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11 November 2023

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

Harz XIIIa: Der unterirdische Süden


"Boah, was will der Typ denn jetzt schon wieder im Harz?", denken Sie vielleicht. Dieses Gebirge lässt mich nicht los. Heute steige ich in Netzkater aus. Das ist kein deutscher Katzenvideo-Star, sondern ein Bahnhof bei Ilfeld. Mit dabei ist meine Familie, welche die Liebe zum Harz teilt. Die Schmalspurbahn hält direkt am heutigen Ziel: Einer unterirdischen Fahrraddraisine. Oder? So ähnlich hatte man es uns jedenfalls erzählt.
Im Bahnhof befindet sich ein Wirtshaus im originalen DDR-Look (nur ohne die entsprechenden Wartezeiten). Außer uns befanden sich dort noch zwei Seniorinnen beim Kaffeekränzchen. Sie unterhielten sich jedoch nicht, sondern starrten nur auf ihre Smartphones und fotografierten ihr Essen. Das Alter von heute!

Zur Jäger-Dekoration gehört auch das Gemälde E-Zigarette rauchender Hirsch (so unsere Mutter).

Gleich neben dem schmalen Gleis der Schmalspurbahn laufen noch schmalere Gleise kreuz und quer durch die Gegend, Schuppen und Loren stehen rum. Das gehört alles zum Rabensteiner Stollen, einem kleineren, aber beliebten Harzer Besucherbergwerk. Man bucht die Führungen online, aber das Museum ist eher chillig organisiert, legt bei hohem Andrang spontan Extraführungen ein und verschiebt die angemeldeten Gäste auf Wunsch auch spontan in solch eine frühere Führung.
Und die beginnt mit einer skurrilen Bahnfahrt. Wir alle mussten uns in die Mini-Wagen rittlings auf eine Holzbank setzen und ducken. Über uns befand sich eine Art Dreieck aus gelben Stangen, und trotz Helm darf niemand Kopf oder Arme über diese Stangen hinausstrecken. In dieser nur leicht entwürdigenden Pose tuckerten wir in einem ausladenden Bogen durchs Außengelände...

...und verschwanden plötzlich in einem unauffälligen Tunneleingang.

Das ist dann auch der Moment, ab dem die Regel der gelben Stangen komplett Sinn ergibt, denn der Tunnel ist eng. Und außerdem super. Wir zuckelten immer wieder durch beleuchtete Räume und kleine Bergbau-Szenerien, dann rasselten wir wieder durch weitgehende Dunkelheit. Und noch ein Raum, noch eine Verzweigung... die Fahrt ist abwechslungsreich und dauert richtig lange, gefühlt viel länger als die kurze Grubenbahn in Goslar (bei der man außerdem nix sieht).


Schließlich mussten wir aber doch noch ein paar Schritte zu Fuß zurücklegen. Aber nicht viele, dann holte unser Führer die nächste Attraktion aus der Ecke: Das Schienenfahrrad. Dieses weiße Metallgefährt wiegt etwa 30 Kilo und hat zwei Sattel, aber nur ein Paar Pedale.

Der Vordermann lässt sich bequem fahren und stellt seine Füße solange in eine eckige Metallwanne.
Aber dann die ernüchternde Botschaft: Niemand, der größer ist als unser älterer Bergwerksführer, darf fahren, die Decke ist einfach zu niedrig. (Dabei wurden die Gänge beim Umbau in ein Besucherbergwerk schon deutlich vergrößert.) Er hatte die wenigen geeigneten Kandidaten bereits per Augenmaß herausgesiebt. Und nachdem ich auch ohne Rad die halbe Strecke gebückt gehen musste und meinem Helm trotzdem ein paar neue Schrammen beschert hatte, war ich wohl kaum in der Position zu widersprechen.
Was hat das Schienenfahrrad mit einem untergehenden Schiff gemeinsam? Frauen und Kinder sind klar im Vorteil!
So bleibt mir also nur, widerzugeben, was mein kleiner Bruder über die Fahrt gesagt hat. Er ließ sich auf dem Vordersitz herumkutschieren und fand die Fußwanne nicht sonderlich bequem, erkannte aber: Hätte er irgendein Körperteil ausgestreckt, wäre es direkt an einer Felswand entlanggeschrammt. Trotzdem schien es sich um eine witzige Fahrt zu handeln, und allzu anstrengend wirkte es auch nicht, das vergleichsweise schwere Fahrrad in Ganz zu setzen.

