbrücke Europas. Eine Untersuchung der Fundamente ergibt, dass sie schon aus den späten 1930er Jahren stammen, die oberen Steine dagegen erst aus den 90er Jahren. Es ist nicht schwer zu erraten, was passiert ist: Der Krieg hat den Bau unterbrochen, und wegen der Grenznähe hat sich die Fertigstellung erst nach dem Mauerfall gelohnt.
Sehr viel niedriger ist diese Stahlbrücke für die Eisenbahn, unter der die Elster über kleinere Steine rauscht. Aber keine Sorge, auch die Eisenbahn wird noch ihren Anteil an den großen Elsterbrücken erhalten.
Doch dazu muss ich zunächst wilde Felspfade überwinden. Die sind mir immer noch lieber als die steilen Dorfstraßen, mit denen sich die Felswege im Tal abwechseln.
Die Elsterbrücke von Kürbitz, 700 Jahre alt und damit die älteste Steinbogenbrücken Deutschlands. Ich zähle sieben Bögen auf 50 Meter Länge. Die nachträgliche Verbreiterung um einem Geh- und Radweg fügt sich gut ein.
Doch was ist das? Auferstanden aus Ruinen und der Vergangenheit zugewandt campiert eine Gruppe mit den Insignien der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Land. Hierher sind sie also geflohen, die letzten Überbleibsel der gefallenen Regierung, ihre Republik umfasst nur noch die Fläche eines Campingplatzes.
Nach Plauen, die Stadt der Spitze, führt eine pons lapideus (Steinbrücke) aus dem Jahr 1244, die älteste Brücke in ganz Sachsen. Ein Blick auf historische Karten verrät den Grund: Hier kreuzten sich zwei Handelsstraßen.
Ein Denkmal eines karikierten Vaters mit Sohn deutet daraufhin, dass der mysteriöse anonyme Comic-Zeichner namens e.o.plauen von hier stammen könnte. Nun, schon sein Pseudonym war bereits ein subtiler Hinweis. Außerdem betreiben Kinder in einem kleinen Freizeitpark die einzige Kleinbahn Deutschland mit Oberleitung.
Bunte Bänke säumen die nächsten Felswände.
Unversehens stoße ich auf ein faszinierendes Relikt: So also haben die Kelten das Wetter bestimmt! Wettersteine sind in vielen anderen mitteleuropäischen Völkern belegt, ein Beleg für den regen kulturellen Austausch schon vor den Völkerwanderungen. Die keltische Variante des Wettersteins ist eine rautenförmige Schieferplatte und hat eine besonders knappe, geradezu mathematische Anleitung.
Zurück auf den Hügeln blicke ich mich um. Hier sollte nun die wohl faszinierendste Elsterbrücke das Tal überspannen. Doch das Tal dort unten ist von dichtem Wald bewachsen, nichts ist zu erkennen. Also marschiere ich über eine Kiesstraße, vorbei an einer Baustelle und in den Wald hinein. Endlich, eine Mauer! Aber der Weg ist gesperrt, ich muss mich ein wenig entfernen.
Endlich komme ich an der Elster heraus. Wo ist sie denn nun? Ich muss durch die Zweige ans Wasser herangehen, um die Elstertalbrücke zu erkennen. Andreas Schubert hat dieses Bauwerk 1846 entworfen. Und bei dieser Brücke hat nach dem Krieg bereits die DDR das Geld zusammengekratzt und sie 1950 komplett wiederaufgebaut. 68 Meter hoch und 280 Meter lang ist die zweitgrößte Ziegelbrücke auf diesem Planeten. (Die größte, die Goitzschtalbrücke, steht nur wenige Kilometer entfernt im Nachbartal.)
Aber welche Enttäuschung! Nicht nur sind ihre zweistöckigen Ziegelbögen in einer Baustelle gehüllt - selbst von den Baugerüsten ist nur wenig zu sehen. Herr Schubert muss ein äußerst bescheidener Architekt gewesen sein, der um jeden Preis verhindern wollte, dass jemand sein Werk bewundert. Er hat sich eine vollkommen versteckte Stelle ausgesucht, wo ich selbst in optimaler Entfernung in der Hocke am Flussufer nur zwei übereinanderliegende Brückenbögen sehen konnte. Die Baugerüste lassen sie seltsam verpixelt aussehen - was Herrn Schubert wohl nur recht wäre.
Andererseits - immer noch schöner als diese Brücke:
In einem dicht besiedelten und befahrenen Tal passiere ich Elsternberg.
