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Noch mehr Radreisen

28 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Rödental nach Blankenstein

Die Bergbayerngrenze III

Länge: 95 km
Grenzquerungen: 9 (+keineahnungwieviele am Tettenborner Zipfel und bei anderen Abstechern)
Bundesländer: Bayern/Thüringen
Seite: etwa gleich viel
Erkenntnis: Im Frankenwald ist bergab manchmal schlimmer als bergauf, und das Mittelalter manchmal rechtsstaatlicher als die DDR.

Am Ende des Rödentals schält sich die Gebrannte Brücke aus der Morgendämmerung. Sie verbindet Coburg mit Sonneberg und schrieb zweimal Geschichte. Im Jahre 1949 flüchteten während eines Fußballspiels gegen die Wessis Spieler und Zuschauer in Massen nach Bayern. Und 1990 unterzeichneten Wolfgang Schäuble und Peter Diestel, die Innenminister der BRD und (inzwischen demokratischen) DDR auf der Brücke einen Vertrag, der die Grenzkontrollen abschaffte.
Eine wirklich historische Brücke also... aber wo ist sie eigentlich? Ich erkenne nur eine Straße, neben der sich ein bisschen sumpfiges Grün erstreckt, das eventuell irgendwo da unten durch ein Rohr fließt.

Ich fahre da aber ohnehin nicht rüber, sondern biege rechts ab in den dritten Zacken des Coburger Zickzacktals: Das Tal der Steinach. Diesmal folgt die Grenze sogar dem Verlauf des Tals, statt die Abkürzung über die Hügel zu nehmen. Dadurch wechsle ich mehrfach die Seite. Ansonsten ist das Steinachtal etwas breiter und unauffälliger als die ersten zwei idyllischen Täler.
In diesem Tal hat einst ein Müller eine Mühle mit Eisenhammerwerk errichtet - nur um dann festzustellen, dass es in der Nähe gar keine Minen mit Eisenerz gibt. Also machte er aus der Not eine Multifunktionsmühle zum Mahlen, Schneiden, Walken und Ölmachen, quasi alles, was eine Mühle überhaupt tun kann. Hätte es damals schon Windräder gegeben, hätte er bestimmt auch noch zusätzlich Strom produziert.
Etwa 200 Jahre später flohen die Nachfolger des Müllers in den Westen, und die DDR riss die Multifunktionsmühle ab. Dabei wurde sie genau von westlichen Zeitungen beobachtet.

Ein Gedenkstein erinnert an das vielleicht absurdeste geschleifte Dorf der Grenze: Liebau. Die Liebauer Eltern fanden es nicht gerade beruhigend, dass sie ihre Kinder auf dem Weg in die Schule einmal über die amerikanische und zurück in die sowjetische Besatzungszone schicken mussten. Deswegen flohen 68 von 71 Dorfbewohnern 1952 in den Westen. Dass nur noch drei Menschen im Dorf lebten, war der SED doch irgendwie peinlich, und so machten sie das genau Gegenteil von dem, was sie sonst überall an der Grenze taten: Sie siedelten neue Bewohner an und bauten neue Ställe, Straßen und ein schickes Kulturhaus. Nur um nicht mal fünf Jahre später alle rauszuschmeißen und alles plattzumachen.
Das sind so Momente, wo ich mich frage, wie zur Hölle dieser Staat überhaupt 40 Jahre durchhalten konnte.

Damit endet das Coburger Zickzacktal, jetzt gurke ich eine Weile durch einen Wald. Auf den Hügeln verbergen sich Siedlungen mit klangvollen Namen wie Krötendorfswustung.
Ui, dieser Biergarten sieht aber einladend aus.

Hier lebte einst ein Mann, der einen Gerichtsprozess um ein teures Grundstück führte und sein Haus zu verlieren drohte. Er machte einen auf Martin Luther und versprach Gott, eine Kapelle zu bauen, falls er Recht bekam. (Anwälte hassen diesen Trick.) Es funktionierte, und der dankbare Beklagte lieferte fristgerecht die versprochene Kapelle, damit er nicht gleich die nächste Klage von Gott am Hals hatte.
Im Zweiten Weltkrieg nietete ein Panzer die halbe Kapelle um. "Kleines Haus kaputt, aber kleiner Mann noch ganz.", entschuldigte sich der Soldat - die Jesusfigur war nämlich intakt geblieben.