Nach wenigen Metern gerieten die Radfahrer aus dem Blickfeld, kehrten aber kurz darauf schon wieder zurück - nun fuhr das Schienenfahrzeug auf einmal in die entgegengesetzte Richtung. Wie das? Der Gang gabelt sich, und die Schienen bilden eine Wendeschleife, welche die Radler ganz automatisch auf den korrekten Rückweg schickt.
Um das Rad dann wiederum für das nächste Paar zu wenden, legte unser Bergwerksführer einfach fix ein rostiges Metallteil auf die Gleise, auf dem er das Fahrrad in einer Sekunde umdrehen konnte.

Alle, die den Dialekt des Bergwerkführers entschlüsseln konnten, lernten, was denn nun eigentlich aus dem Rabensteiner Stollen kam: Kohle. Aber nicht für den großen Markt, sondern ganz ohne Gewinnstreben, nur damit die Anwohner vor Ort ihre Häuser im Winter knapp über dem Gefrierpunkt halten konnten. Die Arbeitsbedingungen waren dadurch aber auch nicht besser, im Gegenteil, man wurde nicht mal bezahlt für die 12-Stunden-Schichten.
In den Stollen war praktisch nur Kriechen angesagt, was man heute aber nur bei Sonderführungen macht. Es ist schon tückisch genug, eine große gebückte Gruppe durch die vergrößerten Gänge zu lotsen und ihnen zu sagen, wo sie sich hinstellen sollen, damit jeder etwas hört und sieht.

Die Bergleute klopften mit Schlägel und Eisen (hinten rechts im Bild), diese Dinger, die man auch in Zeiten von Dynamit noch auf allen Bergwerks-Logos sieht - unzeitgemäß, aber als Symbol weiterlebend (wie das Telefonhörersymbol, wenn man mit einem Smartphone anruft).
Ihre Jungen mussten die Kohle in Säcken rausschleifen. Immerhin waren die Harzer nicht ganz so arm dran wie die Kollegen in den Saalfelder Feengrotten, denn sie hatten richtige Kerzen. Also halbwegs vernünftiges Licht. Oder?

Naja. Um mal zu sehen, wie vernünftig dieses Licht wirklich ist, wurden wir alle einen langen, steilen Gang runtergeschickt. Und alle elektrischen Lampen waren auf ein dezentes Glühen runtergedimmt, das angeblich dem Licht einer damaligen Kerze entsprach.
Heißt: Ich konnte in dem orangen Dimmerlicht erkennen, dass der Felsgang irgendwo da vorne im Großen und Ganzen ungefähr geradeaus weiterging. Meistens. Das war's.
Bonkrz.
Bonkrz.
Bonkrz.
Trotz ständigen Bückens trug mein Helm einen Kratzer nach dem anderen davon. Nun, von oben war ich wenigstens geschützt. Aber was, wenn die Felswand plötzlich so einen großen Vorsprung bildet wie vorhin und der mich in der Finsternis volle Kanne in die Seite trifft? Misstrauisch tastete ich nach den Wänden und senkte dadurch mein Tempo auf das eines kränklichen Jungen im Mittelalter, der einen Sack Kohle nach dem anderen ans Tageslicht schleppen muss.


Erst später kam der Strom in den Rabensteiner Stollen, und für ganz kurze Zeit wurde die Kohle doch noch richtig unternehmerisch für den Markt rausgeholt. Alle Geräte funktionieren per Druckluft über Mini-Generatoren, sogar in jeder einzelnen elektrischen Lampe steckt bis heute einer. Und auch in dieser Bohrmaschine, von der sich Freiwillige einmal durchschütteln lassen durften.


Zu dieser Zeit tauchten dann auch kleine Gleise und Loren auf. (Die heutige Grubenbahn wurde so aber erst 2009 für die Touristen eingebaut.) Falls sich so eine tonnenschwere Lore löste und den Gang runterschoss, wurde sie von einem Metallzapfen in den Gleisen automatisch gestoppt. Früher ein Lebensretter, heute eine drohende Stolperfalle beim Wiederaufstieg zur kleinen, unauffälligen Gittertür ans Tageslicht.

Eine Sache änderte sich auch in der neuen Zeit nicht: Das traditionelle Bergmannsklo, dessen Benutzung hier authentisch nachgebildet wird.
Die Zipfelmütze ist mit Stroh ausgestopft und war damals der leisere Vorläufer zum ständig Bonkrz machenden Plastikhelm.

