Seiten

Flüsse

Noch mehr Radreisen

23 Oktober 2023

RDE: Von Kirchhain nach Niederaula

Der Radweg Deutsche Einheit ist für alle da, die zwar irgendwie gern ne Radtour zur deutschen Teilung und Geschichte machen würden, denen die Innerdeutschen Grenze aber zu öde und schlecht ausgebaut ist.
Seine Strecke beginnt auf dem Rheinradweg, folgt dann ziemlich lahnge der Lahn und schließlich kurz der Ohm von der Mündung bis nach Kirchhain. Erst danach kommt die hier beschriebene Etappe - das erste Stück Radweg Deutsche Einheit pur!

Die Idee hinter der Route: Wir verbinden einfach die alte Hauptstadt Bonn mit der neuen Hauptstadt Berlin, und zwar jeweils am alten und neuen Verkehrsministerium, und unterwegs kommen total viele Orte deutscher Geschichte rein. Hinterher ist den Planern offenbar aufgefallen, dass sie die ehemalige Grenze bloß ein einziges Mal überqueren und die meisten historischen Stätten dementsprechend nur wenig mit der Deutschen Einheit zu tun haben. Also haben Sie hastig Sachen wie Ungefähr 50 Kilometer weiter nördlich ist noch die Gedenkstätte am Grenzübergang Marienborn, falls Sie da auch noch hinwollen, quasi direkt um die Ecke! dazugeschrieben... naja.
Nee, nee, wenn Sie sich intensiver mit der Teilung befassen wollen, Ihnen die innerdeutsche Grenze aber zu anstrengend ist, fahren Sie (bzw. gehen Sie im Innenstadtbereich) an der Berliner Mauer lang.
Wenn Sie aber gern kreuz und quer durch alle historischen Epochen springen wollen, dann könnte der Radweg Deutsche Einheit für Sie das richtige sein.

Los geht es leider mit der dunkelsten Epoche: In der Münchmühle zwang das Naziregime ungarische Juden dazu, Sprengstoff herzustellen. Es handelt sich um eine der vielen Außenstellen den Konzentrationslagers Buchenwald (Buchenwald war echt ein Franchise des Grauens).
Von Stacheldraht überschattet trat ich auf eine komplett verwitterte Betonplatte. Das war einst der Boden der Küche und Waschhalle. Hinter dem Tor kommt nichts mehr, der Rest des Geländes gehört einem Bauernhof. Aber schon dieser Stacheldraht-Gang wirkt viel beklemmender als eine einfache Gedenktafel.

Ein Stück weiter wird aus dem Waldweg schon wieder eine Straße, und die Radroute windet sich in einem Kreis aus Kreisverkehren um Stadtallendorf herum. Die Stadt selbst ist nichts Besonderes, aber ihre Kreisverkehre blühen und sprudeln prächtig vor sich hin.
Meistens jedenfalls.

Der Radweg Deutsche Einheit ist alles andere als einheitlich. Folgt er den beliebten Flussradwegen, ist er oft in einem super Zustand, aber dazwischen klaffen hin und wieder Lücken. Irgendwo auf diesen Hügeln am Rande des Vogelsbergs war ich komplett verloren. Ich sollte einer Nebenstraße durch den Wald folgen. Dumm nur, dass diese Nebenstraße einen Streifen Land kreuzte, welcher auf den Namen A49 getauft und zur Autobahn auserkoren wurde. Und siehe, die Baustelle hatte auch die Nebenstraße infiziert - und blockiert. Ein weißer Audi ignorierte die Verbotsschilder und wagte sich hinein ins auserwählte Land zwischen die Baumaschinen, bog um die Ecke - und verschwand.
Hm. Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Ich machte den korrekten Umweg über Dörfer, Wälder und Tankstellen bis zur Bundesstraße, der ich dann als lästige, aber regelkonforme Verkehrsblockade auf einer Brücke über den geweihten Grund folgte.