Mit dieser netten Geschichte geht es hinab ins Haßlachtal. Was 1954 am Grenzübergang in diesem Tal geschah, ist weniger schön: Der Stasi-Major Sylvester Murau, der in den Westen geflohen war, wurde von seiner eigenen Tochter angelockt, in den Osten entführt und zum Tode verurteilt. Die hochgradig verstörende Tochter heiratete später auch noch den Leiter der ganzen Operation.
Das Tal ist mit Tankstellen, Gewerbegebieten und Baustellen gepflastert. Letztere sperren Straßenübergänge für Radler und Fußgänger aus rätselhaften Gründen - gebaut wurde da jedenfalls nicht.

Das Tal gehört noch zu Bayern, die Grenze verläuft in den Hügeln auf der linken Seite. Ein kurzes Stück daneben verläuft eine Bahnlinie - die wechselt bestimmt gleich in den Osten, oder? Nein, die Schienen trauen sich noch nicht in die Zone. Nach ein paar Kilometern trennen sich unsere Wege; ich und verlasse die Bahn und suche einen eigenen Weg - hinauf in die Berge.
Während der letzten neun Tagesetappen (also seit Hörschel) hat das Grüne Band den Thüringer Wald großräumig umkreist. Jetzt, endlich, geht es richtig rein ins grüne Mittelgebirge - allerdings so spät, dass das streng genommen gar nicht mehr der Thüringer Wald ist, sondern das Thüringer Schiefergebirge (aber mal ehrlich, das sind quasi dieselben Berge, die ohne Unterbrechung weitergehen). Auf der Westseite heißt das Gebirge Frankenwald.

Aber erst einmal wechsle ich auf die Ostseite. An der Grenze von Heinersdorf steht eine Gedenkstätte in einer unauffälligen Holzhütte, die aber nur nach Vereinbarung geöffnet wird.

Die folgenden 20 Kilometer bis Tettau sahen auf dem Höhenprofil im Radführer ungefähr so aus:

Ui, bei dem Anblick fängt man gleich an zu schwitzen, oder?
Aber in Wahrheit waren das die einfachsten 20 Kilometer des ganzen Tages. Wie kann das sein? Der Anstieg ist dermaßen sanft, dass man ihn kaum bemerkt. So einfach bin ich noch nie in ein Gebirge geradelt, nicht einmal die Bahntrassen in den Harz und Rhön fahren sich derart entspannt.
Oder Moment mal, ist das eine Bahntrasse? Diese Brücke dort sieht sehr nach Bahn aus... und der Wulst da ist dann der Bahndamm... aber der Weg verläuft gar nicht darauf! Warum sollte man auch die großen Nadelbäume auf dem Bahndamm fällen und all das Moos ausreißen, wenn es bereits einen perfekten Weg gibt?
Vielleicht, damit die Radfahrer nicht ständig den LKWs der Holzfäller ausweichen müssen. Ja, das wäre ein guter Grund. Wobei dann erst einmal extra viele Holzfäller kommen müssten, um den Bahndamm abzuholzen.
Diese Bahnlinie querte dermaßen oft die Grenze, dass der Betrieb ständig willkürlich unterbrochen und 1952 ganz eingestellt wurde - obwohl die Bundesbahn gerade erst neue Schwellen verlegt hatte.
Ansonsten befanden sich im Tal eine Burg und eine Fabrik für blaue Farbe, die von Alexander von Humboldt unterstützt wurde. Dort entdeckte ich das erste Anzeichen, dass ich mich Tschechien nähere: Die Infos über diese Fabrik konnte ich auf auf Tschechisch nachlesen!

Immer wieder waren meine Karte, meine App und die Wegweiser geteilter Meinung, wo genau die Radroute verlaufen soll. Oft habe ich mich im Zweifel für die Karte entschieden, was meistens richtig war - aber oberhalb von Tettau war das zum ersten Mal ein Fehler. Der Weg verschwand völlig im Heidekraut.
Eine bessere Alternative ist der Dichterweg, der seinen Gästen nebenbei auch noch etwas über Deutschlands größte Schriftsteller vermitteln will (von denen aber anscheinend keiner jemals auf diesem Weg wandelte). Dazu benutzt er zwar hübsche Porträts, aber eher lieblos zusammenkopierte, kurze Stichpunkte.