Wie kann ich dieses Bergwerk also abschließend beurteilen? Das kommt darauf an, was man hier sucht.
Als Grubenbahnfahrt: Das Nonplusultra, wesentlich besser als in Goslar.
Als Bergwerksführung: Nett, kommt aber nicht an Goslar oder Merkers heran.
Als Radtour: Allenfalls für kleine Menschen zu empfehlen.

09 November 2023

Harz: Von Sangerhausen nach Niedersachswerfen

Harz VII: Der Ostsüdosten (mir gehen die Himmelsrichtungen aus)

Auf zum letzten Akt! Nur noch 47 Kilometer sind übrig, aber zuu leicht macht es mir der Weg nicht. Erstmal muss ich wieder bergauf, und als es runtergeht, kommt alle paar Meter so eine komische Bremsschwelle oder Rinne für Regenwasser, keine Ahnung.
Rumms!
Und dann: Schrapprupprupprupp... Diesen Schwellen gelang es zielsicher, mein hinteres Schutzblech nervtötend ans Rad zu pressen, sodass mein Fahrzeug Geräusche von sich gab wie ein grenzdebiles Moped. Soll ich jetzt alle paar Minuten absteigen, allen Schwung verlieren und das Blech richten, oder soll ich meinen Mantel abschleifen lassen und diese Geräuschkulisse ertragen?
Wieder einmal taucht der Harzrundweg in die Berge ein, diesmal aber nur ein kleines Stückchen. Hinter den ersten Kuppen ist der Harzrand noch ganz gut zu erkennen. Dort erstreckt sich das flache Tal der Helme, und dahinter...

...gleich das nächste Gebirg...chen. Der obskure Name Kyffhäuser beschreibt einen kleinen Klecks Mittelgebirge, den man im Prinzip im Vorbeifahren mit einem Blick überschauen kann. Auf dem höchsten Berg steht ein Fernsehturm (rechts), und auf dem, äh, anderen Berg das drittgrößte Denkmal Deutschlands (links). Es handelt sich um eins dieser steinernen Riesendinger für Kaiser Wilhelm I., wie auch an der Porta Westfalica oder der Wacht am Rhein.
Ganz nah dran befindet sich übrigens auch schon Artern an der Unstrut.

Hoch über den Niederungen des Harzvorlands zieht eine Landstraße über die Felder, inzwischen zum Glück ohne Bremsschwellen. Das Seltsame war: Auf den echten Straßen herrschte stets gähnende Leere, während auf den kleinen Feldwegen andauernd ein Sportwagen an mir vorbeiwollte.
Aber wo sind denn nun endlich die Karstfelsen? Ich müsste doch jetzt schon im Biosphärenreservat Gipskarstlandschaft Questenberg sein.

Diese Scheune in Hainrode passt nun schon über 150 Jahre lang auf Heu, Getreide und Stroh auf. Sie hat die Kollektivierung im Sozialismus und dann wieder die Privatisierung heil überstanden. Genau genommen wurde sie erst durch die Privatisierung so richtig heil, denn in den 90ern folgte erstmal eine umfassende Sanierung.

Ich knirschte über den Kies (ist mir recht, Hauptsache keine Schwellen mehr) ins Tal des Dinsterbachs. Ein Schild erklärte mir ganz genau, welche Gesteine unter mir so im Harz drinstecken. Leider ist die Erklärung - im Gegensatz zu den Gesteinen - sehr trocken. Aus dem Boden guckt ein extrem kleiner Eingang zu einem Stollen. Da sollte Kupfer abgebaut werden, also quasi. Eigentlich war das rote Gold viel zu gering konzentriert und wäre den Aufwand gar nicht wert gewesen. Der kurze Stummelstollen sollte einfach nur beweisen, dass theoretisch möglich ist, in diesem instabilen Tal einen 100 Meter langen Stollen zu bauen. Einfach, weil man es kann. Und damit war er erfolgreich. Aber da es nichts abzubauen gab, war die Erkenntnis weitgehend nutzlos. Vielleicht war der Stollen einfach die Außenwette bei einer Ausgabe von Wetten, dass im 19. Jahrhundert. Immerhin freuen sich Amphibien und Fledermäuse über den damals geschaffenen ländlichen Wohnraum.

Daneben plätschert der Dimsterbach unter dem Waldweg hindurch und dann irgendwo links am Rande des Tals.
Noch.
Denn hier kann sich schnell mal was ändern. Der Boden ist voller Gips und Kalk, sodass ständig etwas Wasser darin versickert. Ein Teil des Dimsterbachs kam früher im Nessetal raus, inzwischen vermutlich im Helmetal, bei anderen Bächen ist es nach wie vor ein ungelöstes Rätsel, wo das Versickerte überhaupt landet.

