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Flüsse

Noch mehr Radreisen

04 Mai 2022

Eiserner Vorhang: Von Sterley nach Büchen

Die Mecklenburger Seengrenze IV

Länge: 40 km
Grenzquerungen: 2 (+4 auf Ausflügen)
Bundesländer: Schleswig-Holstein/MV
Seite: mehr West als Ost
Erkenntnis: Sein Leben heldenhaft für andere zu opfern erfordert manchmal mehr Zwischenschritte als im Film dargestellt.

Diese Linde erinnert an die deutsch-russische Waffenbrüderschaft von 1813 und ist damit nicht so richtig aktuell. Das war sie übrigens auch nicht, als sie gepflanzt wurde - im Jahre 1913.

Auf dieser Etappe befinden sich ungewöhnlich viele Pferdekoppeln. Kein Wunder, dass ganz in der Nähe der Film Hände weg von Mississippi gedreht wurde. Bei diesen Pferden heißt es nicht Hände weg, sie sind durchaus zutraulich. Außer man brettert mit vollem Tempo auf dem Radweg vorbei, dann galoppieren sie erschrocken weg und zurück bleibt ein betrübtes Mädchen mit Gras in der Hand (für Sie getestet).

Das Wetter schwankte zwischen vorsichtiger Sommer und ekelhafter Herbst. Alle ein bis zwei Stunden prasselte ein heftiger Regenschauer aus den Wolken, den uns der Wind waagerecht entgegenwehte - immerhin meistens in den Rücken. Trotzdem wollten wir uns während der 10 Minuten lieber unterstellen - nur wo?
"Passen wir alle in den Hochsitz da oben?", überlegte jemand. Antwort: Erstens nein, und zweitens wollen wir das auch gar nicht.
Irgendein Jäger hat offensichtlich nichts erlegt und wurde darüber so wütend, dass er mit seiner Flinte stattdessen den Sessel attackierte.

Wer von Hamburg nach Westberlin fahren wollte, musste sich anfangs mit der Bundesstraße bei Lauenburg begnügen. Erst 1982 haben sich beide Deutschlands geeinigt, dass eine Autobahn eventuell doch besser ist. Von einer Brücke blickten wir auf eine Raststätte, die früher die Grenzkontrollen der BRD an der Transitautobahn beherbergte.

Die heutige Strecke war der bisher schönste Abschnitt des Iron Curtain Trail, und der Himmel blieb lang genug blau, damit wir ihn eine Zeitlang genießen konnten. Länger aber auch nicht. Wir radelten durch einen norddeutschen Nadelwald, relativ nah an der Grenze, aber meistens außer Sichtweite.
Als wäre der Wald nicht schon Augenweide genug, tauchte plötzlich eine gänzlich gelbe Lücke im Gehölz auf. Wow, was sind denn das für Büsche, die so kräftig blühen? Es handelt sich um Ginster. Wer hätte das gedacht: Ginsterheide Ende Mai kann mit der Farbenpracht der Lüneburger Heide im August mithalten.

Hinterm Ginster entdeckten wir ein Wespennest im Anfangsstadium.

Außerdem gibt es heute zwei große Überbleibsel des Eisernen Vorhangs, wenn auch nicht direkt am Weg und auch nicht direkt dort, wo sie früher standen. Beides ist irgendwie charakteristisch für den Mecklenburger Iron Curtain Trail. Für beide Relikte sind wir etwa einen Kilometer von der Strecke abgewichen, und das hat sich gelohnt.

Die Grenzanlage Leisterförde alias Freilichtmuseum Tor 21 - Ende der Welt? ist ein kompaktes Rechteck in grünen Zäunen, in dem sämtliche Bestandteile der Grenzsperranlagen nachgebaut wurden. Die Entfernungen sind zwar alles andere als maßstabsgetreu, aber was solls - so eine vollständige, anschauliche und übersichtliche, ähm, Übersicht bekommt man vielleicht sonst nirgendwo an der ganzen Grenze.
Betreten soll man das Gebiet nicht, sondern außen herumgehen und die verblassten Schilder am Rand studieren. Das liegt eventuell daran, dass die Anlage öfter mal Vandalismus zum Opfer fällt. Bei unserem Besuch war aber alles einigermaßen vollständig und lesbar.
Ein Turbo-Gratis-Grenzmuseum, besonders empfehlenswert für alle, die auf dem Iron Curtain Trail viel fahren und weniger angucken, aber trotzdem im Groben wissen wollen, wie es damals aussah.