Der richtige Waldweg brachte mich zu dieser zentralen Wanderwaldwegkreuzung neben einer Kuhweide am Glashügel. Hier treffen der Iron Curtail Trail, der Skiwanderweg Deutsche Einheit, der Rennsteig und der Rennsteig-Radweg aufeinander. Eine Tafel erzählt, wie im Jahre 1990 die Wanderer ausgelassen feierten und das Rennsteiglied sangen, als der berühmte Wanderweg endlich wieder komplett bewandert werden konnte. Aber nicht alle Wunden der Geschichte sind damit geheilt: Irgendjemand hat mit Edding eine der Personen auf dem Foto von 1990 als Stasi beschriftet.
Hm, welcher Weg ist denn jetzt der Iron Curtain Trail? Egal, ich mache sowieso erstmal einen Abstecher.

Die Grenze vollführt einen ausgiebigen Schlenker über die nächste Kuhweide. Während ich dem Weg nach Kleintettau runter gerast bin, habe ich immer wieder grau gemauerte Grenzlinien überquert. Freistaat Bayern! Freistaat Thüringen! Bayern! Thüringen! Bayern! Nur Gott und jeder, der mein Handy tracken kann, wissen, wie oft ich dort das Bundesland gewechselt habe. Die seltsame Grenze sorgte sogar im 21. Jahrhundert für Probleme, als der Weg saniert werden sollte - der bayrische Bürgermeister hat dann kurzerhand einfach alle Abschnitte übernommen.
Doch im Kleintettauer Zipfel lebten nicht nur Kühe. Sind Sie bereit für die letzte kuriose Grenzgeschichte? Keine Sorge, sie hat ein Happy End.

Ganz am Ende reicht das Stück Ostdeutschland ins Dorf Kleintettau hinein, und dort standen drei Häuser, die bei den Grenzzäunen außen vor blieben und eigentlich zum Dorf Klein-Lichtenhain gehörten. Als die Aussiedlungen losgingen, flohen alle Bewohner des Zipfels in den Westen. Dazu mussten sie bloß vor ihr Haus auf die Straße treten.
Wirklich alle? Nein! Ein einziges Ehepaar wollte sein Haus nicht aufgeben (das Schieferhaus hinten in der Mitte). Die beiden warteten also auf das Unvermeidliche, bis... absolut nichts geschah. Das Paar wurde in Ruhe gelassen.
Was war geschehen? Die DDR hatte sie jedenfalls nicht vergessen und schien sie schon noch irgendwie als ihre Bürger zu sehen. Ab und zu winkten die Grenzsoldaten oder klopften und fragten, ob alles gut sei. Die beiden waren die einzigen im Dorf, die ihren Rasen bis an den Grenzzaun mähen durften (wahlweise per Rasenmäher oder per Ziege), ohne mit der Schusswaffe bedroht zu werden. Das Paar glaubte, dass sie insgeheim ihren Mut bewunderten. Aber war das der einzige Grund? Was machte die beiden mutiger als so viele andere Widerständler? Waren sie einfach den Aufwand nicht wert? Es bleibt ein Rätsel, oder besser gesagt, das Wunder von Kleintettau.
Als es doch mal Streit mit einem russischen Offizier gab, meldeten sich die beiden einfach als Westbürger an, wählten im Westen und hatten quasi die doppelte Staatsbürgerschaft. In die DDR trauten sie sich dagegen nie (also außer in ihr Haus halt). Sie bezahlten keine Grundsteuer, dafür wagte es niemand, auf ihrem Grundstück die Post auszutragen, Schnee zu räumen oder ein Telefon anzuschließen. Nur der Schornsteinfeger betrat mutig das feindliche Territorium. Die BRD war mit der Situation auch nicht so glücklich und versuchte dem Paar Bauland im Westen andrehen - vergeblich. Erst 1976 endete die Ungewissheit mit einem Gebietstausch.