Bei so viel wässrigen Löchern passiert es ständig, dass etwas abbricht. Immer wieder löst sich Gips auf, bildet Hohlräume, verstopft den Bach, vertieft den Bach oder leitet das Wasser um.
Kurz darauf wies mich ein Wanderwegweiser zur Dinsterbachschwinde. Es sah nicht weit aus, also wanderte ich mal eben kurz über die Wiese. Die mir an ihrem Ende überraschend das gab, worauf ich schon seit der letzten Etappe gewartet habe: Gipsfelsen. Na endlich! Weiß und schartig guckt der Karst zwischen dem Herbstlaub hervor. Das Weiß hat einen Stich ins Gräuliche, es ist nicht so rein wie der Gips, der später noch im Südharz zu sehen ist. Die Klippen sind höher, als es zunächst den Anschein hat, aber der Blick wird immer wieder von den Bäumen unterbrochen und verdeckt. Tja, näher heran traue ich mich trotzdem nicht. Der Pfad endet auf einer kleinen Fläche, und tief unter mir plätschert das unschuldige kleine Bächlein. Unschuldig? Von wegen, hier gilt: Stille Wasser sind lebensgefährlich!
Einst befand sich eine Höhle in diesen Felsen. Ein Höhlenforscher namens Wolfgang Graf widmete sein Leben ihrer Erforschung, die Höhle konnte diese Liebe aber nicht so richtig erwidern und stürzte über seinem Kopf zusammen. Gerade noch rechtzeitig wurde der Mann ausgegraben und beendete seine toxische Beziehung zum Gestein.
2013 dann brach ein Hohlraum genau unter dem Bach zusammen, und es entstand auf einmal ein riesiges, kreisrundes Wasserbecken von tiefschwarzer Farbe. Nach wenigen Wochen hatte der Bach aber wieder alles zugemacht und das Tal sah aus wie vorher.

Am Wegesrand entdeckte ich gleich das nächste Einsturzloch, eine sogenannte Doline. Für gewöhnlich läuft das Regen- und Bachwasser hinein und verschwindet im Karst. Ab und zu kommt aber so viel Wasser, dass das Schlupfloch nicht alles schlucken kann, und das Becken füllt sich rasant. Durch den häufigeren Starkregen in den nächsten Jahrzehnten werden wir also vielleicht öfter in den Genuss dieses spontanen Sees kommen. Ich werde allerdings den Teufel tun und mich bei solchem Extremwetter ausgerechnet in diesem instabilen Tal aufhalten.

Zentrum und Auslaugkessel dieser höchst zerbrechlichen Landschaft ist Questenberg. Okay, die erste Straße sieht erstmal nicht so besonders aus... aber warte mal, was ragt denn da hinten über den Dächern auf? Na also, so habe ich mir das vorgestellt mit der Gipskarstlandschaft!

Vor dem Rathaus hebt der Roland von Questenberg sein Schwert und reckt dem Volk stolz seine kleine Wampe entgegen. Solche einen Roland kannte ich bisher nur aus Bremen, aber anscheinend wurden sie in Mitteldeutschland einst in vielen Orten aufgestellt. Sie wiesen auf das Marktrecht und die niedere eigene Gerichtsbarkeit von Questenberg hin, und zwar ganz speziell darauf, dass die Gerichte hier den Sachsenspiegel benutzen.
Das wäre doch auch mal eine Idee für die heutige Justiz, jedem Gericht sein eigenes buntes Maskottchen zu geben, statt immer nur dieselbe Dame mit Waage. Vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt trägt die Justizia eine Arbeiter-Schiebermütze, das Bundesfinanzgericht kann sich bei der Statue des Steuerzahlers in Quakenbrück Inspiration holen, das Bundesverfassungsgericht bei diesem französischen Gemälde Die Freiheit führt das Volk, und die kleinen Amtsgerichte geben ihren Figuren landestypische Trachten (in Bayern ein Dirndl, in Frankfurt Anzug, in Mecklenburg FKK, in Berlin eine Punkfrisur).

