Wenn du Pläne machst, kichert das Universum.
Ich wollte eigentlich über ein paar weitere dänische Ostseeinseln fahren, aber mitten im Zug musste ich lesen, dass die Fähren für die nächsten Tage kaputt sind. Jetzt bin ich schon bis Schleswig-Holstein angereist, was nu? Dann mache ich eben die schleswig-holsteinische Nordsee.
Ich musste also zur Elbe, aber diesmal auf die andere Seite, gegenüber von Cuxhaven. Da kann ich dann auch gleich lernen, wie ich mein Gepäck richtig festknote. Diese Knoten sind auch das Spannendste, was ich zwischen den Brunsbüttler Backsteinen gefunden habe.
Brunsbüttel war ständig auf der Flucht vor der Nordsee bzw. Elbe, die 1720 Alt-Brunsbüttel verschluckte - erst 1762 bekamen die Brünsbüttler einen neuen Deich hin und konnten ihre Flucht vorerst stoppen. Nur ihr Hafen wurde nochmal komplett verschoben, als der Nord-Ostsee-Kanal entstand.
Brunsbüttel hat keinen Bahnhof. Der Nordseeradweg sagt, ich soll von Hamburg komplett am Nordufer der Elbe zurück zum Meer radeln. Ansonsten fährt aber auch eine Fähre vom Bahnhof Cuxhaven rüber.
Aus meiner Richtung hat das aber beides keinen Sinn ergeben, stattdessen bin ich auf einem Stück Nord-Ostsee-Kanal-Radweg angereist. Der endet in Brunsbüttel in der Elbe. Ohne die roten und gelben Blinklichter hätte ich das nicht erkennen können, denn die Sonne war noch ein wenig unmotiviert.
Die Strecke sah dem Elberadweg auf der anderen Seite wirklich sehr ähnlich - inklusive tierische Hindernisse. Anfangs trippelten die Schafe brav in Reih und Glied auf der Deichkrone entlang. Kein Schäfer, kein Hund in Sicht, es war, als würde sie ein hypnotischer Befehl irgendwohin ziehen. Wohin? In ein enges Gatter mitten auf dem Radweg. Die Schäferin hatte ihre Herde zu einer neuen Form von Hindernis zusammengeschoben, und nun war ich es, der auf dem Rasen vorbeitrippelte.
Ebenso weißbraun und rundlich wie die Schafe sind diese außergewöhnlich großen Pilze.
Schon nach kurzer Zeit musste ich zugeben, dass mir der Nordseeradweg in diesem Bundesland besser gefällt: Ich kann viel öfter schnurstracks außendeichs am Wasser fahren und muss nicht ganz so oft über den Deich rüberwechseln. Einmal musste ich komplett um diese Sieltiefe fahren (jap, solche Dinger gibt's natürlich auch in Schleswig-Holstein). Aber solche Umwegen gibt es nur in sieltenen Fällen.
Ich befinde mich im Territorium der sogenannten Fünfschleuseneinigung. Die fünf Schleusen haben sich darauf geeinigt, den Wasserpegel auf ihren 11 000 Hektar immer zwischen genau vorgegebenen Werten zu halten - alles darüber hinaus schießen die Hochleistungspumpen raus.
Außerdem sollte sich heute ein Rätsel auflösen, das ich mich schon seit dem Beginn der niedersächsischen Nordsee beschäftigt hat: Was sind das für komische Rechtecke im Watt?
Es sind Kooge. Einst bestanden sie aus Holzpflöcken, heute oft aus aufgeschütteten Steinen, aber das Prinzip blieb gleich: Die Flut bringt Sedimente, und während das Wasser durch die Lücken im Rechteck abhaut, bleibt das Zeug liegen.
Immer mehr Boden wird angeschwemmt, und erste Pflanzen ziehen ein. Der Koog wird grüner...
...und grüner...
...und noch grüner.