Irgendwann stieß die Radroute zur Bundesstraße und die Lücke war überwunden. Nicht nur der Radweg ist wieder ausgeschildert - zum ersten Mal sah ich auch eine Straße, an der ausdrücklich auf eine Wasserscheide hingewiesen wird: Ich wechselte vom Reich des Rheins ins Wirrwarr der Weser.

Die nächste Stadt fing meinen Blick mit dreidimensionalen Kunstwerken auf dem Radweg - von Haustieren im Fahrradanhänger bis hin zu Sonic the Hedgehog. Wow!
Der Dackel sieht dermaßen harmlos aus, dass ich nicht mal Angst hatte, er könnte mir beim Drüberfahren von unten in die Reifen beißen.
In Kürze wird wieder ein Rind geschlachtet!, verkündet der ortsübliche Biobauernhof-Automat. Jetzt noch ein Rindfleisch-Paket sichern!

Neustadt in Hessen (es gibt einfach zu viele Neustadts in Deutschland) ist die älteste Stadt der Strecke. Zumindest sieht sie so aus. Diesmal umrunde ich das Zentrum nicht auf Kreisverkehren, sondern in Parks an der Stadtmauer. Der beeindruckendste Teil der Mauer ist der Junker-Hansen-Turm. Das ist der größte Fachwerkrundbau Europas - auch wenn sich das Fachwerk gar nicht einmal rund um den Turm fachwerkelt: Im Nacken bedeckt ein Helm aus Schiefer den Turm. Als die Baumeister 1840 den Turm hochzogen, orientierten sie sich einerseits noch an mittelalterlichen Stadtmauern, bauten ihn andererseits aber extradick, damit er diesen neumodischen Feuerwaffen standhielt. Dadurch war in seinem Inneren Platz für ein paar Wohnungen.
Ob sie schon ahnten, dass all die neuen Waffen Stadtmauern ohnehin schon bald zu völlig aus der Zeit gefallenen Relikten machen würden? Dieser Turm markiert nicht nur die Grenze der Stadt, sondern auch zwischen verschiedenen militärischen Zeitaltern. Und ist viel schöner als sämtliche Türme, die irgendwas mit der deutschen Teilung oder Einheit zu tun haben.

Der Radweg wird immer besser: Eine neue Route folgt den Schienen das schmale Tal der Wiera hinauf, Farne lassen den Hohlweg in feuchtem Grün erstrahlen.
Nur das hölzerne Schild hält nicht, was es verspricht: Einen Brunnen, aus dem man Arbeitsplätze schöpfen kann, gibt es hier nicht. Und auch sonst keinen Brunnen. Nur einen ausgetrockneten Blättergraben.



Dieser Bahnradweg ist in Ampelfarben dekoriert:
  • Unendlich lange grüne Geländer (quasi das Gegenstück zu den ewigen roten Geländern an der Thüringer Feldatal-Bahntrasse)
  • gelbe Ortsschilder, die darauf hinweisen, dass hier die Gemarkung von Kleinroppenhausen endet und die von Görzhain beginnt (Gemarkung ist die rote Linie, die einem Google Maps anzeigt und die einen Riesenteil der Landschaft einkreist, obwohl das Kaff, nach dem man gesucht hat, eigentlich nur ganz klein irgendwo da drin ist - die offizielle Ortsgrenze. Mit anderen Worten: Von Görzhain ist bei dem Schild für die nächsten fünf Kilometer noch absolut nichts zu sehen.)
  • Stoppschilder und jede Menge Markierungen und Warnhinweise, dass man sich rechts halten soll. Dafür fallen die sonst üblichen Drängelgitter weg und es wird auf die Regeltreue der Radler vertraut.