Ein Haus würde in dieser Stadt im Auslaugkessel eher nicht bauen, aber für Wanderausflüge im Harz ist Questenberg ein echter Geheimtipp. Im Buch Vergessene Pfade hatte ich zum Beispiel gelesen, dass es hier irgendwo periodisch erscheinende Seen gibt. So einen wollte ich unbedingt finden, ach nein, warte, diese Quest habe ich längst abgeschlossen. Also suchte ich mir eine andere Questenberge Quest, die da lautete: Ich will da hoch.
Mein Spaziergang nach oben begann an den Gletschertöpfen. Das Wasser hat skurrile Löcher in den Fels gespült. Ein ebenso skurriler Privatmann namens August Schröter setzte sich an dieser Stelle eine anspruchsvolle Quest: Er wollte die Questenhöhle freilegen und sich darin wohnlich einrichten. Davor baute auch noch ein Haus, und als er gerade den Grundstein legte, entdeckte er die Gletschertöpfe. Die fand er faszinierend, kochen tat er dann aber doch lieber in der Hexenküche (einem der Höhlenräume). 1944 stürzte die Höhle leider wieder ein.

Habe ich Spaziergang gesagt? Von der Entfernung mag das stimmen, aber was die Höhenmeter und die Schwierigkeit angeht, ist das schon eine keine Bergwanderung. Unter den Blättern lauert rutschiger Schlamm, der sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich die Treppe in die entgegengesetzte Richtung wieder verlassen würde - und zwar mit einem Tempo, das deutlich über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegt. Das Geländer war keine große Hilfe. Zum einen neigte es sich besorgniserregend weit nach außen, wenn ich mich darauf stützte, und zum anderen lagen zwischen mir und dem Geländer gerade die schlimmsten Schlammstellen.

Trotzdem bin ich oben angekommen, und das war die Verschmutzung meiner Schuhe allemal wert. Willkommen auf dem Gipfel der Queste! (Wieso packen die Questenberger das Wort Berg in den Namen ihrer Stadt, aber nicht in den Namen ihres Berges?) Heidekraut bedeckt den weißgrauen Stein, und als Gipfelkreuz fungiert eine rätselhafte Konstruktion aus Holz, auf dem Kränze hängen, welche die Zahl 101 bilden.
"Mamaa, kann ich hier hochklettern?", fragte ein Mädchen. Ui. Was ich bei Walkenried noch als Witz gebloggt hatte, wird hier Realität: Kinder, auf die ein Kletterbaum derart große Anziehungskraft ausübt, dass der Abgrund daneben plötzlich unsichtbar wird.
Als sie eine Abfuhr erhielt, versuchte das Kind es mit einem recht überraschenden Argument: "Aber wenn man erwachsen ist, darf man hier raufklettern." Dabei blieb offen, woher sie diese Information überhaupt hatte, und vor allem, für wie alt genau sich dieses Kind hielt.
Der Ausblick ist großartig, das T-förmige Tal wird auf allen Seiten eingerahmt von diesen weißgrauen Klippen. Wer mehr davon entdecken will, für den führt hier ein Karstwanderweg weiter.

Auf der gegenüberliegenden Seite ist die Burgruine Questenberg zu erkennen. Neben unförmigen Mauerstücken ist auch noch ein einsamer Torbogen übrig.

Anschließend blieb mir nur noch die Restquest, welche darin bestand, den Harz vollständig abzuschließen. In Breitungen wurde der Kupferbergbau etwas ernsthafter betrieben. Drei Hüttenmeister scheiterten daran, das Kupfer zu finden, doch Konrad Klermond schaffte es und hielt im 18. Jahrhundert immerhin 60 Jahre lang durch. Die heißen Kupferscheiben wurden in so einen Löschtrog runtergekühlt.
Als die Breitunger die 250 Jahre alte Steinschale entdeckten, dachten sie zuerst, das sei eine Viehtränke oder ein Taufbecken. ("Ich lösche dich im Namen des Kupfers, des Tones und des heiligen Erzes, pffftsch!")
Nun steht sie am Ortseingang zusammen mit einem uralten Grenzstein, mit dem die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt ihren Wald von dem der Gemeinde trennten. Also keine soo wichtige Grenze, aber sie kündigt schon mal an, dass gleich eine weitere Grenze folgt.

Tuut! Nanu, bin ich schon so kurz vorm Ziel? Hier fahren doch noch gar keine Züge.
Doch, aber nur Güterzüge. Nach all dem Auf und Ab erreichte ich das Tal der Thyra, wo ich endlich mal zügig und flach nach Norden rasen konnte, immer neben den Gleisen und der Straße entlang.
Links guckt noch mehr Gips aus dem Wald, diesmal wird er aber professionell abgebaut, im Industriegebiet zu Gipsarmen, Gipsbeinen oder sonstwas verwurstet und anschließend per Bahn abtransportiert.