Nach etwa 15 Jahren ist der Koog dauergrün und wird nur noch in Ausnahmefällen überspült. Dann ist er "deichreif". Es kommt ein Deich außenrum, und Schleswig Holstein hat ein neues Stück Land. Jahrhundertelang erweiterten die Bauern die Küste mit immer neuen grünen Rechtecken, als würden sie mit ihrem eigenen Heimat Carcassonne spielen. Heute wird nicht mehr eingedeicht, die Kooge sind aber immer noch nützlich zum Natur- und Küstenschutz.
Neues Land erobern? Fanden die Nazis absolut geil, also starteten sie ein irres Programm, um noch viel mehr rumzukoogen: Sie wollten die erste Reihe der nordfriesischen Inseln ans Festland andocken. Dann sähe die Küste heute völlig anders aus!
Einerseits rühmten sie sich, Deutschland würde so völlig friedlich ganz neuen Lebensraum erobern (was ja auch irgendwie stimmt). Andererseits verglichen sie immer und andauernd Koog und Krieg, Soldaten und Bauern, Gewehre und Schaufeln, das feindliche Meer und die asiatischen Völker. Sogar Heydrich nahm bei einer Rede in Prag Bezug auf die Landgewinnung in Schleswig-Holstein. Gauleiter Hinrich Lohse und sein Team, das in Friedenszeiten die Besiedelung der neuen Kooge koordiniert hatte, machte später ähnliches in den eroberten Gebieten Osteuropas.
Dass es bis zur Deichreife 15 Jahre dauert, konnte freilich auch der Führer nicht ändern. Also nahmen die Nazis erstmal einen Koog, der eh schon fast fertig war, schmückten sich mit seinem Erfolg und nannten ihn Adolf-Hitler-Koog. (Aus Gründen heißt der heute Dieksanderkoog.) Zur Einweihung kam der Namensgeber (nein, nicht der Herr Dieksander) persönlich vorbei. Regimetreue Bauern in der gewünschten Optik
, die rein zufällig mit den Entscheidungsträgern verschwägert waren, bekamen Bauernhöfe auf dem neuen Land. Falls ihr Geld nicht reichte, half der Staat nach.
Aber selbst diese erlesenen Erbbauern waren keinesfalls vor den Launen des Regimes geschützt und konnten durchaus im Konzentrationslager landen oder von den Nachbarn denunziert werden, weil sie angeblich abgetrieben hatten. Heile Welt herrschte hier nur in der Presse.
Ursprünglich sollte der Koog eine Kirche bekommen, stattdessen entstand eine Neulandhalle. Eine Glocke bimmelte zu germanischen Veranstaltungen wie der Sonnenwendfeier, dem Führergeburtstag oder dem Muttertag. Statt eines Altars schmückt ein kunstvoller Ofen die Rückwand, die bunten Fenster zeigen Wappen aus der Region.
Diese Ersatzkirche gehörte später tatsächlich der Kirche, hier fanden evangelische Kinderfreizeiten statt. Bis irgendjemandem auffiel, was das für ein Gebäude das ist, und er doch lieber ein Museum Gedenkstätte Erinnerungsort daraus machte. Ein Erinnerungsort unterscheidet sich von einer Gedenkstätte dadurch, dass man außenrum irre große Buchstaben wie VOLK, RAUM, LEBEN und UND aufstellt, wo dann alle Infos und Bilder zum Lesen und Aufklappen raufgepappt werden.
Hitlers Bauern beäugten die Fischer in Friedrichskoog misstrauisch, und umgekehrt ebenso, schließlich konnten die Gruppen kaum unterschiedlicher sein: Fischer waren traditionell eher links, und sie sahen das Meer als Ernährer an, nicht als Feind.