Erst jetzt, wo ich schon oben bin, wird die Thüringer Waldtour richtig anstrengend. Zum Glück hat eine freundliche Seele eine Schaukel und eine Hängematte zur Erholung aufgehängt.

Weitere Entspannung verspricht der Glücksgarten. Das ist ein langgezogener Streifen direkt am Kolonnenweg, in dem allerhand seltene Arten aus der Region, zum Beispiel der Bärwurz, vor sich hin wuchern. Den Bärwurz macht das sicher glücklich, für Menschen lässt der Anblick des hohen, eng eingezäunten Streifens keine allzu hohen Glücksgefühle aufkommen.

Und es geht immer noch aufwärts! Hoffentlich bleibt der Weg so... oh.
Dieses Schlammstück wurde vermutlich extra angelegt, damit die Radfahrer anschließend den Kolonnenweg zu schätzen wissen.

Das hat bei mir aber nicht so richtig funktioniert, dazu waren die Löcher zu tief. Kann man die nicht einfach mit Erde füllen oder so? Vielleicht fahre ich doch lieber auf dem Streifen in der Mitte, nee, auch nicht das Wahre. Aber der Wald ist ein hübscher Anblick. So weit oben wächst ausnahmsweise mal kein Löwenzahn auf dem Grünen Band. Wie schon im Harz macht das Heidekraut aus dem Grünen Band ein Violettes Band.
Huch? Zwischen den Birken überquerte auf einmal eine ganze Herde Rehe den Weg. Hier oben ist tierisch viel Wild unterwegs.

Um abends dieses wilde Spektakel betrachten zu können, haben Schüler für Schüler eine Begegnungsstätte gebaut. Anscheinend kann man darin Feuer machen, übernachten und duschen. Och, eine Dusche wär jetzt eigentlich nicht schlecht, vielleicht kann man ja... ah, die Dusche ist offen. Es fehlt nur eine Kleinigkeit: Irgendeine Öffnung, aus der Wasser kommt.

Wo es bergauf geht, geht es auch wieder bergab. In diesem Falle brutal bergab. Ui, meine Bremsen waren zuletzt ein etwas schwach, ich stelle sie mal lieber enger ein.
In den Wäldern verbirgt sich noch ein Aussichtsturm namens Thüringer Warte. Dabei liegt er eigentlich in Bayern und hat eine recht ähnliche Geschichte wie der Bayernturm.
Am Waldrand beginnt ein Märchenpfad. Das erste "Märchen" ist eigentlich ein überliefertes historisches Ereignis und außerdem alles andere als märchenhaft: An dieser Stelle wurde eine Köchin wegen Kindesmordes brutal gepfählt. Daran erinnert der Stein am Köchinnengrab. Immerhin: Die Strafe entsprach den Gesetzen des Sachsenspiegels, des wichtigsten mittelalterlichen Rechtsbuchs. Insofern war der Ritter von Thüna quasi fortschrittlicher als Walter Ulbricht. Dessen Schießbefehl widersprach zum Teil DDR-Gesetzen.

Mit funktionsfähiger Bremse konnte ich es wagen, den tiefen Abgrund runter nach Lauenstein zu rasen, wo die Köchin für den Ritter von Thüna gearbeitet hatte. Unterwegs kam ich den versprengten Teilen einer Klasse auf Wandertag vorbei. Die erste Gruppe Grundschüler ging auf der Stelle mustergültig rechts ran, sobald sie nur den Hauch eines Fahrrads hörten. Die zweite Gruppe Grundschüler hatte hierfür leider keine Zeit, da zwei von ihnen gerade eine ganz besondere Kampfsportart trainierten, bei der wirklich restlos jeder Meter der Straße blockiert wurde.
Da soll noch einer sagen, die Kinder von heute seien alle gleich.

Eine Sage erzählt, dass sich auf Burg Lauenstein ein Schatz für "trinkfeste Sonntagskinder" verbergen soll. Um ihn zu heben, sind lediglich folgende Schritte nötig: 1. Werden Sie an einem Sonntag geboren. 2. Trinken Sie am ersten Mittwoch des neuen Jahres eine Menge Falkensteiner Bier. 3. Besteigen Sie um Mitternacht den Schlossberg, ohne zu schwanken.
Es scheint sich weniger um eine Sage zu handeln als vielmehr um einen Marketing-Gag der lokalen Brauerei.

Noch eine Etage tiefer, dann bin ich im Tal der Loquitz angekommen. Als ein Güterzug durch das weite Waldtal rauschte, hatte ich für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, es habe mich irgendwie in den Balkan verschlagen. All die deutschen Städte schienen so weit entfernt - dabei waren sie mir näher als an meisten Punkten dieser Tour, schließlich hatte ich die Bahn direkt vor der Nase. Als dann eine rote Regionalbahn der DB vorbeikam, verschwand das Gefühl der fernen Exotik auch recht schnell.
Hier treffe ich also wieder auf die Bahntrasse, von der ich mich heute Vormittag getrennt habe. Hat sie es inzwischen über die Grenze geschafft? Nein, immer noch nicht.

Ich Blödmann hätte einfach an der Straße fahren können - aber nein, ich wollte ja unbedingt dem Wegweiser noch tiefer nach unten folgen. Nur um dann festzustellen, dass diese Wegweiser mich aus dem Tal hinauslocken wollten, zu irgendeinem Umweg über die Hügel. Mir blieb nur noch ein holpriger Pfad direkt am Wasser. Das hier ist noch einer seiner besten Abschnitte, trotz des kleinen Stöckchens auf dem Weg. Die Natur ist herrlich, doch in diesem Tempo schaffe ich es nicht einmal in vier Tagen zum Ziel.

An der Villa Falkenstein stößt das Loquitztal auf die Grenze, und endlich wechselt die Regionalbahn von heute früh in den Osten. Ein Stück weiter liegt der Grenzbahnhof in Probstzella. Anders als das Lost Place in Schwanheide (das in dem Moment eine Million Kilometer entfernt zu sein schien) wurde dieser Bahnhof zum Museum umgestaltet - ach so, aber laut Google haben die Donnerstag Ruhetag. Die Bahnstrecke verbindet Nürnberg mit Saalfeld und ist heute vielleicht die wichtigste Verbindung zwischen Bayern und den neuen Bundesländern.
Ihr berühmtester Passagier war der Bürgerrechtler Roland Jahn. Er wollte eigentlich unbedingt in der DDR bleiben. Nach allem, was ich bislang am Grünen Band gesehen habe, sollte man meinen, das sei den Machthabern nur recht - aber nein, plötzlich wollten sie, dass einer ihrer Bürger das Land unbedingt verlässt. Nur weil die Menschen im Land bleiben müssen, heißt das ja schließlich noch nicht, dass sie das Recht haben, es zu verändern! Sogar als man ihn für seine kreativen Proteste einsperrte, wollte der Sturkopf einfach nicht ausreisen. Sie mussten ihn fesseln, knebeln und in ein Zugabteil einsperren, um ihn endlich nach drüben zu verfrachten.

An dieser Stelle bin ich wieder nach Thüringen gewechselt. Noch wusste ich nicht, dass mich nun das schlimmste Stück des deutschen Iron Curtain Trail erwartete - das Steinbachtal. In dieser kleinen Seitenschlucht versteckt sich die Steinbachsmühle. Sie sieht im Prinzip immer noch so aus wie 1487 und steht deswegen unter Denkmalschutz. Die DDR nahm es mit dem Denkmalschutz weniger ernst: Der Keller und ein Waldstück des Müllers ragten in die Ostzone und wurden von den Grenztruppen gesprengt.
Der Weg durch das Steinbachtal sollte eigentlich asphaltiert sein. Sagt die Karte. Ha! Ich behaupte, dieses wilde Wegstück hat in all der Zeit seit 1487 nie auch nur ein Fitzelchen Asphalt gesehen. Ich weiß, ich weiß, auf dem Bild sieht das gar nicht so schlimm aus. Das liegt daran, dass ich meistens, wenn mich der Weg völlig fertigmacht, vergesse zu fotografieren.

Solange der Weg halbwegs flach durch das Tal verlief, kam ich trotzdem klar. Aber als es dann auch noch steil aufwärts den aus dem Tal heraus ging, da ging meine Laune steil abwärts. Ich schob mein Rad die lange Holperpiste hinauf, die partout einfach kein Ende nehmen wollte.
Oh, eine Quelle, na immerhin etwas. Das Wasser plätscherte durch eine moosbewachsene Treppe aus Schieferplatten und kam dann aus einem Rohr heraus. Na, das wird dann ja gut gefiltert sein, dachte ich mir. Erst als meine Flasche voll vor, fiel mir auf, dass vor dem Wasserhahn noch ein versumpftes Becken liegt, in dem das Quellwasser ziemlich lange stillsteht. Okay, vielleicht trinke ich das doch lieber nicht.
Und endlich, nach ewigem Schieben, kam ich aus dem Steinbachtal heraus. Wo bin ich jetzt gelandet?

In einer völlig anderen Welt. Keine versteckten Waldschluchten mehr, sondern offenes Land aus welligen Wiesen. Es fühlte sich ein bisschen an, als würde ich über Deutschlands Rückgrat radeln, genau zwischen Franken und Thüringen.
Dieses Rückgrat wird anscheinend als Jochen-Schweizer-Erlebniscenter genutzt. Am Straßenrand rasten Motorradfahrer durch die staubigen Kurven eines für sie angelegten Parcours. Ein Baggerfahrer ließ zwei mutige Fahrgäste in seiner Schaufel mitfahren.

Die Dörfer auf diesem Rückgrat sind auch recht einmalig. Bisher dachte ich, die Orte im Harz hätten viel Schiefer. Damit lag ich so was von falsch! Hier sticht sogar ein Haus, das nur sein Dach mit Schiefer bedeckt, aus der Masse heraus wie ein Clownfisch im Heringsschwarm. Der Schiefer stammt aus regionalem Anbau direkt von hier, aus dem Thüringer Schieferpark bei Lehesten.
Lehesten ist auch das größte der Schieferstädtchen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich dort etwas zu essen bekomme. Da drüben sitzen Leute unter einem großen Sonnenschirm mit einem Bierlogo, das muss doch ein Restaurant sein. Aber warum steht dann nirgendwo ein Name dran?
"Ist das ein Restaurant?", fragte ich etwas unbeholfen. "Ja, aber wir haben Ruhetag." Man empfahl mir einen Bäcker. Das gastronomische Angebot von Lehesten umfasst ansonsten noch eine Imbissbude, welche mir die Einsicht verschaffte, dass Bayern und Currywurst nicht zusammenpassen.
Auch Martin Luther reiste mit verbündeten Adligen und Kaufleuten durch Lehesten. Obwohl er nur auf einer stressigen Durchreise war, fanden die Lehestener ihn dermaßen überzeugend, dass sie auch die Reformation einführten.

Selbst die Kasernen der Grenzsoldaten sind mit Schiefer bedeckt. Wobei die meisten sowieso abgerissen wurden. Im Norden habe ich immer wieder welche gesehen, im Süden fast nie. Verstehe, die Kasernen waren eh völlig verfallen, und dann hat der Wald mehr Platz - oder? Nö, die Waldbesucher haben mehr Parkplatz. Genauer gesagt, einen in der Sonne glühenden Parkplatz aus Kies, der aus der Ferne wie ein See aussieht.

Ab und zu macht die Radroute Abstecher vom Wiesenrückgrat in den Wald. Oje, wird es da wieder so steil? Nee, eigentlich ziemlich entspannt: Oberhalb von Lehesten blieb es die meiste Zeit flach, weil ich nur den Wetzstein, den höchsten Punkt des Frankenwalds, auf einem bequemen Waldweg umrundet habe.
Das zweite Anzeichen, dass ich mich Tschechien nähere: Eine rustikaler Wohnwagen als Wochenendhaus, Maringotka genannt, parkt direkt am Todesstreifen.

Dahinter versteckt sich eine kleine Überraschung: Das erste Stück Kolonnenweg, das sich richtig gut befahren lässt! Das Moos hat die Löcher perfekt ausgefüllt und ich habe nicht das Gefühl, mich im Schleudergang einer Waschmaschine zu befinden. Danke Moos! Kann jemand dieses Moos bitte auch bei Lauenstein und im Harz einpflanzen?
Blöd nur, dass dieser Weg in die komplett falsche Richtung geht. Ich muss alles wieder hoch.