Dann wurde es noch einmal eng, und ich zwängte mich durch Täler, wo... huch, aufpassen, ich sollte lieber mal rechts auf die kleine Brücke rauf. Hin und wieder kamen mir ältere Spaziergängerpaare entgegen. Oder war das dasselbe Paar wie vorhin? Gar nicht so leicht zu sagen, denn im Vorbeifahren unterscheiden sie sich hauptsächlich durch die Farbe ihrer Funktionsjacke.
Enttäuscht zischte ich vorbei am Rosenteich, der seinem Namen überhaupt nicht gerecht wurde - so eine rosenlose Unverschämtheit.

Letzter Zwischenstopp: Neustadt im Harz. (Oder am Harz? Die schreiben das alle nur mit Schrägstrich, also Neustadt/Harz.) Das Alte Tor zeigt, dass diese Stadt aus allen möglichen Steinsorten zusammengepuzzelt wurde. 

Rhyolith, Pyolith, Abendlied... Schließlich liegt Neustadt auf der Grenze zwischen den Gipskarstlandschaften und dem festen Gestein im Harz. Aber die Neustädter dachten sich "Wenn schon, denn schon" und importierten auch noch so fancy Zeug wie Alabaster, um ihre Steinsammlung weiter zu vergrößern. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Die Kirche ist jederzeit geöffnet, jedoch ohne Licht. Trotz größtmöglicher Kerzenleuchter bleibt sie in Düsternis gehüllt. Die Kirchgemeinde spart Energie, und nach Einbruch der Dunkelheit wird die Besichtigung zum besonderen Abenteuer.

Auf der letzten Straße steuerte ich die letzten (und größten) Gipsklippen an, die vollständig der Industrie gehören, und dann stand ich auch schon am Bahnhof Niedersachswerfen. Fast rechtzeitig, bevor die ersten Tropfen fielen. Schau an, das ging ja doch ziemlich schnell.
Die Etappen von Niedersachswerfen nach Bad Sachsa sowie von Bad Sachsa nach Herzberg bin ich schon vor Jahren gefahren. Das heißt, ich habe mein erstes Gebirge umrundet. Ein zweites wird wohl erst mal nicht dazukommen - komplette Gebirgsrundwege für Radfahrer sind wohl einfach nicht so verbreitet und gut ausgebaut.


08 November 2023

Harz: Von Thale nach Sangerhausen

Harz VI: Der Osten

Heute liegt eine weite Strecke vor mir, also hoffen wir, dass mir niemand Steine in den Weg legt. Nicht einmal, um die Festigkeit einer Brücke zu testen.

Klar, heute gab es wieder die üblichen Feldstraßen und straßenbegleitenden Radwege. Aber die Strecke überraschte mich auch mit einer Bahntrasse, die meine Karte noch nicht kannte.
Anscheinend hatte die Harzer Schmalspurbahn in Gernrode mal eine Abzweigung, die nicht in den Harz reinführte, sondern weiter außen lang. Und dort hat jemand perfekt sitzende Betonplatten draufgelegt, sodass ich bequem durch orangefarbene Blättertunnel flitzen konnte. Tümpel dümpelten im Wald vor sich hin, und davor besiedelten Kleingärtner die letzte Hügelkette.

Der Bahnhof Ballenstedt-West wurde vom darin befindlichen Ehepaar liebevoll saniert. Eigentlich sollte ich da schon längst zum Schloss Ballenstedt abgebogen sein, aber Schlösser und Burgen sehe ich noch genug, Bahnhöfe dagegen sind Mangelware.

Zugegeben, außer Schloss und Bahnhof scheint Ballenstedt auch nicht viel zu haben. Die funktionale Stadt machte mir klar, dass der supertouristische Harz nun vorbei ist. Es gibt zwar immer noch verstreute Punkte, die viele Besucher anziehen, aber sie reichen nicht aus, dass sich eine Stadt wie Wernigerode, Bad Harzburg oder sogar Thale herausbilden würde.

Selbst der Bismarckturm in den Bergen erinnerte mich aus der Ferne eher an einen großgeratenen Trafoturm.