In Friedrichskoog-Spitze mündet die Elbe richtig in die Nordsee, also, von der anderen Seite. (Puh, das war doch ein ganzes Stück weiter als von Cuxhaven zur Kugelbake.) Eine Mündung, die, wie ich jetzt weiß, auf dieser Seite vom Menschen komplett neu geformt wurde. Aus dem freundlichen, aber stillen Seebad ragt ein Turm über den Deich - leider nur für die Badeaufsicht und nicht für die Allgemeinheit.
Höhepunkt des Tages war das niedliche Seebad Büsum, das sogar auf seinem Marktplatz Strandkörbe aufstellt. Ein Springbrunnen ist schließlich fast dasselbe wie Meereswellen.
Die Büsumer Kirche erinnert an eine urige Höhle, in der jemand christliche Schnörkel an die Wände gehängt hat. Das Bronzetaufbecken wurde angeblich aus der alten Kirche auf der Insel Pellworm geklaut. Das Veranstaltungsangebot der Kirchgemeinde umfasst unter anderem
Schlager mit Gott. Oh Gott, nichts wie raus hier!
Der Büsumer Hafen bringt die Gäste unter anderem nach
Helgoland. Zumindest die Gäste, die bereit sind, auf einer grauen Parkplatzplatte ohne jede Ablenkung zu warten, bis sie endlich aufs Schiff dürfen, während sich die Stadt so nah und doch so fern irgendwo auf der anderen Seite des Hafenkanals erstreckt.
Der Hafen ist richtig bombensicher geschützt. Jedes Schiff muss durch einen endlosen grauen Durchgang im Deich tuckern. Es sieht aus wie eine Schleuse, nur ohne Höhenunterschied, und die Tore klappen nur bei Sturm zu. Ein seltsames Gefühl, mittendrin zu stecken, während sich das Boot hindurchzwängt.
Das Meer ist wirklich nicht so leicht zu finden, auch nicht per Rad aus der Innenstadt. Wo ist es denn nun? Zuerst kommt ein historischer Hafenkanal, noch eine Reihe Hotels,...
...das Schwimmbad
Meerzeit gibt einen dezenten Hinweis, den Deich hoch, und siehe da - der erste richtige Strand in Schleswig-Holstein, welcher unmerklich in die Wattfläche übergeht.
Gerade stand mir der Sinn aber nicht nach dem Meer, sondern eher danach, mich auf die Sauna auf dem Dach zu verziehen und von dort zu beobachten, wie frierende Wattwanderer über die Schlammfläche irren.
Genau wie in Niedersachsen scheint ein richtiger Strand nur punktuell vorzukommen.
Und genau wie in Niedersachsen folgt der Nordseeradweg deshalb oft nicht direkt der Küste, sondern unternimmt Umwege, Abkürzungen oder Ausflüge zu mehr oder weniger interessanten Orten im Hinterland.
Und genau wie in Niedersachsen werde ich diese Abstecher meistens weglassen, aber einen nehme ich schon noch mit. Schließlich ist der Radweg dahin so gut ausgebaut und folgt schnurgerade der Straße.
Nun, eventuell war es ein wenig spät für den Abstecher, denn in Wesselburen waren bereits sämtliche Türen verschlossen, der Brunnen ausgeknipst und die Bürgersteige hochgeklappt. Tja, dann halt nicht.
Wesselburen wurde zum ersten Mal 1281 urkundlich erwähnt, und ich weiß, bei so einem Satz pennen direkt alle weg. Dabei ist die Urkunde gar nicht mal so langweilig: Es werden nicht irgendwelche Standardstadtrechte verliehen, sondern die Hamburger und Dithmarscher einigten sich im Vertrag, sich endlich nicht mehr gegenseitig die Schiffe wegzukapern.
Zwar ist Wesselburen längst nicht so groß wie Köln, aber in einer Hinsicht kann diese Stadt absolut mit der Rheinmetropole konkurrieren: Dauerhaft erfolgreiche Youtuber.