Das zweite historische Relikt ist das Mahnmal für Michael Gartenschläger. Und was für ein Mahnmal: ein Kreuz mit Findling, ein Kreuz mit Streckmetallzaun, ein Grenzpfosten, eine Hinweistafel mit Streckmetallzaun und Selbstschussanlage und eine noch größere Hinweistafel am noch größeren Streckmetallzaun. Wer war dieser Mauertote, dass man ihm diese besondere Ehre erwies? Nun, Gartenschläger wurde zwar wie so viele an der Grenze erschossen, aber anders als die meisten nicht von der Grenzpolizei, sondern der Stasi, er näherte sich nicht vom Osten, sondern aus dem Westen, und das nicht aus Eigeninteresse, vielmehr rettete er damit womöglich viele andere Leben.

Gartenschläger war ziemlich rebellisch veranlagt und als junger Mann alles andere als zufrieden mit der DDR, was er mittels Graffiti und einer abgebrannten Scheune zum Ausdruck brachte. Er wurde lebenslänglich verurteilt und nach 10 Jahren von der BRD freigekauft.
Zu diesem Zeitpunkt leugnete die DDR-Regierung, Selbstschussanlagen an der Grenze zu benutzen (was sie völkerrechtlich auch gar nicht durfte). Gartenschläger machte es sich zur Aufgabe, das Gegenteil zu beweisen. Zweimal schlich er nachts durch ebendiesen Wald und schraubte von der anderen Seite einen der tödlichen Trichter ab. Obwohl seine Beweise im Spiegel-Magazin und auf einer Menschenrechtskonferenz landeten, riefen sie nicht ganz den Skandal hervor, den er sich erhofft hatte. Seine dritte Selbstschussanlage wollte er zum Protest vor der westdeutschen Vertretung der DDR aufstellen. Aber Stasi-Chef Mielke höchstpersönlich hatte seinen Tod befohlen und in diesem Abschnitt die normalen Grenzsoldaten durch Stasi-Profis ausgetauscht. Sie erwarteten ihn auf der Westseite des Zauns mit Maschinengewehren. Michael Gartenschläger hatte keine Chance. Er wurde in Schwerin als unbekannte Wasserleiche bestattet.

Also war alles umsonst? Nicht ganz, denn wenig später wurden die Anlagen tatsächlich abgebaut. Warum genau, ist umstritten, aber möglicherweise hat die BRD das als Bedingung für neue Kredite verlangt.

Hinter dem Mahnmal wird die Schneise der ehemaligen Grenze weiterhin freigehalten, um die Erinnerung zu wahren. Und wo in Norddeutschland kein Baum wachsen darf, wächst in der Regel stattdessen Heidekraut. Damals wurde auf dem Todesstreifen auch das Heidekraut gerodet, aber heute wird es trotz mangelnder Authentizität geduldet - wer bringt es schon übers Herz, Heide zu roden?
Auf dem Kolonnenweg fehlen die Lochplatten aus Beton. Seltsam, wo sind die hin? In Mecklenburg fehlen die echt oft, hat jemand nach der Wende ernsthaft diese schweren Teile in Massen mitgenommen?

Diese Brücke über den Lübeck-Trave-Kanal ist der Verkehrswende kilometerweit voraus: Nur die Hälfte gehört dem motorisierten Verkehr.

Sie gehört zu Büchen. Büchen ist komisch. Ist Büchen eine Kleinstadt oder ein Dorf? Im Prinzip hat Büchen alles, was es für eine kleine Kleinstadt braucht, außer die Kleinstadt. Weil sich hier zwei Bahnlinien kreuzen, ist der Bahnhof groß und modern. Die Gemeinde ist von Gleisen durchzogen, und der gesamte Verkehr zwängt sich durch ein paar Unterführungen. Ein paar Geschäfte, Supermärkte und Imbisse säumen das Gleis, aber ein Zentrum ergibt sich daraus noch lange nicht.

Selbst der Vorort Büchen-Dorf (das ganz offensichtlich nur ein Dorf ist) hat mehr Ähnlichkeit mit einer Innenstadt: Zumindest ist die Kirche dort keine mickrige Kapelle, die erst beim zweiten Blick als solche erkennt wird.


Wir übernachten in einer alten Wassermühle, direkt über dem plätschernden Fluss. Allein deshalb ist diese Unterkunft die schönste an der Mecklenburger Seengrenze.

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