Aber nach ein paar Kilometern kommt sogar eine noch kleinere, stillere Variante von Ballenstedt. (Obwohl in Meisdorf immerhin etwas lebt - die Rehe im Wildgehege vor dem Schloss.)
Und dort wäre auch schon der nächste Harzfluss, die Selke. In ihrem Tal habe ich einen Ausflug zur Burg Falkenstein gemacht, die sich zu Recht als die Burg im Harz bewirbt und besonders für Juristen und Filmfans interessant ist. Alles bisher waren ja entweder Schlösser oder Ruinen.


Der Harzrundweg wellte sich immer mehr, und ich steuerte auf den Hügel mit der Konradsburg zu. Schau an, Falkenstein ist also doch nicht die Burg im Harz. Hier kommt die Familie vom Falkenstein ursprünglich her, damals natürlich noch mit anderem Namen. Die Sage sagt, Eugeno von Konradsburg hat einen adligen Kollegen ermordet (bei einem Bauern hätte es niemanden gejuckt), und zur Strafe sollte der Tatort in ein Kloster umgewandelt werden, weshalb die Familie eine Ersatzburg brauchte. (Man stelle sich vor, die würden das bei jedem Tatort machen. Dann müsste man die Täter auch als Mönche zwangsverpflichten, sonst wäre der Personalmangel der Klöster größer als aktuell in allen anderen Branchen.) Die Historiker sagen dagegen, dass sich die Familie den Falkenstein als Zweitburg gebaut hatten, die dann nach und nach die Konradsburg als Hauptburg ablöste. Irgendwann zog dann ein Benediktinerkloster in die Konradsburg, und heute befindet sich darin eine Galerie.

Die Konradsburg bildet im Prinzip nordöstliche Ecke vom Harz. Das ist neu: Im Westen hatte das Gebirge keine Ecken, sondern war völlig abgerundet. Der Radweg Deutsche Einheit und der R1 verabschieden sich hier nach Norden in Richtung Harzer Seenland und zur Saale.

Zurück bleibt nur der einsame Harzrundweg, der sich nun der einsamsten, unbekanntesten Ecke vom Harz zuwendet. Im Osten ist alles völlig anders. Das Gebirge hat kein eindeutiges Ende, sondern läuft immer weiter in ein welliges Hügelland aus. Etwas eindeutiger kann man sagen, wo der Wald aufhört, obwohl auch dessen Rand ziemlich ausgefranst aussieht. Der Harzrundweg ist davon völlig irritiert und schlägt immer wieder endlose Bögen und Schleifen, welche die Strecke wahnsinnig verlängern. Ich bin auf den Jakobsweg abgebogen und habe mir einiges davon abgekürzt - in dieser seltsamen Gegend sind die Wanderwege manchmal besser zum Radfahren geeignet als die Radwege.
Weiße Dörfchen liegen verstreut zwischen den Rapsfeldern. Irgendwo hinter diesen Wellen sollen sich rätselhafte kleine Städte wie Hettstedt, Mansfeld und Lutherstadt Eisleben befinden, wo es theoretisch Bahnhöfe gibt, aber laut DB-Navigator gerade wegen Bauarbeiten nichts hinfährt. Tja, dann sehe ich euch eben nicht, denn an einem Tag schaffe es nicht dahin und zurück.

In einem Punkt hat der Harzrundweg aber recht: Wenn ich eh nicht die Städte besuche, hat es auch wenig Sinn, den ganzen Tag durch die monotonen Rapshügel zu radeln. Dann kann ich ebenso gut in den Harz rein und die Umrundung auf der Innenseite fortsetzen. Und dazu nimmt der Radweg sogar eine relativ geschickte Strecke (wenn auch mit ein paar weiteren unnötigen Schlenkern, die ich abgekürzt habe). Der Harzrundweg verknüpft jetzt nämlich zwei Flusstäler, damit ich möglichst wenig bergauf musste. In Alterode bog ich ein in das eine Tal. Es heißt, ähm, Eine-Tal.

Die Eine hat ein einsames und einförmiges Tal geschaffen.

Die Berge (ich zögere, dieses Wort zu verwenden) sind bemerkenswert niedrig: Ohne Karte könnte ich hier beim besten Willen nicht sagen, ob ich noch im Harz bin oder nicht. Absolut nichts unterbricht den breiten Wiesenstreifen zwischen den Wäldern. Eine altmodische Stromleitung macht sich auf die vergebliche Suche nach irgendjemanden, der einen elektrischen Anschluss gebrauchen könnte. Jeder Kilometer sieht genauso aus wie der vorherige. Was aber nicht so schlimm ist, denn so schlecht sieht der vorherige Kilometer nun auch wieder nicht aus. Um zügig und angenehm Strecke zu machen, ist das Tal eine super Verbindung.