Wesselburen ist der Wohnort eines deutschen Künstlers, dessen großer Zyklus meinen Familienstammbaum vom Kind bis zur Seniorin begeistert. Seine Karriere begann schon mit 13 Jahren. Schließlich war die Familie nicht gerade wohlhabend und er musste anfangs (jetzt ohne Witz) wie Harry Potter in einer Art Schrank unter der Treppe schlafen. Geboren wurde er 1813 als dänischer Untertan. Als der Junge ein Teenager und das Gebiet wieder deutsch war, stieg der Junge vom Laufburschen des Vogts zum Schreiber auf und konnte dessen Bibliothek benutzen. Kurz darauf entstanden die ersten Gedichte, und in seiner Scheune baute er ein Theater auf. Kein Wunder, dass er später unsterblich werden sollte wegen seiner Liebesgedichte und Maria Magdalena - ein Drama über eine schwangere Selbstmörderin und zugleich das letzte deutsche bürgerliche Trauerspiel. Sein Name war Friedrich Hebbel. Moment, was?
Laaangweilig, mit so was unterhält man doch nicht drei Generationen auf einmal! Wie gut konnte Hebbel zwei norddeutsche Seniorinnen gleichzeitig spielen, die am Gartenzaun über tagespolitische Themen diskutieren? So gewinnt man Jung und Alt gleichzeitig, und das gelang bislang nur Freshtorge.
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Zurück an der Küste leuchtet mir ein gewaltiges Bauwerk entgegen. Schleswig-Holstein ist zu schmal für Flüsse vom Kaliber der Elbe oder Weser, aber die Eider ist auch noch recht breit. Jedenfalls breit genug, dass es fatal wäre, würde eine Sturmflut auf diesem Weg Schleswig-Holstein penetrieren.
Deswegen kann die Eider mit dicken Betonteilen komplett zugeklappt werden. Während sich die Autofahrer in einen Tunnel verziehen, kann ich obendrüber radeln. Es ist einsam, und kalter Wind pfeift mir entgegen, als bräuchte ich eine am eigenen Leib spürbare Erklärung, wieso diese Konstruktion nötig ist. Nur oben im hell erleuchteten Kontrollturm sitzt noch der Nachtdienst und guckt wachsam, ob der Wind damit droht, mehr zu machen, als nur meine Ohren schockzufrosten.
Hinter der Eider, bei Katingsiel, beginnt eine größere Fläche aus Seen und Weiden, hinter der Schafweide auch mit Wäldern und Naturschutzgebieten. Und hier schiebe ich mein Rad auf einen holprigen Kiespfad.
Meine Scheinwerferlicht fällt auf die Weidezäune, und in der Dunkelheit starren mir die Gesichter von etwa hundert Kühen entgegen. Sie alle haben sich versammelt, säumen links und rechts den Weg und starren mich an. Die merkwürdigste Ehrengarde, die ich je hatte (nicht, dass ich viele gehabt hätte).
In einem Land, das derart arm an Wäldern ist, sind Schutzhütten jeder Art die beste Möglichkeit für einen geschützten wilden Schlafplatz. Am Ende des Weges erwartete mich ein merkwürdiger Aussichtsturm mit drei Etagen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Im Erdgeschoss schützt nur eine lückenhafte Bretterwand, bei der es sich, wie ich sogleich feststellte, eher um den komfortabelsten Windkanal Schleswig-Holsteins zu handeln scheint. In der Mitte ist alles komplett zu und die Fenster öffneten sich nur, wenn ich zig verschiedene Riegel zur Seite geschoben hatte. Und ganz oben entschied nicht etwa die Aussicht, sondern die Windrichtung, in welchem Winkel der x-förmigen Bretterwände ich Zuflucht suchte.
Wirklich überraschend ist nun, dass ich in diesem Windkanal total gut schlief. So gut, dass ich am nächsten Morgen den Handywecker überhörte. Naja, vielleicht hat ihn auch einfach der Wind übertönt.
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