Da mache ich doch lieber einen Abstecher zum Stausee Greiz-Dölau. Er hat die Gestalt eines U-förmigen Nackenkissens, liegt ein Stück über der Gera und genau auf der Grenze von Sachsen nach Thüringen. Welches Gewässer wird hier überhaupt gestaut, und wohin fließt es? Ein seltsamer, eingezäunter See ist das.
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mir nun eine Pause im Schatten der Felswand verdient habe. Auf den kleinen Tischchen haben die Anwohner ihren Müll einfach liegen gelassen. Die Tischplatten bestehen aus Holz oder alten Reifen, sind aber immer wie ein Fliegenpilz angemalt. Der Fungorum Purgamentum ist ungenießbar, aber nicht derart giftig, dass ich mein Essen nicht darauf abstellen könnte.
Noch einmal Thüringen also! Seit ich vor vier Jahren an der Werra mit Thüringen-Touren begonnen habe, bin ich weit in den Osten des Landes vorgedrungen, habe es anhand seiner Flüsse in Scheibchen geschnitten, und die Elster ist nun die letzte Scheibe.
Und Thüringen empfängt mich mit der Stadt Greiz, die Perle des Vogtlands. Durch die Thüringen Teilungen wurde auch Greiz eine Hauptstadt, und es regierte Heinrich der Reiche. Bei dem Namen ist es kein Wunder, dass er es sich die Herzöge leisten konnte, gleich zwei Schlösser zu haben. Im Oberen und Unteren Schloss verbauten die Herzöge jeden Stil, der nicht bei drei auf dem Baum war, ich erkenne Spuren von Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko. Trotz dieser Prahlerei mit dem Reichtum muss das Volk den Namen falsch verstanden haben, denn sein Sohn wurde auf einmal Heinrich der Reuße genannt. Und seine Nachkommen waren dann einfach Die Reußen - aus dem vernuschelten Reichtum wurde der Familienname einer Dynastie. 1768 starb die Untergreizer Linie aus.
Und wer regiert seitdem? Auf der Suche nach der Antwort will ich unterhalb des Schlosses durch den Garten fahren. Doch der Weg ist versperrt. Zäune, dahinter Zelte, Speisen und Dudelsackmusik. Nanu? Anscheinend sind nach dem Ende der Reußen die Schotten einmarschiert und kontrollieren die Stadt von einem streng abgeriegelten Lager aus. Aus welcher Richtung ich auch schaue, ich finde keinen Zugang.
Doch da sich Schotten in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen, nimmt der Rest der Stadt die Besatzung eher gelassen hin. In einem gemütlichen Café bestelle ich ein paar leckere, aber überteuerte Kartoffelrösti mit Lachs.
Anschließend verlasse ich die Stadt durch den Fürstlich Greizer Park, eine Gartenanlage im Englischen Stil. Fast verschwunden sind die Spuren, die verraten, dass es ursprünglich ein barocker Lustgarten gewesen sein muss, zum Beispiel vereinzelte Barrosen und Barrorchiedeen.
Über die Luftbrücke wollte ich ans andere Ufer zurückkehren. Zu meiner Enttäuschung besteht sie weder aus Luft noch aus amerikanischen Flugzeugen, sondern schlicht aus weißem Holz.
Im Volke erzählt man sich die Sage von der Wolfsgrube: Ein Musikant spazierte nachts durch die Schlucht, als ihm ein Wolf gegenüberstand. Der Mann besann sich auf die beste Selbstverteidigung, die ihm zur Verfügung stand: Geigen. Er geigte dem Wolf seine Meinung, und das musikalische Raubtier hörte andächtig zu. Der erschöpfte Künstler spielte und spielte, bis andere Menschen kamen und den Wolf vertrieben.
Tatsächlich dürfte man hier eher Bergleute als Musiker angetroffen haben. Ich untersuche die Wände der Wolfsgrube und stoße auf Phycodendachschiefer, der sich vor 450 Millionen Jahren im Meer abgelagert haben muss. Das abrupte Ende der Formation lässt sich aber nicht mit gebirgsbildenden Kräften erklären - hier muss ein ehemaliger Steinbruch gewesen sein.
Wieder einmal fahre ich durch ein herrliches Felstal, diesmal direkt an den Bahnschienen. (Und wieder einmal habe ich die steilen Dorfhügel in der prallen Sonne, die ich zwischendurch überspringen musste, nicht fotografiert. Glauben Sie nicht, die Strecke sähe immer so aus!) Es ist noch nicht spät, doch eine kurze Recherche ergibt, dass ich morgen erst um 11 Uhr in Gera sein muss. Damit besteht kein Grund, mich zu beeilen, und in der Nähe von Wünschendorf verbringe ich den Abend lesend auf einer Bank im Schatten des Waldes.
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