Erstmal geht es bergauf, aber bloß mit maximal 2,8 Prozent. Das heißt, ich war immer noch schneller als auf einem gezackten Bergab-Weg, wo ich ständig abbiegen und mich orientieren muss.
Am Wegesrand stehen holzgeschnitzte Skulpturen, etwa eine ernste Version des Wolfes aus Rotkäppchen. Aber die wichtigsten Protagonisten einer jeden Geschichte sind natürlich: Die Zuschauer (rechtes Bild).

Irgendwann tauchen sogar alte Bahnhöfe auf. Sie sind ebenso fachwerkig wie der Junker-Hansen-Turm vorhin. Der Bahnhof von Neukirchen ist eingezwängt im Industriegebiet, und ich musste die Straße kurz verlassen... Moment, fährt da etwa noch ein Güterzug hinterm Bahnhof lang? Aber hier sind doch gar keine Gleise? Ach nee, ist nur ein langer LKW.
Auf einem Schild in Nausis erzählt die Tochter des Bahnhofsvorstehers, wie das Leben in den 1940ern in einem Bahnhof so war: Es gab kein fließendes Wasser, aber immerhin ein Gemeinschaftsklo im Treppenhaus und einen Brunnen direkt im Hof, so gut hatten es die meisten Nauser (Nausiser? Nausikaner?) nicht. Ihr Vater musste Fahrkarten verkaufen, Weichen stellen, die pünktliche Abfahrt per Morsezeichen der Zentrale an die Nachbarorte melden, vor allem aber die Güterwaggons beladen, das war die meiste Arbeit. Ach ja, um ein bisschen Ackerbau, Hühner und Schweine kümmerte sich die Familie auch noch.
In Nausis stiegen hauptsächlich Holz, Zuckerrüben, Arbeiter und Berufsschüler in den Zug.
1959 wurde der Bahnhof zur Haltestelle runtergestuft, 1984 fuhr der letzte Personenzug, 1995 der letzte Güterzug und am 12.12.1999 die letzte Museumseisenbahn - fast hätte die Bahntrasse das neue Jahrtausend noch miterlebt.

Andere Haltestellen bestehen bloß noch aus einer Rasthütte mit Andreaskreuz. Oder aus einer Bahnsteigkante, auf der Wohnmobile auf den Zug warten.

Brücken über die Bahntrasse kommen in allen Formen vor. Brücken unter der Bahntrasse, also für die Bahn selbst, gibt es dagegen fast gar nicht. Die Knüllbahn kam ohne Tunnel und Viadukte zurecht.

Dazu musste sie sich allerdings ordentlich hin- und herschlängeln und allen Hügeln im Tal ausweichen. Dieser Verlauf beschert mir ein paar Extrakilometer, aber auch jede Menge abendrote Aussichten. Sogar die Chemtrails haben sich romantisch eingefärbt.

Ich war zu spät gestartet und hatte wegen der Autobahn-Baustelle zu viel Zeit verloren - als ich die Bahntrasse verließ, war es schon ganz schön düster. In Wahlshausen geht's erstmal unter der Bahn durch, und danach weiter talabwärts - nicht mehr ganz so geradlinig, aber immer noch recht einfach.
Schon 1977 zerbrach der Bahndamm bei Kirchheim, und dieser Abschnitt der Gleise wurde für immer gesperrt. Dieser Dammbruch war der Anfang vom Ende. Und möglicherweise der Grund, warum auch der Radweg hier nicht mehr durchgehend auf der Bahnstrecke verläuft.

Dieses Dorf hat einen Platz an der Aula. Damit ist nicht etwa eine große Halle für Veranstaltungen gemeint, sondern ein Bach namens Aula mit netten Grünanlagen an seinem Ufer.

Das Bächlein bringt mich von Oberaula runter nach Niederaula. Von da aus musste ich dann bloß noch ein paar Kilometer an der Fulda zum Bahnhof Bad Hersfeld. Inzwischen war es zappenduster und mein Licht flackerte zunehmend widerwillig durch die Nacht. Daher war ich ganz froh, als ein freundlicher Stadtbus anhielt, der rein zufällig dasselbe Ziel ansteuerte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen