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Flüsse

Noch mehr Radreisen

01 August 2022

Müritzarm

Heute präsentiere ich den südlichsten Zipfel von Deutschlands zweitgrößtem Fluss. Diese Bundesbrücke bei Vipperow markiert die Stelle, an der die Müritz zum Müritzarm wird - und die Zivilisation endet. Also fast.

Zunächst zeigen sich noch Anzeichen menschlicher Bewohner. Die einzige Badestelle am Müritzarm war gut besucht. Die Lücke im Schilf ist zwar eher schmal, aber dafür hat sie eine ungewöhnliche Badeinsel auf metallenen Stelzen. Ich bezwang die rostige Leiter und durfte zur Belohnung ins Wasser hüpfen, das nur beinahe zu flach dafür war.

Daneben erstreckt sich ein Waldgebiet, in dem hölzerne Ferienhäuser gewachsen sind.

Doch als die letzten Häuser hinter mir zurückblieben, verwandelte sich die Straße in zwei Streifen Sand am Rande eines braunen Ackers. Kann ich dann wenigstens das Wasser sehe... nee, da sind Bäume. Der Müritzarm-Radweg ist kein Teil des Müritz-Rundwegs, und das völlig zu Recht. So weit nach Süden wagen sich nur Gravelbiker, Müritzarmleuchter und solche, die eins von beidem werden wollen.

Mit einem Motorboot kommt man deutlich schneller voran. Aber immerhin gaben die Hecken bald die Sicht frei und ich konnte ungefähr dieselbe Aussicht wie das Boot genießen. Der Müritzarm erinnert doch sehr an einen Fluss.

Ein Dorf namens Priborn unterbricht das endlose Holpern durch den Sand. Priborn ist... nein, das war auch schon alles, was ich über Priborn sagen kann.´
Kurz darauf stand ich erneut an der Schwelle zur Wildnis. Aber noch hatte ich keine Zweifel, dass ich irgendwie durchkommen würde.

Das zweite Dorf nennt sich Buchholz. Seine Kirche sieht aus, als hätten die Dorfbewohner ein Stadttor aus Neubrandenburg gebraucht auf Ebay ersteigert und geschickt zum Glockenturm umgebaut.

Ein paar Meter entfernt werkelte ein Storch in seinem Nest herum. So gut konnte ich nie Störche beobachten (von Zoos einmal abgesehen). Er war die Ruhe selbst und bewegte sich ganz gemächlich, nicht einmal mein Rad im Bremsvorgang konnte ihn aufschrecken. Ist es hier so ruhig, dass die Störche vor nichts Angst haben?

Ganz im Gegenteil, sie sind abgehärtet! Ich dagegen nicht, und deshalb zuckte ich zusammen. Das komplette Gewässer wird überwacht von einem Ring aus Hunden, die alles anbellen, was sich ihrem Zaun auf 10 Kilometer nähert. Falls sie also vorhatten, unauffällig den Müritzarm zu stehlen - keine Chance.

Naja, eine vielversprechendere Beute wären vermutlich die Hausboote und Yachten, die obendrauf treiben. Viele davon sind im Yachthafen angebunden, direkt am südlichen Ende des Müritzarms. Man darf sich ihnen exakt so weit wie auf diesem Foto nähern, ohne misstrauisch angestarrt zu werden. Das Betreten des Stegs ist streng verboten.

Ein Pfad folgt dem Südufer. Der ist zwar eigentlich für Spaziergänger gedacht, aber besser als alles, was ich bisher an Radwegen bekommen habe.

Sagte ich, der Müritzarm sehe aus wie ein Fluss? Das liegt daran, dass er einer ist. Die Elde, der längste rein mecklenburgische Fluss, verschwindet hier in der Müritz. Moment, was davon ist denn jetzt die Elde - der lahme Graben mit Entengrütze (bei Priborn) oder der kräftige Kanal mit Wasserfall (bei Buchholz)? Beide, denn die Elde hat sich kurz getrennt und vereint sich erst im Müritzarm wieder.

Nun hatte ich die Wahl, entweder der Hauptstraße noch weiter runter zu folgen, oder über die Waldvariante abzukürzen. Naja, der Müritzarm ist hier ja schon zu Ende, und an die Wege habe ich mich irgendwie gewöhnt, dachte ich - und nahm die Abkürzung.
Anfangs schien der Waldweg genau wie bisher. Den Blick aufs Wasser verdeckten Bäume, sowohl gestapelte tote als auch solche in der Blüte ihres Lebens.

Dafür tauchten andere Seen auf. Den besten Blick hatte ich auf den Nebelsee. Am anderen Ufer liegt schon Brandenburg, die längere Route führt dort entlang.

Aber ich hatte ja die Abkürzung gewählt. Und als ich dachte, jetzt müsste ich endlich mal an deren Ende sein, wo bleibt der Asphalt, da ragten einmal ragten die Konsequenzen meiner Entscheidung in Gestalt zweier Bauzäune vor mir auf. Och nö, dachte ich, ich fahre jetzt nicht die ganzen Kilometer durch diesen Sand zurück. Zwischen den Zäunen ist eine große Lücke, da schiebe ich jetzt durch.
Nun wird dort, wo Bauzäune stehen, aber meistens etwas gebaut. In dem Fall war das eine Brücke, von der im Moment nur ein paar Pfosten existierten. Mist. Aber warte mal, ist das nicht ein Floß da drüben? Ich watete hinüber und stellte fest, jep, ist ein Floß, aber mit einer Kette angeschlossen. Aber wate mal, ich musste ja gar nicht schwimmen. Könnte ich dann nicht mein Fahrrad durchs Wasser tragen?
Ich konnte. Und es ging einfacher, als ich je gedacht hätte. Dieses Verbindungswasser vom Nebelsee zum Thürensee ist überaus flach und perfekt temperiert. (Ein ähnliches Gewässer verbindet auch den Thürensee und Müritzarm.) Fast jede Steigung (zum Beispiel die Abhänge runter zum Verbindungswasser) auf jeder Radtour, die ich je gemacht habe, hat mich stärker angestrengt als die tragende Rolle, die ich beim Überqueren dieses Wassers gespielt habe.

Und kurz darauf, in Kümmel, gab es dann endlich eine richtige Straße. Halleluja.

Damit war ich eigentlich vollkommen zufrieden. Doch dann tauchte am Ende dieses überhaupt nicht ausgebauten Radwegs das aller-allerletzte auf, mit ich hier gerechnet hätte (abgesehen von einem See aus geschmolzenem Kokoseis und einem Ufo). Ein Bahnradweg! Total geflasht bog ich auf der Stelle links ab.
Der flache Bahndamm umrundet die goldenen Felder von Lärz und... ist auch schon vorbei. Die Bahntrasse kommt aus einem Dorf namens Mirow, und das hier waren nur ihre letzten Meter. Naja.

Am Ende von Lärz erstreckt sich ein weites Feld aus Betonplatten. Es bildet einen kleinen Flugplatz. Nur ein paar kleine Betonpoller trennen die Landebahn von einer allgemein zugänglichen Zufahrt, auf der ich radeln durfte.

Es ist nur logisch, dass so ein offener Flugplatz Flugzeugfans anlockt. Einige haben sich in einem grauen Haus am Rande der Betonfläche niedergelassen, einen Haufen Militärflugzeuge und Helikopter auf der Wiese platziert und ein Luftfahrtmuseum eröffnet. Nun saßen sie davor auf einer Bank und warteten darauf, dass irgendein Flugzeugbegeisterter kam, um alles zu bestaunen.
Stattdessen kam ich.
Ich habe eigentlich kein überdurchschnittliches Interesse an Militärflug. In erster Linie wollte ich mit eigenen Augen sehen, ob sich am Ende dieser runtergekommenen beziehungsweise nichtexistenten Radroute wirklich ein echtes Museum befand. Tat es. Als ich mich näherte, spürten sie instinktiv, dass hier kein Flugnerd aus ihrer Hauptzielgruppe nahte. So murmelte man mir nur "Fünf Euro" entgegen und deutete um die Ecke zum Eingang.

Das Museum bekommt keine staatlichen Zuschüsse, dafür aber viele staubliche Zuschüsse. Das graue Haus ist bis zum Rand vollgestopft mit staubigen Schildern, düsterem Dämmerlicht und technischen Teilen. In diesem Raum stehen Schleudersitze aus aller Herren Länder - hier würde ich lieber nicht Platz nehmen.

Der Flugplatz hat alle Epochen des 20. Jahrhunderts überdauert: Im Kaiserreich gründete das Kriegsministerium in Lärz eine Versuchs- und Lehranstalt, um neue Miltärflugzeuge zu testen. In der Weimarer Republik verstieß die Armee gegen den Versailler Vertrag und baute (mit Unterstützung der Sowjetunion) wieder eine Luftwaffe auf, wobei an der Müritz nur das Fliegen und nicht mit Waffen trainiert wurde. Die Nazis haben erstmal nur ein paar Kilometer weiter in Rechlin, wo die andere Hälfte des Flugplatzes liegt, heimlich weitergemacht - aber als die Geheimhaltung überflüssig wurde und die Sowjets Rechlin zerbombten, wurde Lärz wieder wichtig. Auch Lärz wurde angegriffen, doch noch kurz vor Kriegsende flogen Piloten von hier aus ins eingeschlossene Berlin. Die Nazi-Flieger flohen am Ende in den Westen - nicht durch die Luft, sondern auf dem Boden der Tatsachen.
Als nächstes zogen die Rote Armee (mit Atomraketen im Gepäck), die Nationale Volksarmee der DDR, ganz kurz die GUS und schließlich die Bundeswehr ein. 1994 probierte man in Lärz dann etwas komplett Neues: Zivile Luftfahrt, so richtig komplett ohne Soldaten.

Die letzten Kilometer bestehen aus Dorfstraßen. In Neu Gaarz entdeckte ich ein eigentümliches Denkmal. Es ist dem sowjetischen Piloten Sergej Wiktorowitsch Arapow gewidmet, und das überraschenderweise zu recht. Arapow machte 1982 einen Übungsflug und merkte beim Start, dass irgendwas an der Maschine total kaputt war. Er bekam den Befehl, per Schleudersitz abzuspringen. Dann wäre das Flugzeug vielleicht mitten in Neu Gaarz reingekracht. Arapow bestand darauf, selbst zu landen. Dabei kam er ums Leben und wurde zum möglicherweise sympathischsten aller Militärs, die hier je stationiert waren.

Gegenüber der Badestelle mit der Rostleiter stehen ein paar Ferienwohnungen und ein Zeltplatz. Ihnen verdanke ich, dass ich kurz vor der Brücke nochmal ein paar Meter am Wasser radeln durfte.

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