Zügig düste ich durch das Tal und fuhr dann wieder steil raus. Überraschung: Von oben und mit einer Prise Nieselregen sah das Einetal am besten aus. Es erinnerte mich auf einmal an den Schwarzwald.

Na dann, ab nach unten ins nächste Tal. Vielleicht gibt es da ja mehr zu sehen?

Tatsächlich: Gleich als erstes empfing mich die Rammelburg. Eigentlich handelt es sich um ein Schloss, sodass sie das Monopol von Falkenstein als mit Abstand beste Harzburg nicht in Frage stellt.

Im Tal der Wipper fährt sogar ein Zug! Also, bei Gelegenheit. Die Bahn namens Wipperliese schwankt beständig zwischen Stilllegung und Ausbau und fährt zur Zeit nur noch im sogenannten Gelegenheitsverkehr an Wochenenden.

Auch Felswände schauen an der Seite des Wippertals heraus.

Das Städtchen Wippra verteidigt stolz und schön als letzte Bastion des Tourismus den Ostharz gegen das Ödland, das von draußen einzudringen versucht. Dazu zieht sie alle Register.

Kletterwald! Sommerrodelbahn!

Und sogar eine Skisprungschanze!

Gerade hatte aber nichts davon Saison, also fuhr ich raus aus dem zweiten Tal. Ochsen starrten mir neugierig hinterher, als hätten sie noch nie einen Menschen gesehen.
Mensch, bin ich gut vorangekommen.

Jetzt bleibt nicht mehr viel übrig. Über die Kastanienallee steige ich durch ein Labyrinth aus leuchtenden Tunneln auf.

Ziemlich schnell machten sich leider Pfützen auf dem Radweg breit, die rötlichen Schlamm aufspritzen ließen und meine Hose in etwas verwandelten, das wahlweise in die Waschmaschine, den Sondermüll oder auf die Documenta gehört. Ob ich auf einer Abkürzung oder dem offiziellen Harzrundweg fuhr, machte da gar nicht so den Unterschied.

Auf diesem Wege verließ ich den Harz dann wieder am südöstlichen Ende. Der Bereich gehört eigentlich zu einem Naturschutzgebiet namens Gipskarstlandschaft Pölsfeld, aber anscheinend gibt's den Gips nicht mehr (obwohl Gipswände sonst fast überall im Südharz präsent sind).

Vielleicht wurde alles abgebaut, denn ich befinde mich wieder mal in einer Bergbaugegend. Davon zeugt zum Beispiel dieser Vulkan. Was hier wohl abgebaut wurde?
Spontan würde ich vermuten: Chamäleongestein.
Denn aus der Ferne scheint die Schachthalde Hohe Linde eher beigeweiß, aus wenigen Kilometern Entfernung plötzlich rötlich und direkt davor dann asphaltgrau. Okay, das könnte auch mit dem wechselnden Sonnenlicht in der Dämmerung zu tun haben.

Endlich nahte wieder ein richtiger Bahnhof. Zwar muss ich dafür noch ein gutes Stück nach Süden, aber dafür fährt Sangerhausen auch oft ein Zug.
Die bekannteste Sehenswürdigkeit von Sangerhausen ist das Rosarium, denn es handelt sich um eine Rosenzüchterstadt. Auch an ein paar Häusern ranken sich Rosenstiele nach oben. Von der Altstadt ist durchaus noch was übrig, aber die Stadtmauer und -tore sind weg. Grund dafür ist kein Krieg, sondern moderner Pragmatismus: Es gab eh Freihandel, also keine Zölle, und ansonsten behinderten die ollen Dinger doch nur den Verkehr. 1823, also ganz schön früh, rissen die Sangerhauser ihre Befestigung komplett ab.

Wo genau die südöstliche Ecke vom Harz liegt, ist in dem welligen Land nicht ganz so leicht zu bestimmen. Eine ziemlich markante Stelle lässt sich am besten in der Bahn erleben: Zwischen Klostermansfeld und Sangerhausen fahren die Abellio-Züge durch eine enge Felsschlucht. Anders als die Harzer Schmalspurbahnen so schnell, dass jedes Foto verschwimmt (aber natürlich trotzdem langsam genug für eine Verspätung). Trotzdem ist das vielleicht die spektakulärste Bahnstrecke um den Harz (die Schmalspurbahnen nicht eingerechnet), nur die Gipsfelsen-Strecke bei Walkenried kann da mithalten.