In diesem Wald treffe ich noch einmal auf den Rennsteig. Ein paar Meter weiter schlängelt sich parallel zum Rennsteig noch ein schmaler Wanderweg durch Blaubeeren und Moos. Dieser Pfad nennt sich Schönwappenweg. Auf ihm steht endlich einmal der Teil der Grenze im Fokus, der bisher eher ignoriert wurde, und das, obwohl er eigentlich die richtige Grenze markiert: Der Grenzstein.
Auf dem Schönwappenweg werden seit Jahrhunderten Grenzsteine mit besonders schön gestalten Wappen aufgestellt. Der älteste ist der Kurfürstenstein von 1513 (im Bild). Er zeigt die Wappen der Kurfürsten von Sachsen und Bamberg. Diesen Stein sollte man lieber nicht versetzen, denn das galt damals als Schwerverbrechen. Die Strafe: Lebenslang Herumspuken, wahlweise als Feuermann ohne Kopf oder als buckliger Typ mit Grenzstein auf dem Rücken. So lange, bis einen jemand erlöst, indem er sagt, man soll den Stein dorthin stellen, wo man ihn hergenommen hat. (Eine Idee, auf die ich als Verfluchter auch von allein gekommen wäre, glaube ich...)
1993 wurde diese Tradition wieder aufgenommen und der Neue Grenzstein mit den Wappen von Bayern und Thüringen platziert.

Im nächsten Wald zeigte mir die Kartenapp folgendes an: Einen See, umgeben von felsigen Klippen. Klingt nett, den kleinen Umweg mache ich.
Nun ja. Am Ende stieß ich auf einen Steinbruch, großräumig abgesperrt mit Zäunen.

Der Grenzsoldat Jürgen Lange musste in diesem Wald folgende Entscheidung treffen: Schieße ich auf meinen Kameraden, weil er gerade abhaut? Oder folge ich ihm? Er dachte zehn Minuten angestrengt nach und entschied sich dann für Option B. Erst im Westen stellte er fest, dass Option A gar nicht in Frage gekommen wäre: Der clevere Unteroffizier hatte die Waffe seines Kollegen vorher unbrauchbar gemacht.

Im letzten Dorf des Tages ertönte auf einmal folgender Ton: Düdeldö! Der Eiswagen bog ins Dorf ein, und ich beschloss spontan, zu wenden. Allein schon aus Neugier. Als Stadtkind kannte ich das Phänomen Eiswagen bislang nur vom Hörensagen, Eis war für mich etwas, dass es an jeder Ecke gibt.
So ergab es sich, dass es ich an jedem Abend der Tour Eis hatte. Am ersten Tag per Kasse des Vertrauens vom Biohof, am zweiten vom Edeka und am dritten vom Eiswagen. Bei den nächtlichen Temperaturen maximal unvernünftig.

Wo übernachte ich jetzt? An einer Kreuzung erhob sich der Rastplatz Wegspinne. In diesem Haus hätte ich ziemlich luxuriös übernachten können, wäre es nicht gerade renoviert worden.

Also radelte ich über die nächste Hügelkuppe und schlief nicht ganz so luxuriös auf einer Wiese an einer Bank. Um 21 Uhr war es immer noch hell genug, um im Mondlicht das Abendessen zuzubereiten. Ungefähr über meinem Nachtlager sind zwei Familien mit einem selbstgenähten Ballon aus der DDR geschwebt, während Michael Bully Herbig mitfilmte. Lange haben sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, aber inzwischen die ganze Geschichte online erzählt (ballonflucht.de).
Hoffentlich wird die Nacht so schön ruhig wie die letz... chrrr...
WIUWIUWIUWIU!
Und schon war ich hellwach. Was zur Hölle war das für eine Sirene? Ist heute Warnnacht statt Warntag? Ist der Atomkrieg ausgebrochen? Oder macht Markus Söder jetzt eine wichtige Durchsage an ganz Bayern?
Erst als ich am nächsten Morgen ins Tal hinabfuhr, löste sich ein Teil des Rätsels: Gleich hinter dem Hügel ragten die Schlote einer Papierfabrik in die Morgendämmerung. Keine Ahnung, welcher Notfall in einer Papierfabrik eine Sirene aktiviert. Vielleicht hat sich jemand am Papier geschnitten.

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